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Ägypten: Regierungskritiker*innen im Ausland werden Ausweisdokumente verweigert

Betroffenen wird Zugang zu Grundrechten verwehrt

(Beirut) - Die ägyptischen Behörden haben sich in den letzten Jahren systematisch geweigert, Dutzenden von Dissident*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, die im Ausland leben, Ausweispapiere auszustellen oder diese zu verlängern, so Human Rights Watch heute. Dadurch sollen die Betroffenen offenbar unter Druck gesetzt werden, in ihr Heimatland zurückzukehren, wo sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verfolgt werden.

Die fehlende Möglichkeit, Geburtsurkunden zu erhalten oder wichtige Dokumente wie Reisepässe und Personalausweise zu verlängern, hat den Zugang zu grundlegenden Rechten für Dissident*innen im Ausland und ihre Familienmitglieder erschwert. Es wird ihnen erschwert, legal zu reisen, zu leben und zu arbeiten. In manchen Fällen stand sogar die Möglichkeit, wichtige medizinische Versorgung zu erhalten, Bildungseinrichtungen zu besuchen oder mit anderen Familienmitgliedern zusammenzukommen, auf dem Spiel.

„Die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sisi erhöht den Druck auf Dissident*innen im Ausland, indem sie ihnen wichtige Ausweispapiere vorenthält“, sagte Adam Coogle, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Nachdem die Regierung keine Mühen gescheut hat, um die Opposition im Land und den öffentlichen Dissens durch Massenverhaftungen, unfaire Gerichtsverfahren und massive Folter in der Haft zu unterdrücken, verstärkt sie nun ihre Bemühungen, diejenigen im Ausland zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen.“

Human Rights Watch sprach zwischen Juni und Dezember 2022 mit 26 ägyptischen Dissident*innen, Journalist*innen und Anwält*innen, die in der Türkei, Deutschland, Malaysia, einem afrikanischen Land, Katar und einem anderen Golfstaat leben und überprüfte Dutzende von Dokumenten wie schriftliche Korrespondenz, Pässe und offizielle Formulare, die sich auf die Fälle von neun der Befragten beziehen. Siebzehn verfügten über eine befristete oder unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, drei haben einen Asylantrag gestellt, 16 leben mit ihren Ehepartner*innen und Kindern im Ausland. Den Familienangehörigen von zehn Personen wurden ebenfalls Dokumente verweigert.

Ägyptische Dissident*innen in der Türkei sind mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert, weil das ägyptische Konsulat in Istanbul seine Türen für Ägypter*innen seit etwa 2018 praktisch geschlossen hält. Befragte sagten, dass das Konsulat Anträge für offizielle Dokumente nur über seine Facebook-Seite akzeptiert. Antragsteller*innen müssen für fast alle Dienstleistungen illegitime, inoffizielle Formulare ausfüllen. Human Rights Watch hat diese Formulare geprüft, in denen private Details abgefragt werden, z.B. warum die Betroffenen Ägypten verlassen haben oder Links zu ihren Social-Media-Konten.

Konsulatsmitarbeitende informierten die Antragsteller*innen routinemäßig darüber, dass die ägyptischen Sicherheitsbehörden alle Anträge genehmigen müssen, bevor das Konsulat sie an die zuständigen Behörden weiterleitet. Diese Praxis hat Tausende von Ägypter*innen in der Türkei daran gehindert, gewöhnliche Anträge auf amtliche Dokumente, wie etwa Pässe und Personalausweise, zu stellen.

Die Null-Toleranz-Politik der Regierung Al-Sisi gegenüber Andersdenkenden hat eine der größten politisch bedingten Abwanderungswellen in der jüngeren Geschichte Ägyptens ausgelöst. Nach offiziellen Regierungsangaben und in den letzten Jahren veröffentlichten Zahlen leben zwischen 9 und 14 Millionen Ägypter*innen im Ausland. Davon leben nach Schätzungen von Medien und Menschenrechtsberichten Zehntausende im Exil, um der Repression im eigenen Land zu entgehen.

Die befragten Dissident*innen und Aktivist*innen gaben an, dass es nahezu unmöglich ist, die Weigerung der ägyptischen Behörden, offizielle Dokumente zur Verfügung zu stellen, rechtlich anzufechten. Das gilt insbesondere wenn Botschaften und Konsulate sich weigern, Vollmachtsanträge zu bearbeiten, mit denen Anwält*innen in Ägypten ermächtigt werden sollen, im Namen von Personen im Ausland zu handeln. Keine der befragten Personen hat eine offizielle schriftliche Ablehnung erhalten. Diejenigen, die eine mündliche Antwort erhielten, sagten, die Botschafts- oder Konsulatsmitarbeitenden hätten ihnen lediglich mitgeteilt, dass die Sicherheitsbehörden die Vorlage der Dokumente nicht genehmigt hätten. Einigen wurde ausdrücklich gesagt, sie sollten nach Ägypten zurückkehren, um ihre Probleme mit den Sicherheitsbehörden zu „lösen“. In anderen Fällen gaben die Mitarbeitenden keine Antwort oder erklärten lediglich, die Anträge seien seit Monaten oder Jahren anhängig, ohne dass eine Erklärung oder eine formelle Ablehnung erfolgte.

Die meisten von Human Rights Watch befragten Personen sagten, dass gegen sie in Ägypten keine Strafverfahren anhängig seien. Sechs gaben jedoch an, dass die ägyptischen Behörden sie im Rahmen eines willkürlichen und mangelhaften Verfahrens in Ägypten als „Terroristen“ eingestuft hätten. Dadürch würden die Betroffenen automatisch daran gehindert, Pässe zu erhalten oder zu verlängern. Die als „Terroristen“ eingestuften Personen gaben an, dass die Behörden nicht nur die Verlängerung ihrer Pässe verweigerten, sondern auch die Ausstellung anderer Dokumente wie Geburtsurkunden und Personalausweise oder dass sie die Ausstellung einer Vollmacht verweigerten – alles willkürliche Maßnahmen, die nicht einmal in den mangelhaften und drakonischen ägyptischen Terrorismusbestimmungen vorgesehen sind.

Ein ägyptischer Ingenieur, der mit seiner Frau und seinen Kindern in Deutschland lebt, berichtete Human Rights Watch, dass sein Einbürgerungsverfahren in Deutschland aufgrund seines abgelaufenen Reisepasses ins Stocken geraten war, was auch dazu führte, dass seine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland faktisch ungültig wurde. Er sagte, die ägyptischen Behörden hätten sich geweigert, ihm einen neuen Pass auszustellen, weil er 2018 willkürlich auf die ägyptische „Terrorismus“-Liste gesetzt worden sei, wie Hunderte andere auch, und zwar auf der Grundlage von Gerichtsentscheidungen, die ohne Anhörungen oder die Möglichkeit der Anfechtung in einem fairen Verfahren getroffen wurden.

Indem die ägyptischen Behörden ihren Bürger*innen im Ausland willkürlich den Zugang zu gültigen Pässen und anderen Ausweispapieren verwehren, verstoßen sie sowohl gegen die Verfassung als auch gegen internationale Menschenrechtsnormen. Nach internationalem Recht hat jeder Mensch das Recht, überall als Person vor dem Gesetz anerkannt zu werden und das Recht auf eine Geburtsregistrierung.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi und Premierminister Mostafa Madbouly sollten die Sicherheitsbehörden und die diplomatischen Vertretungen unverzüglich anweisen, alle nicht legitimen Hindernisse für die Ausstellung von Ausweispapieren zu beseitigen und entsprechende Anträge zu erleichtern. Länder, in denen sich betroffene Dissident*innen aufhalten, sollten niemanden nach Ägypten abschieben, wenn den Betroffenen nach der Rückkehr Verfolgung, Folter oder sonstiger ernsthafter Schaden drohen würde. Zudem sollten Personen, die solche Befürchtungen äußern, die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen. Bei der Beurteilung dieser Asylanträge sollten die Regierungen, das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und andere Asylinstitutionen Berichte berücksichtigen, die anhaltende Unterdrückung in Ägypten dokumentieren und dass Dissident*innen im Ausland keine Möglichkeit haben, Ausweispapiere zu erhalten.

„Die Ausweitung der Unterdrückung durch die ägyptische Regierung über ihre Botschaften und Konsulate ins Ausland zielt darauf ab, die Lebensgrundlage der im Exil lebenden Ägypter zu zerstören, und ist zu einem wichtigen Aspekt ihres unerbittlichen Angriffs auf alle Formen des Dissens geworden“, so Coogle.

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