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Ukraine: Ein Jahr des Leids für die Zivilbevölkerung

Strafrechtliche Verfolgung bei mutmaßlichen Kriegsverbrechen und anderen Rechteverletzungen von entscheidender Bedeutung

Eine Familie spaziert zwischen zerstörten Militärfahrzeugen in Butscha, in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 6. April 2022. © 2022 AP Photo/Felipe Dana.

(Kiew, 12. Januar 2023) – Russlands Krieg in der Ukraine hat zu enormem Leid unter der Zivilbevölkerung geführt und das zivile Leben in weiten Teilen des Landes zum Erliegen gebracht, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2023.

Die russischen Streitkräfte haben mutmaßlich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, darunter Folter, Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen. Sie haben wahllos zivile Gebiete und wiederholt die Energieinfrastruktur angegriffen, so dass Millionen Haushalte zeitweise ohne Strom, Wasser und Heizung waren – und das bei winterlichen Temperaturen. Mehr als 14 Millionen Ukrainer*innen mussten ihre Häuser verlassen. Es gibt allerdings auch Hinweise auf Kriegsrechtsverstöße durch ukrainische Streitkräfte, etwa Misshandlungen und mutmaßliche Hinrichtungen von Kriegsgefangenen, die ebenso Kriegsverbrechen darstellen würden.

„Während des Ukraine-Krieges haben die russischen Streitkräfte entsetzliche Menschenrechtsverletzungen verübt und dabei das Leben der Zivilbevölkerung skrupellos missachtet“, sagte Yulia Gorbunova, leitende Ukraine-Expertin bei Human Rights Watch. „Die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen ist von entscheidender Bedeutung, sowohl um den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um sicherzustellen, dass diese schweren Verbrechen nicht ungesühnt bleiben.“

In dem 712-seitigen World Report 2023, der 33. Ausgabe, beschreibt Human Rights Watch die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern. In ihrem einleitenden Essay erklärt Interim-Exekutivdirektorin Tirana Hassan, dass es in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben, nicht mehr möglich ist, sich bei der Verteidigung der Menschenrechte auf eine kleine Gruppe von Regierungen größtenteils aus dem Globalen Norden zu verlassen. Die weltweiten Aktionen rund um die Ukraine erinnern uns an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Länder, ob groß oder klein, ihre Politik an den Menschenrechten auszurichten und sich gemeinsam für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einzusetzen.

Seit der russischen Invasion im Februar haben die Vereinten Nationen mindestens 6.919 zivile Todesopfer und mehr als 11.000 Verwundete infolge des Ukraine-Krieges gezählt, wobei die tatsächlichen Zahlen noch viel höher liegen dürften. Etwa 6,5 Millionen Ukrainer*innen sind Binnenvertriebene, etwa 5 Millionen leben als Geflüchtete in europäischen Ländern. Rund 2,8 Millionen Ukrainer*innen halten sich in Russland und Belarus auf, manche von ihnen unfreiwillig.

Die russischen Streitkräfte sind verantwortlich für den Tod, willkürliche Festnahmen, Folter und das Verschwindenlassen von ukrainischen Zivilist*innen. Auch Kriegsgefangene sollen gefoltert worden sein. Inhaftierte berichteten von Schlägen, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, Waterboarding und anderen Foltermethoden und Misshandlungen. Russische Soldat*innen hielten Menschen außerdem unter unwürdigen Bedingungen in Kellern, Gruben, Heizungskellern und Fabriken gefangen.

Im Dezember 2022 berichteten die Vereinten Nationen, dass sie zwischen dem 24. Februar und dem 21. Oktober 86 Fälle sexueller Gewalt, meist durch russische Streitkräfte, dokumentiert hätten, darunter Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, erzwungene Nacktheit und erzwungene öffentliche Entkleidung in verschiedenen Regionen der Ukraine und in einer Strafvollzugsanstalt in Russland. Die Mehrheit der gemeldeten Opfer und Überlebenden waren Frauen, einschließlich älterer Frauen, und Mädchen. Feindseligkeiten, Besetzung, Vertreibung und Zerstörung medizinischer Einrichtungen sowie Stigmatisierung und Angst vor Vergeltung behinderten den Zugang der Überlebenden zu wichtigen Versorgungsleistungen und Unterstützung.

Human Rights Watch und UN-Beobachter*innen haben die Tötung und Folter – in einigen Fällen mit Todesfolge – von Kriegsgefangenen dokumentiert, die von den russischen Streitkräften festgehalten wurden. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen auch Fälle von Misshandlungen russischer Kriegsgefangener dokumentiert, die von ukrainischen Streitkräften festgehalten wurden.

Seit Februar haben die russischen Streitkräfte wiederholt zivile Gebiete auf unverhältnismäßige und wahllose Weise bombardiert oder mit Granaten angegriffen. Bei diesen Angriffen wurden Häuser, Geschäfte, Schulen, Gesundheitseinrichtungen und andere Einrichtungen zerstört oder schwer beschädigt. Außerdem kamen über 2.700 Bildungseinrichtungen zu Schaden, mehr als 300 davon so schwer, dass sie nicht wieder aufgebaut werden können.

Diese Angriffe waren auch gegen Krankenhäuser gerichtet, darunter mindestens ein Kinderkrankenhaus in Tschernihiw, eine Entbindungsklinik in Charkiw und eine Entbindungsstation in Wilniansk. Im Oktober hatte die Weltgesundheitsorganisation mehr als 700 Angriffe auf Personal, Fahrzeuge und Einrichtungen im Gesundheitsbereich bestätigt, bei denen mindestens 200 Menschen getötet wurden.

Bei vielen dieser Angriffe auf zivile Gebiete wurden Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung eingesetzt, darunter Streumunition, ungelenkte Fliegerbomben und Lenkflugkörper.

Mitunter nutzten sowohl russische als auch ukrainische Streitkräfte Schulen für militärische Zwecke, was dazu führte, dass diese gezielt von der Gegenseite angegriffen wurden.

In der Region Charkiw setzten ukrainische Streitkräfte in einigen Fällen Streumunition gegen Gebiete unter russischer Kontrolle ein.

Antipersonenminen kamen in vielen Gebieten der Ukraine zum Einsatz.

Russische Streitkräfte haben zudem gezielt Zivilist*innen in Fahrzeugen angegriffen, die sich auf der Flucht befanden, augenscheinlich ohne überhaupt zu prüfen, ob sich in dem Fahrzeug Zivilist*innen befanden.

Durch die Angriffe der russischen Streitkräfte auf die ukrainische Energieinfrastruktur hatten Millionen von Zivilist*innen im ganzen Land kurz vor den kalten Wintermonaten keinen Zugang zu Strom, Heizung und in einigen Fällen zu Wasser. Das russische Militär und andere Sicherheitskräfte hinderten Zivilist*innen auf der Flucht vor den Angriffen in der südlichen Region Mariupol daran, in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete zu gelangen, so dass einige gezwungen waren, in den von Russland besetzten Gebieten zu bleiben oder nach Russland zu gehen. Es gab auch Berichte über Massendeportationen von Ukrainer*innen durch russische Militärs. Einige von ihnen wurden gegen ihren Willen nach Russland gebracht; anderen blieb keine nennenswerte Wahl.

Darüber hinaus mussten sich Tausende von Zivilist*innen, die vor den Angriffen flohen, einem „Filtrationsprozess“ unterziehen, bei dem im großen Stil sensible personenbezogene Daten erfasst wurden, wie etwa biometrische Daten. Eine unbekannte Zahl von Personen wurde im Rahmen einer solchen Filtration festgenommen und wird mutmaßlich in den von Russland kontrollierten Regionen festgehalten.

Die UN und Menschenrechtsorganisationen haben auch auf die verheerenden Auswirkungen des Krieges auf Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen hingewiesen. Manche sitzen in Heimen fest, wo sie enormen Gefahren für ihr Leben und ihre Gesundheit ausgesetzt sind. Die UN sowie Menschenrechts- und humanitäre Hilfsorganisationen haben auch auf die unverhältnismäßigen Auswirkungen des Krieges auf Frauen und Mädchen hingewiesen, darunter auf von Frauen geführte Haushalte, und andere marginalisierte Gruppen.

Im Rahmen einer konzertierten und beispiellosen Aktion haben multilaterale Organisationen und ausländische Regierungen auf Russlands groß angelegte Invasion in der Ukraine mit einer Reihe von Mechanismen und Instrumenten zur Rechenschaftspflicht reagiert und damit unterstrichen, wie wichtig es ist, die Verantwortlichen für schwere Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
 

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