Am 9. März 2022 griffen russische Streitkräfte dieses Wohngebäude in Izium an und töteten mindestens 44 Menschen.

Bei dem Angriff kamen Männer, Frauen und Kinder ums Leben, die im Keller des Gebäudes Schutz gesucht hatten.

Der etwa 60 Jahre alte Elektriker Mykhailo Yatsentiuk überlebte.

Sieben Mitglieder seiner Familie starben: seine Frau und eine Tochter, sein Schwiegersohn, seine Schwiegermutter sowie mehrere Enkelkinder.

„Tausend Explosionen in meinen Ohren”

Dutzende von Zivilist*innen bei russischem Angriff auf Wohnhaus in Izium getötet


Human Rights Watch verbrachte zwischen September 2022 und März 2023 drei Wochen in Izium in der ostukrainischen Oblast Charkiw und befragte 21 Personen: Überlebende, Zeug*innen, Familienangehörige von Opfern und Ersthelfer*innen, die bei dem Angriff am 9. März vor Ort waren. Die Researcher*innen untersuchten physische Beweismittel am Ort des Angriffs in der Pershotravneva-Straße 2 und machten Fotos und Videos von dem schwer beschädigten Gebäude. Auf dieser Grundlage erstellten sie dann zusammen mit Satellitenbildern und Open-Street-Map-Daten ein 3D-Modell, um die Zerstörung besser zu veranschaulichen.

Die Researcher*innen sahen zudem Gebäudeunterlagen und Baupläne ein, um die Innenräume zu rekonstruieren. Da das Gebäude und der Keller im Laufe der Jahre renoviert wurden und einige Details von den Bauplänen abwichen, zogen die Researcher*innen zusätzliche Fotos, von Yatsentiuk gezeichnete Skizzen und von ihm zur Verfügung gestellte Informationen heran, um ein umfassendes 3D-Modell des Gebäudes vor dem Angriff zu erstellen.

Im Folgenden ist eine digitale Rekonstruktion des Bombenangriffs zu sehen – einer der tödlichsten Angriffe auf Zivilist*innen seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Begleitet wird diese Rekonstruktion von der Geschichte, die Yatsentiuk erzählt: sein Überleben, die Ermordung seiner Familie und sein Kampf für Gerechtigkeit.

Mikhailo Yatseniuk
Mykhailo Yatsentiuk im Dezember 2022 in den Ruinen des Gebäudes in der Pershotravneva-Straße 2 in Izium, seinem ehemaligen Wohnhaus. © 2023 ARD Story von SWR und rbb
Mikhailo Yatseniuk and family
Links: Oleksii Kravchenko, Vitalii Kravchenko, Aryna Kravchenko; Rechts: Aryna Kravchenko, Olha Kravchenko, Oleksii Kravchenko, Dmytro Kravchenko, Vitalii Kravchenko. Das Bild entstand vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk

In dem fünfstöckigen Gebäude am Ostufer des Donezk lebten Mykhailo Yatsentiuk und seine Frau Natalia, mit der er vier Jahrzehnte verheiratet war.

In dem eng bemessenen Gebäude mit 40 Wohneinheiten zogen sie drei Kinder und sechs Enkelkinder auf. Dort feierten und aßen sie gemeinsam mit ihrer Großfamilie. Sie hatten gute Beziehungen zu ihren Nachbar*innen, die gern Pilze sammeln gingen, sich um die Bänke im Garten kümmerten und Geld sammelten, um das Gebäude in Schuss zu halten.

Vor dem Angriff auf Izium war das Gebäude, das sich in der Nähe einer Grundschule und eines Basketball- und eines Fußballplatzes befand, ein Treffpunkt für die Menschen aus der Umgebung. Im Hinterhof spielten die Kinder auf einem bunten Spielplatz mit Picknicktisch.

Vor dem Angriff am 9. März stand der zentrale Bezirk der Stadt, in dem sich das Wohnhaus befindet, nicht unter russischer Kontrolle. Der von Bäumen gesäumte Fluss, der an dem Gebäude vorbeifließt und an dem Yatsentiuks Familie die Sommer verbrachte, diente einem anderen Zweck: Er hielt die vorrückenden russischen Truppen ab.


The building from the water
Yatsentiuks Wohnhaus vom Fluss Donez aus. © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk

Zum Zeitpunkt des Angriffs kämpften die ukrainischen Streitkräfte, einschließlich der Einheiten zur Territorialen Verteidigung, immer noch gegen russische Truppen und ihre Verbündeten, die einen Großteil von Izium eingenommen, den zentralen Bezirk aber noch nicht erreicht hatten. Die in der Stadt verbliebenen Zivilist*innen kämpften angesichts der zunehmenden Angriffe um ihr Überleben.

Im Zuge der weiteren Einnahme der Stadt Izium durch russische Truppen, die sie schließlich von März bis September 2022 besetzt hielten, nahmen auch die Angriffe in Yatsentiuks Nachbarschaft zu. Einige Gebäude wurden getroffen, allerdings wurde niemand verletzt, wie Anwohner*innen berichteten.

Trotz der Kämpfe konnte Human Rights Watch keine Beweise dafür finden, warum das Gebäude rechtmäßig als militärisches Ziel hätte behandelt werden können. Auch vier befragte Zeug*innen bestätigen, dass das Gebäude ihres Wissens nach nicht für militärische Zwecke genutzt wurde. In den Tagen vor dem 9. März hätten sie keine aus dem Gebäude abgefeuerten Schüsse gehört oder gesehen. Ein Zeuge sagte, er hätte gehört, dass ukrainische Soldaten Anfang des Monats in den Keller gegangen und um Schlüssel zum Dachgeschoss gebeten hätten, um es zu „überprüfen“. Andere Bewohner*innen erklärten, sie hätten vor dem Angriff keine ukrainischen Streitkräfte oder andere Hinweise für eine militärische Präsenz im Gebäude gesehen.

Human Rights Watch sichtete das Gebäude nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte am 20. September mehrmals und verschaffte sich Zugang zu den verbleibenden Treppenhäusern, Wohnungen und den nicht zerstörten Teilen des Kellers, um die Überreste zu untersuchen. Ein Researcher flog im November 2022 und Januar 2023 eine Drohne über und um das Gebäude und machte hochauflösende Aufnahmen des Daches und der sichtbaren Teile des Dachbodens. Weder bei der Begehung noch auf den Bildern fanden die Researcher*innen Anzeichen für Feuerstellungen auf dem Dach, im Inneren oder im Umkreis von wenigen Metern um das Gebäude.

An drei Stellen an der Ostseite des Gebäudes, die am weitesten vom Fluss entfernt ist, fanden die Researcher*innen insgesamt mehr als ein Dutzend abgefeuerte Hülsen von Kleinwaffen der Kaliber 5,45 mm und 7,62 mm. Die meisten befanden sich auf zwei Treppenabgängen in den unteren Stockwerken, die anderen in einer Wohnung im fünften Stock. Die Beschriftungen der Hülsen deuten darauf hin, dass diese Geschosse in Fabriken sowohl auf ukrainischem als auch auf russischem Territorium hergestellt wurden. Allerdings ist diese Munition weit verbreitet, und da russische und ukrainische Streitkräfte häufig Munition der anderen Seite beschlagnahmen, ist es schwierig Rückschlüsse darauf zu ziehen, wer diese Munition verwendet hat, wann sie verwendet wurde oder wie sie in das Gebäude gelangt ist. Keine*r der vier befragten Zeug*innen gab an, dass zum Zeitpunkt des Angriffs am 9. März oder kurz danach Schüsse aus dem Gebäude abgefeuert wurden.

Ein Bewohner sagte, dass russische Kräfte in den Monaten nach dem Angriff gelegentlich in das Gebäude kamen, um Lebensmittelvorräte aus den Wohnungen zu holen. Im Mai sagte er, er habe gesehen, wie sie kleine Kisten in das Gebäude brachten. Später habe er verbrauchte Patronenhülsen im Treppenhaus und auf einer Fensterbank im Gebäude gesehen.

Ein weiterer Überlebender berichtete, dass er und ein anderer Bewohner in den Tagen vor dem 9. März, als sie nachts nach draußen gingen, vom westlichen Flussufer her, das von den russischen Streitkräften kontrolliert wird, das Mündungsfeuer von Kleinwaffen und schweren Waffen sehen und hören konnten.

Human Rights Watch konnte den genaue Waffentyp, der beim Angriff auf Yatsentiuks Gebäude eingesetzt wurde, nicht identifizieren, da keine Überreste mehr vorhanden waren. Nach Angaben von Rettungskräften seien sämtliche Überreste des Gebäudes unter den Trümmern begraben und später nach dem Abzug der russischen Truppen aus Izium von ukrainischen Streitkräften geborgen worden.

Die Schäden lassen auf den Einsatz großer, aus der Luft abgeworfener Munition schließen, wie die der Allzweckbombe der Serie FAB-500, die mit einem Verzögerungszünder ausgestattet ist.

Mit einem Verzögerungszünder versehene Munition detoniert erst nach dem Auftreffen und bewegt sich zunächst eine kurze Strecke oder Zeit weiter. Daher könnte sie mehrere Stockwerke des Gebäudes durchdrungen haben, bevor sie detonierte und katastrophale Schäden verursachte. In diesem Fall hätte sie mehrere Stockwerke des Gebäudes durchdringen können, bevor sie detonierte, was zu schweren Schäden führte.

Angriffe, bei denen nicht zwischen militärischen Zielen und Zivilist*innen oder zivilen Objekten unterschieden wird, sowie unverhältnismäßige Angriffe, bei denen der Schaden für Zivilist*innen und Schäden an zivilen Objekten in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen, verstoßen gegen das Kriegsrecht. Wer solche Angriffe in krimineller Absicht, d. h., vorsätzlich oder rücksichtslos ausführt, macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig.

Anfang März bebte das Wohnhaus von Yatsentiuk jedes Mal, wenn es in der Nähe eine Explosion gab. Seine Familie suchte im Gebäude Schutz und es stürzte nicht ein.

Die lokalen Behörden übergaben Human Rights Watch Grundrisse, auf deren Grundlage die Researcher*innen zusammen mit Fotos und Skizzen, die Yatsentiuk angefertigt hatte, die Bausubstanz des Gebäudes und den Aufbau im Inneren vor dem Angriff nachvollziehen konnten.

Human Rights Watch untersuchte Fotos, Videos und Satellitenbilder, die vor der Besetzung des Gebiets durch Russland aufgenommen wurden. Sie geben einen Einblick in die Bausubstanz und Fassade des Gebäudes und belegen, dass das Gebäude intakt und die Bausubstanz vermutlich solide war.

„Seht ihr dieses Loch?“ sagte Yatsentiuk in einem Interview und zeigte auf ein Fenster, das in einem von Human Rights Watch gezeichneten Diagramm als Sektor A3 bezeichnet wurde. „Eine Wohnung mit zwei Zimmern befand sich dort … Und ein weiterer Treffer war hier, auf dem Dachboden [in der Zeichnung mit A6 bezeichnet]. Seht ihr dieses große Loch?“

Diese Schäden sind im 3D-Modell anhand von Bildmaterial und Gebäudemessungen nachgestellt.

In den Tagen vor dem Anschlag vom 9. März wurden durch Explosionen in der Nähe Fenster im Gebäude zerstört, auch in seiner Wohnung, so Yatsentiuk.

Da es im Gebäude kein Gas gab, kochte die Familie auf dem Balkon mit einem tragbaren Grill, mit dem sie sonst im Sommer jedes Wochenende Fleisch und Pilaw zubereiteten.

Am 6. März beschlossen Yatsentiuk und seine Familie nach einer Reihe von Angriffen in der Nähe, in den Keller zu ziehen, wo auch schon ihre Nachbar*innen Schutz suchten. Die Hausbewohner*innen versteckten sich Anfang März bei jedem Luftalarm im Keller und in den Innenräumen. Doch dieses Mal war es anders.

Als gelernter Elektriker kannte Yatsentiuk den Keller gut. Er hatte Zugang zum Schaltraum, von dem er hoffte, dass er seiner Familie Schutz bieten würde.

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Aryna Kravchenko © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk
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Oleksii Kravchenko © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk
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Olha Kravchenko © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk
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Natalia Yatsentiuk © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk
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Zinaida Kopyl © Mit freundlicher Genehmigung von Mykhailo Yatsentiuk

Auch seine Frau Natalia (65), die Tochter Olha Kravchenko (39), der Schwiegersohn Vitalii Kravchenko (38), die drei Enkelkinder Dmytro (15), Oleksii (9) und Aryna (3) sowie Natalias 96-jährige Mutter Zinaida suchten Schutz in dem engen Raum, den Yatsentiuk mit einer aufblasbaren Matratze, Decken, einem Heizgerät, Kissen und einem Laptop ausgestattet hatte.


Im Keller befanden sich in sich geschlossene Räume, die über die vier Haupttreppenhäuser im Innenbereich zugänglich waren, sowie größere Räume, die über zwei Außentreppen erreicht werden konnten.


Da es keinen Strom gab, fühlte sich der Keller wie ein „dunkles Labyrinth“ an, so ein Überlebender, der nicht namentlich genannt werden möchte.

Die Menschen hangelten sich durch die Räume und achteten auf jedes Geräusch, um keine der Personen zu treten, die auf dem Boden schliefen.

Während draußen der Krieg tobte und Militärflugzeuge und Drohnen zu hören waren, unterhielten sich die Nachbar*innen; ein kleines Mädchen hatte seine Katze mitgebracht.

In den Tagen vor dem Angriff fielen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt.

Floorplan of the basement showing the main shelter and electric room

Viele der Bewohner*innen des Gebäudes suchten Schutz im mittleren Teil des Kellers, weit weg von den zugigen Ausgängen. Dort, so dachten sie, würden sie Sicherheit und Wärme finden.

In der Nacht vor dem Angriff, so erinnerte sich eine Überlebende, drangen die Stimmen ihrer Nachbar*innen durch den feuchten Keller. Sie sangen in der Dunkelheit.

Am nächsten Morgen, dem 9. März, verließ Yatsentiuk den Keller, um zum Frühstück Haferbrei zu machen, und brachte ihn zu seiner Familie in den Schaltraum zurück.

Es sollte ihre letzte Mahlzeit sein.

„Opa, ich möchte einen Tee“, sagte seine Enkelin, die er „kleine Aryna“ nannte, zu ihm nach dem Frühstück.

Yatsentiuk stand auf, um auf dem Gasgrill zwei Stockwerke höher Tee zu kochen.

„Misha, ich komme mit dir mit“, sagte Natalia.

„Super“, antwortete er. „Ich warte auf dem Flur.“

Yatsentiuks liebevolles Handeln für seine Enkelin rettete ihm das Leben.

Gegen 9 Uhr morgens verließ Yatsentiuk den Schaltraum und ging zu einer Metallleiter, die zum Hauptgeschoss führte. Dann gab es eine Explosion, die ein Überlebender als „tausend Explosionen in meinen Ohren“ beschrieb.

Schwere Munition riss das Gebäude in zwei Teile und hinterließ ein Loch von mindestens 15 Metern Durchmesser.

Der Schaden deutet auf den Einsatz großer, aus der Luft abgeworfener Munition hin. Zeug*innen berichteten davon, dass tagelang Flugzeuge über die Stadt geflogen seien, auch am 9. März, und dass sie schwere Explosionen in der Gegend gehört hätten, als die russischen Streitkräfte versuchten, die Kontrolle über das Zentrum von Izium zu gewinnen – das einzige Gebiet der Stadt, das Anfang März noch nicht unter ihrer Kontrolle war.

Human Rights Watch hat zwei Videos verifiziert, die um den 9. März aufgenommen wurden und einen Angriff etwas mehr als eine halbe Meile südlich von Yatsentiuks Gebäude zeigen. Im ersten Video ist eine in die Luft aufsteigende Staub- und Rauchwolke zu sehen, in dem anderen eine Person, die etwa 400 Meter von einem Gebäude entfernt neben Evakuierungsbussen in Deckung geht, während ein Flugzeug in niedriger Höhe über sie hinwegfliegt.

Durch den Angriff stürzten alle fünf Stockwerke im mittleren Teil des Gebäudes ein.

Yatsentiuk verlor das Bewusstsein. Als er wieder wach wurde, teilweise begraben unter Betonteilen und der Metallleiter, die ihn vor herabfallenden Trümmern geschützt hatte, konnte er weder Natalia, Vitalii noch Olha finden. Auch seine Enkelkinder und Zinaida konnte er nicht hören.

„Meine Familie wurde im Keller zerquetscht und getötet“, sagte Yatsentiuk. „Aryna Kravchenko war mein Schutzengel.“

Yatsentiuk brauchte Stunden, um sich aus den Trümmern zu befreien.

Die meisten Menschen, die sich in dem Gebäude aufhielten, kamen bei dem Angriff ums Leben. Es dauerte mehr als einen Monat, bis ihre Leichen gefunden und geborgen wurden.

Nach dem Angriff fühlte sich Yatsentiuk wie „verloren“. Er rasierte sich nicht mehr, vergaß viel, selbst an Namen erinnerte er sich nicht. Er war am Boden zerstört. Eine etwa 70 Jahre alte Frau überlebte den Angriff, konnte sich aber nicht aus den Trümmern befreien. Nachbar*innen brachten ihr Essen und Wasser, aber sie starb einige Tage später.

Zunächst gruben die Rettungskräfte und andere Nachbar*innen die Menschen mit bloßen Händen aus. Später nutzten sie Geräte, die die Rettungsdienste mithilfe der russischen Streitkräfte, die die Stadt mittlerweile vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hatten, auftreiben konnten.

Yatsentiuk und andere versuchten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, die Opfer zu identifizieren. Einige waren so schwer verstümmelt, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Die Überlebenden fanden Zeichen früherer Leben: Pässe und Ausweise in den Taschen, Telefone mit den Nummern von Angehörigen. Nach Angaben der Zeug*innen und Rettungskräfte haben sie keine Waffen oder Leichen in Militäruniformen gesehen oder geborgen.

Bei einigen der Leichen handelte es sich um die Überreste von Nachbar*innen wie Lidia Medynska, einer angesehenen Gynäkologin, die vor dem Krieg gerne lange Spaziergänge im Wald machte.

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Ein Foto von Lidia Medynska, das von ihrem Sohn Oleksandr zur Verfügung gestellt und von Victims Memorial veröffentlicht wurde – einer Online-Gedenkstätte, die Informationen über Männer, Frauen und Kinder sammelt, die nach der russischen Invasion in der Ukraine starben oder getötet wurden. © Mit freundlicher Genehmigung von Victims Memorial

Yatsentiuk kannte nicht alle der Menschen, manche kamen vermutlich aus anderen Gebäuden und hatten im Keller Schutz gesucht. Bei allen, die nicht identifiziert werden konnten, steht eine Nummer auf dem Grab – ohne Namen.

Am 12. und 13. April barg Yatsentiuk alle sieben Leichen seiner Familienmitglieder.

„Ich habe sie auf den Friedhof in der Nekrasova-Straße gebracht, wo mehrere Generationen meiner Familie begraben sind“, sagt Yatsentiuk. Er baute einen Sarg aus Holz und Teppichen und begrub sie auf dem baumreichen Stadtfriedhof, wobei er darauf achtete, dass seine drei Enkelkinder neben ihren Eltern begraben wurden. Er wollte nicht, dass sie allein sind.

Ein Rettungssanitäter sagte, sie hätten 51 Leichen geborgen. Auf der Grundlage der Gespräche mit Zeug*innen und denjenigen, die die Leichen geborgen haben, sowie Anhand von Social-Media-Beiträgen bestätigte Human Rights Watch den Tod von mindestens 44 Menschen, einschließlich der Familienmitglieder von Yatsentiuk.

Diese Zahl fällt jedoch höchstwahrscheinlich höher aus, da einige Leichen nicht identifiziert werden konnten und andere bereits begraben worden waren, bevor die Rettungskräfte mit ihren Bergungsmaßnahmen begannen.

Die bröckelnden Überreste von Yatsentiuks Gebäude stehen noch immer – eine traurige Erinnerung an den Verlust.

Als er neun Monate nach dem Angriff durch die Überreste des Wohnzimmers seines Nachbarn geht, blickt er ins Leere. Hier befand sich einmal das Zuhause seiner Familie.

Unten befindet sich die Treppe, die er vom Keller aus aufgestiegen war und wo er aufwachte und feststellte, dass seine Familie nicht mehr da war.

Die verkohlten Wohnungen um ihn herum sind in zwei geteilt; die Zeit scheint stillzustehen. In verhedderten Drähten und unter zerbrochenen Ziegelsteinen sind die Überreste verlorenen Lebens zerstreut. Ein grauer Blazer baumelt in einem offenen Kleiderschrank. Eine Nähmaschine wackelt auf Betonscherben. Zerbrochenes Geschirr stapelt sich auf einer Servierplatte.

Der Spielplatz ist leer, die Schule die Straße hinunter ist zerstört. Am nahegelegenen Flussufer, wo Anwohner*innen früher fischten und Yatsentiuk im Sommer mit seiner Familie picknickte, herrscht Stille.

Kleine gelbe Blumen, die um das Gebäude herum wachsen, schmücken behelfsmäßige Gedenkstätten für die Toten.

Die Menschen, die dieses Gebäude ihr Zuhause nannten, sind tot. Einige von ihnen wurden nach dem Angriff im Keller unter den Trümmern begraben. Nachdem ihre Leichen von Anwohner*innen und Rettungskräften aus den Trümmern geborgen worden waren, wurden viele von ihnen in Gräbern am Rande der Stadt begraben. Die Überlebenden können nicht nach Hause zurückkehren.


Yatsentiuk will Gerechtigkeit für Natalia. Er will, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die für den Angriff verantwortlich sind, bei dem Vitalii, Olha, Dmytro und Oleksii getötet wurden. Er will, dass das Flugzeug, das die Munition abwarf, die die kleine Aryna tötete, identifiziert wird.

Im Zuge der Ermittlungen zu möglichen Verstößen gegen das Kriegsrecht in der Ukraine fordert Yatsentiuk die internationale Gemeinschaft auf, diese Untersuchungen mit „größtmöglicher Aufmerksamkeit“ zu verfolgen.

Im Moment versucht Yatsentiuk, das, was von seinem zerrütteten Leben in Izium übriggeblieben ist, wiederaufzubauen. In manchen Monaten passieren ihm am 9., dem Tag, an dem seine Familie starb, gute Dinge, sagt er. Es ist eine willkommene Pause. Er fängt an, „wieder zu leben“.

Eines Tages, sagt Yatsentiuk, wird er auf den Friedhof auf der anderen Seite des Flusses zurückkehren, wo er seine Familie in aller Eile begraben hat. Dort, zwischen den Bäumen und den behelfsmäßigen Gräbern, wird er ihnen zu Ehren ein Denkmal errichten.


Mehr über die Arbeit von Human Rights Watch in der Ukraine »

Bilder mit freundlicher Genehmigung von:
Anklage Gegen Putin? ARD Story von SWR und rbb 2023
Victims Memorial
Mykhailo Yatsentiuk