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Ein Kind geht am 8. April 2022 in Lwiw in der Ukraine den Flur eines Kinderheims entlang, in dem es untergebracht ist. © 2022 Joe Raedle/Getty Images

(Berlin) - Der Krieg in der Ukraine hat verheerende Folgen für Kinder in Einrichtungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Kinder werden gewaltsam nach Russland verschleppt, von ihren Familien getrennt und machen traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit Krieg und Vertreibung.

Der 55-seitige Bericht „We Must Provide a Family, Not Rebuild Orphanages” dokumentiert die Risiken für Kinder aus Pflegeeinrichtungen in Gebieten, die direkt vom Krieg betroffen sind. Auch dokumentiert der Bericht die Risiken für Kinder, die in andere Regionen der Ukraine oder ins europäische Ausland gebracht werden. Nach Regierungsangaben waren in der Ukraine vor dem russischen Einmarsch im Februar 2022 mehr als 105.000 Kinder in Heimen untergebracht – mehr als in jedem anderen europäischen Land außer Russland. Fast die Hälfte davon waren nach Angaben von UNICEF Kinder mit Behinderungen. Russland ist verantwortlich für die Krise, mit der diese Kinder konfrontiert sind, aber der Krieg macht es für die Ukraine noch dringlicher, mit Unterstützung ausländischer Regierungen und humanitärer Organisationen die Heimunterbringung von Kindern zu beenden und die Betreuung in der Familie und Gemeinde auszubauen.

„Ukrainische Kinder, die in Heimen aus Sowjetzeiten untergebracht waren, sind nun aufgrund des russischen Angriffskrieges extremen Risiken ausgesetzt“, sagte Bill Van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Die Ukraine und ihre Verbündeten sollten sicherstellen, dass alle Kinder, die in Einrichtungen untergebracht waren oder sind, identifiziert werden und Unterstützung erhalten, damit sie mit ihren Familien und in einer Gemeinschaft leben können.“

Human Rights Watch besuchte 12 Einrichtungen für Kinder in der Region Lvivska und drei weitere im polnischen Łódź, wo ukrainische Kinder und Mitarbeitende aus den direkt vom Krieg betroffenen Gebieten evakuiert wurden. Zudem sprach Human Rights Watch mit ukrainischen und polnischen Regierungsvertreter*innen und mit zivilgesellschaftlichen Gruppen.

Human Rights Watch hat die gewaltsame Verschleppung von Kindern aus ukrainischen Einrichtungen nach Russland oder in von Russland besetzte Gebiete dokumentiert: Bei diesen Deportationen handelt es sich um Kriegsverbrechen. Nach Angaben der ukrainischen Regierung befinden sich 100 Einrichtungen, in denen vor 2022 mehr als 32.000 Kinder untergebracht waren, in Regionen, die teilweise oder vollständig von Russland besetzt sind und von denen Russland fälschlicherweise behauptet, sie im September 2022 annektiert zu haben. Aussagen russischer Behörden, ukrainischer Aktivist*innen und Anwält*innen sowie Nachrichtenberichte deuten darauf hin, dass mindestens mehrere Tausend Kinder zwangsweise in andere besetzte Gebiete oder nach Russland verschleppt wurden.

Das russische Parlament änderte im Mai 2022 Gesetze, sodass es den Behörden nun möglich ist, ukrainischen Kindern die russische Staatsangehörigkeit zu verleihen, was ihre Vormundschaft und Adoption durch russische Familien in Russland erleichtert. Auf einer russischen Adoptionswebsite sind Kinder aus ukrainischen Regionen gelistet, und nach Angaben russischer Behörden wurden Hunderte ukrainischer Kinder bereits adoptiert. Internationale Normen verbieten Auslandsadoptionen während bewaffneter Konflikte. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten Human Rights Watch und 42 weitere Organisationen die gewaltsamen Verschleppungen und Adoptionen und forderten Russland auf, den Vereinten Nationen und anderen unparteiischen Organisationen Zugang zu gewähren, um betroffene Kinder zu identifizieren, ihr Wohlergehen zu prüfen und ihre Rückkehr in die Ukraine zu erleichtern.

Viele Kinder in Heimen, darunter auch Kinder mit Behinderungen, mussten wochenlang in Kellern ohne Strom und fließendes Wasser Schutz vor Bombardierungen suchen. Eine Gruppe von Kindern aus einer Einrichtung in Mariupol sprach vier Tage lang nicht, nachdem sie im März 2022 nach Lwiw evakuiert worden war. Die Kinder schwiegen, weil sie offenbar traumatisiert waren, wie ein Freiwilliger berichtete. Das Personal einer anderen Einrichtung wies ältere Kinder an, jüngere Kinder in den Keller zu tragen, als die Luftschutzsirenen ertönten.

Kinder, die aus anderen Teilen der Ukraine evakuiert wurden, konnten dem Krieg nicht entkommen. Im April 2022 wachte der 16-jährige Anton, der aus einer Einrichtung in der Region Luhansk in eine andere in Lwiw evakuiert worden war, auf, weil durch die Erschütterung eines Raketeneinschlags in der Nähe Putz von der Decke rieselte. Teile der Munition landeten auf dem Hof. Ein Rest landete in der Küche, zwischen den Füßen der Köchin, wie das Personal gegenüber Human Rights Watch berichtete.

Mehr als 9 von 10 Kindern in ukrainischen Einrichtungen haben Eltern mit vollem Sorgerecht und wurden aufgrund der Armut ihrer Familien oder schwieriger Lebensumstände in den Heimen untergebracht, oder weil das Kind eine Behinderung hat und solche Einrichtungen fälschlicherweise als die beste Option in solchen Fällen dargestellt wurden. Wie ukrainische Beamt*innen eingeräumt und wie jahrzehntelange Studien gezeigt haben, ist die Unterbringung in solchen Einrichtungen schädlich für Kinder. Die internationalen Menschenrechtsnormen fordern die Deinstitutionalisierung aller Kinder, auch während bewaffneter Konflikte.

Nach dem Beginn der russischen Angriffe wurden die meisten Kinder aus den Einrichtungen nach Hause zu ihren Familien geschickt. Tausende wurden in andere Einrichtungen evakuiert; weitere Tausende von ihnen sind nach wie vor unauffindbar. Es sollte dringend geprüft werden, ob sie wohlauf sind. Mit internationaler Unterstützung sollte die Ukraine dringend den Verbleib aller betroffenen Kinder ermitteln und ihr Wohlergehen sicherstellen, so Human Rights Watch.

In Fällen, in denen Kinder aus Einrichtungen evakuiert wurden, wurden oft nur wenige Mitarbeitende zusammen mit den Kindern evakuiert. Das Personal war erschöpft, weil es wochen- oder monatelang rund um die Uhr ohne Entlastung gearbeitet hatte. „Manche wurden nur deshalb [für eine Evakuierung] ausgewählt, weil sie gerade im Dienst waren“, sagte Galina, eine ehemalige Verwaltungsangestellte, die zuvor keiner pädagogischen Tätigkeit nachgegangen war.

Wenn Kinder aus Einrichtungen ins Ausland evakuiert wurden, wurden sie bisweilen aufgrund der unübersichtlichen Fluchtsituation während der ersten Kriegswochen nicht registriert. Geschwister wurden getrennt und die Kinder hatten vorübergehend keinen Zugang zu Bildung und sozialer Unterstützung. Die europäischen Staaten sollten mit der Ukraine Vereinbarungen zur Wahrung des Kindeswohls in allen Fällen treffen.

Die Ukraine besteht darauf, dass Kinder, die aus Einrichtungen evakuiert werden, im Ausland zusammenbleiben. Dies birgt logistische Probleme für Länder, die solche Einrichtungen bereits abgeschafft haben. In Polen etwa, wo es gesetzlich verboten ist, mehr als 14 Kinder in einer Einrichtung unterzubringen, mussten Freiwillige alte Waisenhäuser renovieren, um vertriebene Kinder aus der Ukraine unterbringen zu können. Nach Angaben der Ukraine soll damit sichergestellt werden, dass die Kinder verantwortungsvoll betreut werden und nach dem Krieg nach Hause zurückkehren können. Diese Ziele könnten jedoch auch durch eine Registrierung und regelmäßige Besuche in familienähnlichen Kontexten erreicht werden, so Human Rights Watch.

Seit 2005 hat sich jede ukrainische Regierung verpflichtet, Kinder aus den Einrichtungen zu holen und sie in Familien oder in familienähnlichen Kontexten unterzubringen: Die Reformen sind jedoch ins Stocken geraten und die Zahl der Heime ist sogar gestiegen. Die aktuelle Regierung, und somit auch Präsident Wolodymyr Selenskyj, hat die Notwendigkeit der Deinstitutionalisierung im Rahmen der ukrainischen Pläne für einen EU-Beitritt anerkannt. Die Ukraine und ihre Verbündeten sollten dieses Ziel umsetzen und sich dafür einsetzen, dass alle Kinder in Einrichtungen - auch Kinder mit Behinderungen - in ihren Familien oder in familienähnlichen Kontexten untergebracht werden, und dafür sorgen, dass die Heime nicht weiter finanziert werden.

„Dieser brutale Krieg hat deutlich gezeigt, dass die Gefahren für Kinder in Heimen beendet werden müssen“, sagte Van Esveld. „Die Rückführung von Kindern, die unrechtmäßig von russischen Streitkräften entführt wurden, sollte eine Priorität für die internationale Gemeinschaft sein. Die Ukraine und ihre Verbündeten können und sollten sicherstellen, dass alle Kinder in der Ukraine ihr Recht auf ein Leben in Familien und nicht in Heimen wahrnehmen können.“

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