(Kiew, 22. März 2023) – Russische Streitkräfte haben am 9. März 2022 mit einem Luftangriff auf ein Wohnhaus in der ostukrainischen Stadt Izium Kriegsrecht verletzt. Bei dem Angriff kamen mindestens 44 Zivilist*innen ums Leben, so Human Rights Watch heute in einem neuen Bericht.
Der Bericht „A Thousand Explosions in My Ears“ zeigt anhand von Zeugenaussagen, Fotos, Videos und 3D-Modellen des Gebäudes in der Pershotravneva-Straße 2 die verheerenden Auswirkungen des Angriffs, der als einer der tödlichsten Angriffe auf die Zivilbevölkerung seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 gilt. Dutzende Zivilist*innen hatten im Keller des Gebäudes Schutz gesucht. Obwohl das Wohnhaus nahe der Frontlinie lag, fand Human Rights Watch keine Hinweise darauf, dass es von den ukrainischen Kräften zum Zeitpunkt des Angriffs für militärische Zwecke genutzt wurde.
„Mit dem Angriff auf das Gebäude wurden im Keller Generationen von Familien ausgelöscht“, sagte Richard Weir, leitender Researcher für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Wir haben keine Beweise gefunden, die es rechtfertigen, das Wohnhaus als legitimes militärisches Ziel zu behandeln, oder Beweise dafür, dass die russischen Streitkräfte versucht hätten, den Tod so vieler Zivilisten zu vermeiden oder die Zahl der Opfer zu minimieren.“
Der Bericht beschreibt den Angriff im Detail und erzählt die Geschichte von Mikhailo Yatseniuk, ein etwa 60 Jahre alter Elektriker, der drei Jahrzehnte lang mit seiner Frau Natalia in dem Gebäude gelebt und drei Kinder und sechs Enkelkinder großgezogen hatte. Natalia und sechs weitere Mitglieder seiner Familie im Alter von 3 bis 96 Jahren starben bei dem Anschlag. Yatseniuk überlebte, weil er den Keller verlassen hatte, um seiner Enkelin Tee zu machen.
Das fünfstöckige Gebäude im Stadtzentrum von Izium, das bis Ende März 2022 unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte stand, befindet sich in der Nähe des Flusses Donez und einer strategisch wichtigen Fußgängerbrücke. In den Tagen vor dem Angriff kam es in der Gegend zu anhaltenden Kämpfen. Russische Streitkräfte übernahmen Ende März die vollständige Kontrolle über die Stadt und hielten sie und die Umgebung fast sechs Monate lang besetzt. Außerhalb von Izium war über den Angriff, bei dem das Haus in der Pershotravneva-Straße 2 zerstört wurde, wenig bekannt, bis die ukrainischen Streitkräfte im September die Kontrolle über das Gebiet zurückeroberten.
Zwischen Ende September 2022 und Mitte Januar 2023 befragte Human Rights Watch 20 Personen aus Izium, darunter Überlebende und Zeug*innen, Familienangehörige der Opfer und Rettungskräfte. Human Rights Watch sichtete auch physische Beweise vor Ort, analysierte Satellitenbilder und machte Fotos und Videos, unter anderem mit Drohnen.
In den Tagen vor dem 9. März hielten sich ukrainische Streitkräfte in der Umgebung des Gebäudes auf, um russische Truppen vom Stadtzentrum fernzuhalten. Ein Zeuge sichtete ukrainische Streitkräfte einige Tage vor dem Angriff auf der Straße neben dem Gebäude und sah, wie sie in der Nähe der Fußgängerbrücke, etwa 200 Meter vom Gebäude entfernt, Schüsse abfeuerten.
Angaben von Überlebenden und Anwohner*innen zufolge seien in den Tagen vor dem Angriff ständig russische Flugzeuge mit festen Tragflächen über das Gebiet geflogen. Nahegelegene Gebäude seien beschädigt worden, höchstwahrscheinlich durch russische Bodentruppen, die von der anderen Flussseite her Schüsse abfeuerten. Nach Kenntnisstand von Human Rights Watch wurde dabei auch das Haus Pershotravneva 2 getroffen und beschädigt, allerdings ohne zivile Opfer.
Am Morgen des 9. März, etwa zur gleichen Zeit, wurden zwei Gebäude, darunter auch das in der Pershotravneva-Straße 2, von direkt aus der Luft abgefeuerter Munition getroffen, höchstwahrscheinlich von einem ähnlichen Typ. Das zweite Gebäude, ein weiteres mehrstöckiges Wohnhaus auf der anderen Straßenseite von Pershotravneva 2 in südöstlicher Richtung, weniger als 100 Meter entfernt, erlitt ähnliche Schäden. Human Rights Watch hat diesen Angriff nicht untersucht, aber Rettungskräfte und Anwohner*innen identifizierten drei Opfer, unter denen zwei ukrainische Militärs gewesen sein sollen.
Überlebende und Zeug*innen des Angriffs auf das Haus Pershotravneva 2 sagten, der Angriff habe sich gegen 9 Uhr morgens ereignet und Dutzende von Bewohner*innen des Hauses und anderer Gebäude aus der Umgebung hätten im Keller Schutz gesucht. Ein Ersthelfer, der sich in der Gegend aufhielt, erklärte, er habe nach 8:30 Uhr Flugzeuge und Explosionen gehört.
Die Munition schlug in der Mitte des Gebäudes ein und brachte alle fünf Stockwerke des mittleren Teils bis zum Keller zum Einstürzen und zerstörte mehrere Ausgänge. Die Trümmer begruben viele Menschen, die im Keller Zuflucht gesucht hatten. Anhand eines 3D-Modells des Gebäudes kam Human Rights Watch zu dem Schluss, dass die Detonation ein mindestens 15 Meter breites Loch in das Gebäude gerissen hat.
Überlebende, die sich im Keller oder in den unteren Stockwerken aufhielten, sagten, sie hätten keine ukrainischen Streitkräfte in oder direkt um das Gebäude herum gesehen, weder kurz vor noch zum Zeitpunkt des Angriffs. Ein Anwohner, der sich im Keller aufhielt, sagte, andere hätten gesehen, wie ukrainische Soldaten Tage zuvor in den Keller kamen und die Hausverwaltung um Schlüssel für den Dachboden baten, um diesen zu überprüfen.
Bei den Inspektionen des Gebäudes und seiner Räumlichkeiten fand Human Rights Watch keine Anzeichen dafür, dass ukrainische Einheiten Munition abgefeuert hatten. An drei Stellen im östlichen Teil des Gebäudes fanden die Researcher*innen mehr als ein Dutzend Patronenhülsen von Kleinwaffen, die meisten davon auf zwei Treppenabsätzen in den unteren Stockwerken. Es war nicht möglich festzustellen, wer diese Munition abfeuerte oder wie sie dorthin gelangte. Keine*r der befragten Bewohner*innen hat aus dem Gebäude abgefeuerte Schüsse gesehen oder gehört.
Zwei Mitarbeitende der Rettungsdienste sagten, dass sie aufgrund der Kämpfe in der Gegend erst Ende März mit den Bergungsarbeiten beginnen konnten. Sie hätten etwa einen Monat damit verbracht, Leichen aus den Trümmern zu bergen, zunächst mit bloßen Händen, dann mit Gerätschaften. Insgesamt hätten sie 51 Leichen geborgen, von denen 44 hätten identifiziert werden können. Weiterhin erklärten sie, dass sie dort keine Kleinwaffen oder leichten Waffen gefunden hätten. Die Rettungskräfte und drei Zeug*innen des Angriffs, die bei einigen oder allen Bergungsaktionen dabei waren, gaben an, keine Leichen in Militäruniform gesehen zu haben.
Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinets, sagte, dass 54 Menschen getötet worden seien. Human Rights Watch erhielt drei Listen der Toten und Vermissten sowie eine Liste der persönlichen Gegenstände, die vor Ort gefunden wurden, darunter auch Ausweise.
Auf der Grundlage von Gesprächen mit Zeug*innen und denjenigen, die Leichen geborgen haben, sowie der Analyse von Social-Media-Posts bestätigte Human Rights Watch den Tod von mindestens 44 Menschen. Diese Zahl ist jedoch höchstwahrscheinlich höher, da einige Leichen nicht identifiziert werden konnten und weitere Leichen bereits vor der Bergung durch die Rettungskräfte begraben worden waren.
Human Rights Watch konnte den Typ der bei dem Angriff verwendeten Waffe nicht identifizieren, da die meisten Überreste offenbar unter den Trümmern begraben oder von den ukrainischen Behörden entfernt wurden. Die großflächige, aber dennoch relativ eingegrenzte Zerstörung des teilweise eingestürzten Gebäudes deutet jedoch auf den Einsatz großer, aus der Luft abgeworfener Munition wie die einer Präzisionsbombe vom Typ FAB-500 mit Zeitzünder hin. Mit einem Zeitzünder versehene Munition detoniert erst nach dem Auftreffen, so dass sie mehrere Stockwerke des Gebäudes durchdrungen haben könnte, bevor sie detonierte und katastrophale Schäden verursachte.
In einem Schreiben vom 31. Januar dieses Jahres an den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu fasste Human Rights Watch die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen und bat um Informationen, unter anderem darüber, ob russische Behörden den Angriff untersuchen würden. Eine Antwort blieb bisher aus.
Nach humanitärem Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht müssen Kriegsparteien stets zwischen Kombattant*innen und Zivilist*innen unterscheiden und dürfen nur militärische Ziele angreifen. Außerdem müssen sie alle möglichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, unter anderem durch effektive Vorwarnungen vor Angriffen.
Wahllose Angriffe, bei denen Kampfmethoden oder Kampfmittel eingesetzt werden, bei denen nicht zwischen militärischen Zielen und Zivilist*innen oder zivilen Objekten unterschieden wird, sowie unverhältnismäßige Angriffe, bei denen der Schaden für Zivilist*innen und Schäden an zivilen Objekten in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen, sind streng verboten.
Der Einsatz von Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung in bewohnten Gebieten verstärkt die Besorgnis über unrechtmäßige, wahllose und unverhältnismäßige Angriffe. Diese Waffen haben einen großen Zerstörungsradius, und ihr Einsatz sollte in bewohnten Gebieten vermieden werden.
Jede Person, die schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht wie wahllose oder unverhältnismäßige Angriffe mit krimineller Absicht, d. h., vorsätzlich oder rücksichtslos, begeht, macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig.
„Die Überlebenden und die Familienangehörigen der Opfer verdienen Antworten und Gerechtigkeit“, so Weir. „Die Verwüstung und der Schmerz werden niemals verschwinden, aber wenn die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, trägt dies dazu bei, dass derartige Handlungen in Zukunft nicht geduldet werden.“