World Report 2023
Unser Jahresbericht zur Menschenrechtslage rund um die Welt
Ein neues globales Führungsmodell für Menschenrechte
Die Schlussfolgerung aus der Reihe der Menschenrechtskrisen im Jahr 2022 - von Wladimir Putins gezielten Angriffen auf Zivilist*innen in der Ukraine über Xi Jinpings Freiluftgefängnis für Uigur*innen in China bis hin zu den Taliban, die Millionen von Afghan*innen verhungern lassen – ist offensichtlich: unkontrollierte autoritäre Macht führt zu immensem menschlichen Leid. Das Jahr 2022 hat aber auch eine grundlegende Machtverschiebung in der Welt offenbart. Diese gibt allen betroffenen Regierungen die Möglichkeit, gegen diese Missstände vorzugehen, indem sie das globale Menschenrechtssystem schützen und stärken, insbesondere dann, wenn die Maßnahmen der Großmächte unzureichend oder problematisch sind.
Wir mussten miterleben, wie Staats- und Regierungsoberhäupter auf zynische Weise Menschenrechtsverpflichtungen und die Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen gegen kurzfristige politische Erfolge eingetauscht haben. Das hochtrabende Versprechen des US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden, Saudi-Arabien wegen seiner Menschenrechtslage zu einem „Pariastaat“ zu machen, wurde, kaum, dass er im Amt und mit hohen Gaspreisen konfrontiert war, durch seinen kumpelhaften Fistbump mit Saudi-Arabiens Kronprinz und Premierminister Mohammed Bin Salman ausgehöhlt. Und die Regierung Biden hat trotz ihrer Zusicherungen, Demokratie und Menschenrechten in Asien Vorrang einzuräumen, die Kritik an Missständen und zunehmendem Autoritarismus in Indien, Thailand, den Philippinen und anderswo in der Region aus Sicherheits- und wirtschaftlichen Gründen abgemildert, anstatt den Zusammenhang zwischen all diesen Aspekten anzuerkennen.
Natürlich findet sich diese Art von Doppelmoral nicht nur bei den globalen Supermächten. Pakistan hat zwar die Überwachung der Menschenrechtsverletzungen im mehrheitlich muslimischen Kaschmir durch den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen unterstützt, aber aufgrund seiner engen Beziehungen zu China die Augen verschlossen vor möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Uigur*innen und andere turkstämmige Muslim*innen in Xinjiang. Diese Heuchelei Pakistans ist besonders eklatant, bedenkt man seine Rolle als Koordinator der 57 Mitglieder zählenden Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC).
Menschenrechtskrisen tauchen nicht aus dem Nichts auf. Regierungen, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte im eigenen Land nicht nachkommen, schaffen die Grundlage für Unzufriedenheit und Instabilität und letztlich für eine Krise. Bleiben ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen unkontrolliert und ungeahndet, eskalieren sie und zementieren die Überzeugung, dass Korruption, Zensur, Straffreiheit und Gewalt die wirksamsten Mittel sind, um ans Ziel zu kommen. Werden Menschenrechtsverletzungen ignoriert, so hat das einen hohen Preis, und ein möglicher Dominoeffekt darf hierbei nicht unterschätzt werden.
In einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschieben, sahen wir bei der Zusammenstellung unseres World Report 2023, für den wir die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern untersuchten, in dieser Verschiebung aber auch eine Chance. Jedes Thema muss für sich verstanden und angegangen werden und erfordert Führungsstärke. Jeder Staat, der die Kraft erkennt, die sich aus der Zusammenarbeit mit anderen ergibt, um einen positiven Wandel bei den Menschenrechten zu bewirken, kann führend vorangehen. Es gibt nicht weniger, sondern mehr Raum für Regierungen, sich zu erheben und Aktionspläne zu verabschieden, die die Menschenrechte respektieren.
Es sind neue Koalitionen entstanden und neue Führungsstimmen haben sich erhoben, die diesen Trend weiter ausgestalten und fördern können. Südafrika, Namibia und Indonesien haben den Weg dafür geebnet, dass mehr Regierungen anerkennen, dass die israelischen Behörden durch die Apartheid Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Palästinenser*innen begehen.
Die pazifischen Inselnationen haben einheitlich ehrgeizigere Emissionsreduzierungen von den Ländern gefordert, die die Umwelt am stärksten verschmutzen. Vanuatu führt die Bemühungen an, die negativen Auswirkungen des Klimawandels in seinem eigenen Interesse – und in unserem – vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen.
Und während der Oberste Gerichtshof der USA 50 Jahre Schutz für reproduktive Rechte zunichte gemacht hat, bildet die „grüne Welle“ der Ausweitung des Rechts auf Abtreibung in Mittel- und Südamerika – vor allem in Argentinien, Kolumbien und Mexiko – einen Gegentrend, der Hoffnung macht.
Was also können wir lernen in Zeiten, in denen die Welt zerrütteter denn je scheint? Wir müssen Machtstrukturen neu denken und begreifen, dass alle Regierungen nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verantwortung haben, Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Grenzen zu ergreifen.
Ukraine: Fanal und Kritik
Der russische Einmarsch auf Befehl des Präsidenten Wladimir Putin in die Ukraine im Februar und die damit verbundenen Gräueltaten standen dieses Jahr ganz oben auf der weltweiten Menschenrechtsagenda. Nachdem ukrainische Truppen das russische Militär zum Rückzug aus Butscha, nördlich der Hauptstadt Kiew, gezwungen hatten, stellten die Vereinten Nationen fest, dass mindestens 70 Zivilist*innen Opfer rechtswidriger Tötungen geworden waren, u.a. durch standrechtliche Hinrichtungen, die Kriegsverbrechen darstellen. Dieses Muster russischer Gräueltaten hat sich bereits unzählige Male wiederholt.
Im Theater in Mariupol suchten Hunderte vertriebene Menschen Zuflucht und malten das russische Wort DETI (Kinder) in so großen Buchstaben auf den Boden, dass es sogar auf Satellitenbildern zu sehen waren. Diese Warnung sollte die Zivilist*innen, darunter viele Kinder, die sich im Theater aufhielten, schützen. Stattdessen diente sie offenbar nur als Ansporn für russische Streitkräfte: russische Bomben zerstörten das Gebäude und töteten mindestens ein Dutzend, vermutlich sogar mehr, Menschen. Es scheint ein zentraler Bestandteil der russischen Strategie zu sein, Zivilist*innen größtmögliche Schäden zuzufügen, etwa durch wiederholte Angriffe auf die Energieinfrastruktur, auf die die Menschen für Strom, Wasser und Wärme angewiesen sind.
Putins Unverfrorenheit wurde vor allem dadurch ermöglicht, dass er so lange ungestraft agieren konnte. Für die Syrer*innen, die nach Russlands Intervention zur Unterstützung der syrischen Streitkräfte unter Bashar al-Assad im Jahr 2015 unter schweren Rechtsverletzungen durch Luftangriffe zu leiden hatten, kommt der Verlust von zivilen Menschenleben in der Ukraine wenig überraschend. Putin hat prominente Militärbefehlshaber aus dem Feldzug in Syrien mit der militärischen Verantwortung in der Ukraine betraut. Die Folgen für die Zivilbevölkerung waren ebenso verheerend wie vorhersehbar. Die brutalen militärischen Aktionen Russlands in der Ukraine gehen einher mit einem harten Vorgehen gegen Menschenrechts- und Friedensaktivist*innen in Russland selbst. Dort wird jede abweichende Meinung und jede Kritik an Putins Politik im Keim erstickt.
Immerhin führte das Vorgehen Russlands zur Aktivierung des gesamten globalen Menschenrechtssystems, das für die Bewältigung solcher Krisen geschaffen wurde. Der UN-Menschenrechtsrat leitete umgehend eine Untersuchung ein, um Beweise für Menschenrechtsverletzungen während des Krieges zu dokumentieren und zu sichern, und setzte später einen Sonderberichterstatter ein, der die Menschenrechtslage in Russland überwachen sollte. Die UN-Generalversammlung verurteilte viermal – meist mit überwältigender Mehrheit – sowohl die russische Invasion als auch die dabei begangenen Menschenrechtsverletzungen. Die Generalversammlung hat Russland zudem vom Menschenrechtsrat suspendiert und damit die Blockademöglichkeiten in Bezug auf die Ukraine und andere schwerwiegende Menschenrechtskrisen, die auf der Tagesordnung des Rates stehen, geschwächt.
Europäische Länder nahmen Millionen von ukrainischen Geflüchteten auf – eine lobenswerte Reaktion, die aber auch die Doppelmoral der meisten EU-Staaten bezüglich der Behandlung unzähliger Syrer*innen, Afghan*innen, Palästinenser*innen, Somalier*innen und anderer Asylsuchender offenbarte. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag leitete eine Untersuchung zur Ukraine ein, nachdem eine noch nie dagewesene Anzahl von Mitgliedsländern sich an den Gerichtshof gewandt hatte. Die EU, die USA, Großbritannien, Kanada und andere Länder haben gezielte Sanktionen gegen russische Einzelpersonen, Unternehmen und andere Einrichtungen verhängt, um Putins weltweiten Einfluss und seine militärische Macht zu schwächen.
Diese außergewöhnliche Reaktion hat gezeigt, was möglich ist, wenn es um Rechenschaftspflicht, Schutz für Geflüchtete und die Menschenrechte einiger der schutzbedürftigsten Menschen auf der Welt geht. Gleichzeitig sollten die Angriffe auf Zivilist*innen und die schrecklichen Übergriffe in der Ukraine daran erinnern, dass eine solche konsolidierte Unterstützung, so wichtig sie auch ist, nicht mit einer schnellen Lösung verwechselt werden darf.
Vielmehr sollten Regierungen darüber nachdenken, wie die heutige Lage wäre, hätte die internationale Gemeinschaft entschlossen und gemeinsam gehandelt, um Putin viel früher für sein Vorgehen zur Rechenschaft zu ziehen – etwa im Jahr 2014, zu Beginn des Krieges in der Ostukraine, oder im Jahr 2015 bezüglich der Menschenrechtsverletzungen in Syrien oder der eskalierenden Menschenrechtsverletzungen in Russland während des letzten Jahrzehnts. In Zukunft gilt es für die Regierungen, das Beste aus der internationalen Reaktion bezüglich der Ukraine zu übernehmen und den politischen Willen zur Bewältigung anderer Krisen auf der ganzen Welt zu stärken, bis sich die Menschenrechtslage deutlich verbessert.
Rechenschaftspflicht in Äthiopien
Der bewaffnete Konflikt im Norden Äthiopiens hat nur einen Bruchteil der weltweiten Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die der Ukraine zuteilwurde, obwohl die Kriegsparteien seit zwei Jahren Gräueltaten, darunter mehrere Massaker, verüben.
2020 eskalierten die Spannungen zwischen der äthiopischen Regierung und der Tigray-Regionalregierung, der Tigray People's Liberation Front (TPLF), zu einem Konflikt in der Region Tigray. Dabei unterstützen die Streitkräfte der Region Amhara und das Militär Eritreas die äthiopischen Streitkräfte. Seitdem hat die Regierung den Zugang unabhängiger Ermittler*innen und Journalist*innen zu den vom Konflikt betroffenen Gebieten stark eingeschränkt. Dies erschwerte die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, auch als sich der Konflikt auf die benachbarten Regionen Amhara und Afar ausweitete.
Die Regierungen und die Vereinten Nationen haben die Hinrichtungen, die weit verbreitete sexuelle Gewalt und die Plünderungen zwar verurteilt, darüber hinaus jedoch wenig unternommen. Eine ethnische Säuberungskampagne gegen die tigrayische Bevölkerung in West-Tigray führte zu zahlreichen Toten, sexueller Gewalt, Massenverhaftungen und der Vertreibung Tausender Menschen. Die faktische Belagerung der Region Tigray durch die Regierung dauerte bis 2022 an und verwehrte der Zivilbevölkerung den Zugang zu Lebensmitteln, Medikamenten und lebensrettender humanitärer Hilfe sowie zu Strom, Bankgeschäften und Kommunikationsmitteln, was einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.
Die drei gewählten afrikanischen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – Gabun, Ghana und Kenia – sowie Russland und China haben sich geweigert, Äthiopien auf die offizielle Tagesordnung zu setzen, obwohl der Rat den Auftrag hat, Frieden und Sicherheit auf internationaler Ebene zu wahren und wiederherzustellen.
Die Regierungen haben auch gezögert, gezielte Sanktionen gegen äthiopische Einrichtungen und Einzelpersonen zu verhängen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Die internationale Kontrolle lag stattdessen beim Menschenrechtsrat, der das Mandat des von ihm im Dezember 2021 geschaffenen Mechanismus zur Untersuchung und Sicherung von Beweisen für schwere Menschenrechtsverletzungen und zur Ermittlung der Verantwortlichen mit einer knappen Mehrheit erneuerte. Die äthiopischen Bundesbehörden blockieren jedoch weiterhin vehement die Arbeit dieses Mechanismus.
Ein zehntägiger, von der Afrikanischen Union (AU) geführter Friedensprozess führte im November zu einem Waffenstillstand zwischen der äthiopischen Bundesregierung und den tigrayanischen Behörden, der anderen Staaten die Möglichkeit bietet, eine führende Rolle bei Lösungsansätzen zu spielen, die den tödlichen Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit durchbrechen können. Da es keine nationale Rechenschaftspflicht gibt, ist eine internationale Überwachung des Abkommens erforderlich, ebenso wie ernsthafte Bemühungen, die Verantwortlichen für die im Rahmen des Konflikts begangenen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Die wichtigsten Unterstützer und Beobachter des Abkommens, darunter die AU, die Vereinten Nationen und die USA, sollten Druck aufbauen und aufrechterhalten, um sicherzustellen, dass unabhängige Ermittler*innen Zugang zu den Konfliktgebieten erhalten und Beweise zusammentragen und sichern können. Die Rechenschaftspflicht für diese Verbrechen muss eine Priorität bleiben, damit die Opfer und ihre Familien eine Spur von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren können.
Peking im Blick
Der chinesische Präsident Xi Jinping sicherte sich im Oktober eine beispiellose dritte Amtszeit an der Spitze der Kommunistischen Partei Chinas. Damit hat er sich selbst als „Führer auf Lebenszeit” etabliert und die feindselige Haltung der chinesischen Regierung gegenüber Menschenrechten zementiert. Xi hat sich mit loyalen Anhängern umgeben und den Aufbau eines Sicherheitsstaates weiter vorangetrieben, wodurch sich Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land verschärft haben.
In der Region Xinjiang fallen Pekings Masseninhaftierungen von schätzungsweise einer Million Uigur*innen und anderen turkstämmigen Muslim*innen, die Folter, politischer Indoktrination und Zwangsarbeit ausgesetzt sind, sowie die schwerwiegenden Einschränkungen der Religions-, Meinungs- und Kulturfreiheit für die allgemeine Bevölkerung durch ihre Schwere, ihr Ausmaß und ihre Grausamkeit auf. Die Vereinten Nationen stellten fest, dass die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen könnten und schloss sich damit den Einschätzungen von Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsgruppen an.
Der detaillierte Bericht der ehemaligen UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, der auf jahrelangen Untersuchungen und internen Dokumenten, Gesetzen, Strategien, Daten und politischen Erklärungen der chinesischen Regierung beruhte, schuf einen entscheidenden gemeinsamen Bezugspunkt, an dem sich Regierungen in ihrem Handeln orientieren sollten. Die Tatsache, dass der Bericht erst in den letzten Minuten von Bachelets Amtszeit veröffentlicht wurde, ist ein Hinweis darauf, dass Peking großen Druck ausübte, um den Bericht unter Verschluss zu halten.
Der Bericht löste eine beachtliche diplomatische Mobilisierung aus. Eine Resolution zur Eröffnung einer Debatte über den Bericht wurde in den Menschenrechtsrat eingebracht und scheiterte an nur zwei Stimmen. Das Ergebnis spiegelt Pekings Druck auf Regierungen wie Indonesien wider. Das Land gab an, dass „wir unsere Augen nicht vor der Notlage der Uiguren verschließen dürfen“, stimmte dann aber mit „Nein“. Auch der Einfluss Chinas auf andere Länder wurde deutlich, die sich ihrer Stimme enthielten, darunter Argentinien, Indien, Mexiko und Brasilien. Die „Ja“-Stimmen von Somalia, Honduras und Paraguay sowie die Unterstützung durch die Türkei und Albanien zusammen mit 24 vorwiegend westlichen Ländern zeigen jedoch, dass überregionale Allianzen und neue Koalitionen das Potenzial haben, die von der chinesischen Regierung erwartete Straffreiheit auf den Prüfstand zu stellen.
Das kollektive Augenmerk auf der katastrophalen Menschenrechtslage in Xinjiang hat Peking in die Defensive gedrängt, und die chinesische Regierung bemüht sich nach Kräften, ihr abscheuliches Verhalten zu rechtfertigen. Das Ergebnis in Genf unterstreicht die Verantwortung der UN-Führung, ihr gesamtes politisches Gewicht hinter den Bericht zu legen und die Situation in Xinjiang und in China allgemein weiterhin zu beobachten, zu dokumentieren und darüber zu berichten. Alles andere stünde nicht im Einklang mit der menschenrechtlichen Verantwortung des UN-Systems für den Schutz der turkstämmigen Muslim*innen in Xinjiang.
Da das Unbehagen über die repressiven Bestrebungen der chinesischen Regierung gewachsen ist, haben etwa Australien, Japan, Kanada, Großbritannien, die EU und die USA versucht, Handels- und Sicherheitsallianzen mit Indien zu schließen und so das Image des Landes als „größte Demokratie der Welt” zu stärken. Doch um ihre Macht zu festigen, setzt die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party von Premierminister Narendra Modi auf einige ähnliche Mittel, die die staatliche Unterdrückung in China ermöglicht haben: systematische Diskriminierung religiöser Minderheiten, Unterdrückung von friedlichem Dissens, Einsatz von Technologien zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit.
Die scheinbar sorglosen Kompromisse, die führende Politiker*innen in Sachen Menschenrechte eingehen und die sie mit der Stärkung internationaler Beziehungen rechtfertigen, berücksichtigen nicht die längerfristigen Auswirkungen dieser Kompromisse. So wird durch die Stärkung der Beziehungen zur Modi-Regierung unter Außerachtlassung ihrer besorgniserregenden Menschenrechtsbilanz ein wertvolles Druckmittel zum Schutz des kostbaren, aber zunehmend gefährdeten zivilgesellschaftlichen Raums verschenkt, auf den Indiens Demokratie angewiesen ist.
Die Achtung der Rechte als Garant für Stabilität
Autokratische Herrscher profitieren von der Illusion, dass sie für die Aufrechterhaltung der Stabilität unverzichtbar sind, was wiederum ihre Unterdrückung und die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen, die sie zu diesem Zweck begehen, rechtfertigen soll.
Aber diese „Stabilität“, die von dem endlosen Streben nach Macht und Kontrolle angetrieben wird, infiziert und untergräbt jede Grundlage, die für eine funktionierende, auf Rechtsstaatlichkeit basierende Gesellschaft notwendig ist. Das Ergebnis sind häufig massive Korruption, eine marode Wirtschaft und eine hoffnungslos parteiische Justiz. Der wichtige zivilgesellschaftliche Raum wird zerstört, Aktivist*innen und unabhängige Journalist*innen werden verhaftet, müssen sich verstecken oder leben in Angst vor Repressalien.
Die monatelangen Proteste im Iran im Jahr 2022 machen deutlich, wie weit verbreitet der Irrglaube von Autokratien ist, Repression sei der kürzeste und schnellste Weg zu Stabilität. Die Proteste brachen im September im ganzen Land als Reaktion auf den Tod der 22-jährigen kurdisch-iranischen Mahsa (Jina) Amini aus, nachdem diese von der sog. „Sittenpolizei“ verhaftet worden war, weil sie einen „unpassenden Hidschab“ trug. Die Proteste gegen das obligatorische Tragen des Hidschabs sind jedoch nur das sichtbarste Symbol der Unterdrückung. Die neue Generation von Demonstrierenden im ganzen Land spiegelt den Frust früherer Generationen wider: Menschen, die es leid sind, ohne Grundrechte zu leben und von Menschen regiert zu werden, die das Wohlergehen ihres Volkes rücksichtslos missachten.
Die Forderung nach Gleichberechtigung, die von Frauen und Mädchen ausging, hat sich zu einer landesweiten Bewegung der iranischen Bevölkerung gegen eine Regierung entwickelt, die ihnen systematisch ihre Rechte verweigert, der Wirtschaft schadet und Menschen in die Armut treibt. Die iranischen Behörden sind rücksichtslos gegen die weit verbreiteten Proteste gegen die Regierung vorgegangen, mit exzessiver und tödlicher Gewalt, gefolgt von Schauprozessen und Todesurteilen für diejenigen, die es wagten, die Autorität der Regierung in Frage zu stellen. Andeutungen, die Behörden könnten die sog. Sittenpolizei auflösen, sind weit entfernt von der Forderung nach Abschaffung der diskriminierenden Hidschab-Pflicht. Noch weiter entfernt sind die grundlegenden Strukturreformen, die Demonstrierende fordern, um eine Rechenschaftspflicht für die Regierung zu schaffen.
Der Zusammenhang zwischen Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen und Misswirtschaft ist auch anderswo zu beobachten. Der Mangel an Treibstoff, Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern, einschließlich Medikamenten, löste in Sri Lanka massive Proteste aus, die zunächst den Premierminister Mahinda Rajapaksa und dann seinen Bruder, den Präsidenten Gotabaya Rajapaksa, zum Rücktritt zwangen. Leider hat der Mann, den das Parlament zu ihrem Nachfolger wählte, Ranil Wickramasinghe, seine Versprechen zu Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für die ungeheuerlichen Verbrechen, die während des 26 Jahre dauernden Bürgerkriegs bis 2009 begangen wurden, nicht gehalten. Anstatt sich auf die Wirtschaftskrise zu konzentrieren und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, ging Präsident Wickremasinghe hart gegen Demonstrierende vor und nutzte sogar das berüchtigte Anti-Terror-Gesetz, um studentische Aktivist*innen zu verhaften.
Auch die Fundamente von scheinbar stabilen Autokratien zeigen Risse. Im November haben Menschen ihren immer größer werdenden Frust über Pekings strenge „Null-Covid“-Politik auf die Straße getragen. Im ganzen Land demonstrierten Menschen in Städten gegen die drakonischen Maßnahmen der Kommunistischen Partei und in einigen Fällen auch gegen die Herrschaft von Xi selbst. Diese bemerkenswerten Demonstrationen mit vor allem jungen Menschen und insbesondere jungen Frauen an der Spitze zeigen, dass das Verlangen nach Menschenrechten trotz der enormen Mittel, die die chinesische Regierung zu ihrer Unterdrückung einsetzt, nicht ausgelöscht werden kann.
Es ist einfach, die Demonstrierenden zu feiern, die den Kampf für die Menschenrechte auf die Straße tragen. Aber wir können nicht von ihnen erwarten, dass sie im Alleingang die Probleme benennen – was sie unter großer Gefahr für sich selbst und ihre Familien tun – und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen. Regierungen, die Menschenrechte achten, müssen ihr politisches Durchhaltevermögen und ihre Aufmerksamkeit einsetzen, um sicherzustellen, dass die notwendigen Veränderungen im Bereich der Menschenrechte auch tatsächlich umgesetzt werden. Die Regierungen sollten ihrer globalen Verantwortung für die Menschenrechte gerecht werden und nicht nur laut über diese Verantwortung sinnieren und sich mit ihr brüsten.
Nehmen wir den Sudan, wo wie Volksrevolution von 2018-19 die menschenrechtsverletzende Machtstruktur herausforderte, die das Land jahrzehntelang unterdrückt hatte. Der zweijährige zivil-militärische Übergang wurde Ende 2021 durch einen Militärputsch sabotiert, wodurch sudanesische Autokraten und Militärkommandeure, die in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren – und von denen einige nun erneut die Menschenrechte missachten –, die Führung des Landes übernahmen.
Doch die sudanesischen Widerstandskomitees – pro-demokratische zivile Gruppen, die aus der Revolution von 2018 hervorgegangen sind – bestehen weiter, obwohl mit brutaler Gewalt gegen sie vorgegangen wird. Diese Gruppen bestehen auf einem rein zivilen Übergang und wollen, dass die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. Im Dezember erzielten die politischen Akteur*innen eine vorläufige Einigung mit den Anführern des Militärputsches und verschoben die Diskussionen über Reformen des Justiz- und Sicherheitssektors auf eine spätere Phase. Demonstrierende und Opfergruppen lehnten die Vereinbarung jedoch ab.
Damit der Sudan in eine Zukunft blicken kann, in der die Menschenrechte respektiert werden, sollten die Forderungen dieser Gruppen, einschließlich der Forderung nach Gerechtigkeit und einem Ende der Straffreiheit für die Befehlshaber, eine Priorität der USA, der UN, der EU und der regionalen Partner bei ihren Kontakten mit der sudanesischen Militärführung darstellen. Diejenigen, die den Staatsstreich inszeniert haben, um an die Macht zu kommen, werden diese nicht ohne Abschreckungsmaßnahmen oder finanzielle Einbußen aufgeben.
Auch die Forderungen von Millionen Menschen, die auf Menschenrechte und eine demokratische Zivilregierung in Myanmar drängen, müssen in den Fokus gerückt werden, um die anhaltende Krise zu bewältigen. Im Februar 2021 putschte das Militär in Myanmar und unterdrückt seither brutal die weit verbreitete Oppositionsbewegung. Zwei Jahre lang hat die Militärjunta systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen, darunter außergerichtliche Tötungen, Folter und sexuelle Gewalt, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen darstellen.
Der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) hat einen „Fünf-Punkte-Konsens“ zwischen dem Block und der Junta von Myanmar ausgehandelt, um die Krise in dem Land zu lösen. Dieser Konsens ist gescheitert. Mehrere ASEAN-Staaten, darunter Malaysia, Indonesien und Singapur, erkannten die Weigerung der Junta an, den Konsens einzuhalten. Seit dem Staatsstreich hat die ASEAN Vertreter der Junta von Myanmar von den hochrangigen Treffen des Blocks ausgeschlossen. Darüber hinaus hat die ASEAN nur minimal Druck auf Myanmar ausgeübt, während andere mächtige Regierungen, darunter die USA und Großbritannien, Gründe der regionalen Rücksichtnahme vorschieben, um ihre eigenen eingeschränkten Maßnahmen zu rechtfertigen.
Um ein anderes Ergebnis zu erzielen, muss die ASEAN einen anderen Ansatz wählen. Im September war der damalige Außenminister Malaysias, Saifuddin Abdullah, der erste ASEAN-Vertreter, der sich offen mit Vertretern der oppositionellen Nationalen Einheitsregierung Myanmars traf, die nach dem Putsch von gewählten Gesetzgebern, Vertreter*innen ethnischer Minderheiten und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft gebildet wurde. Der Block sollte diesem Beispiel folgen und sein Engagement auf Vertreter*innen der Zivilgesellschaft ausweiten.
Die ASEAN sollte auch den Druck auf Myanmar verstärken, indem sie sich den internationalen Bemühungen anschließt, der Junta die Deviseneinnahmen und die Möglichkeit für Waffenkäufe zu entziehen, was wiederum das Militär Myanmars schwächen würde. Als ASEAN-Vorsitz für 2023 sollte Indonesien eine Überprüfung der Menschenrechtssituation und der Nichteinhaltung des Fünf-Punkte-Konsenses durch die Junta leiten und eine Suspendierung Myanmars in Erwägung ziehen, um die Verpflichtung des Blocks zu einer „volksorientierten, volkszentrierten ASEAN“ aufrechtzuerhalten.
Menschenrechte können den Weg in die Zukunft weisen – und gestalten
Ein weiteres Jahr, in dem der reale und virtuelle zivilgesellschaftliche Raum auf der ganzen Welt schrumpft, bringt die Erkenntnis, dass die Angriffe auf das Menschenrechtssystem zum Teil auf seine Wirksamkeit zurückzuführen sind – denn indem die Menschenrechtsbewegung Missstände aufdeckt und die Stimmen der Überlebenden und Gefährdeten laut werden lässt, macht sie es menschenrechtsmissachtenden Regierungen schwerer, sich durchzusetzen.
Im Jahr 2022, sechs Wochen nach der umfassenden Invasion in der Ukraine, schlossen die russischen Behörden kurzerhand das Büro von Human Rights Watch in Moskau, das 30 Jahre lang ununterbrochen tätig war, sowie die Büros von mehr als einem Dutzend ausländischer Nichtregierungsorganisationen. Die Schließungen folgten auf ein Jahrzehnt repressiver Gesetze und Maßnahmen, mit denen die russische Regierung die Zivilgesellschaft dezimierte und Hunderte von Aktivist*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Kritiker*innen ins Exil zwang. Der Kreml gibt sich deshalb so viel Mühe, abweichende Meinungen zu unterdrücken, weil diese eine Bedrohung für ihn darstellen. Und hierin liegt eine grundlegende Wahrheit: Wer eifrig daran arbeitet, die Menschenrechte zu unterdrücken, zeigt seine Schwäche, nicht seine Stärke.
Immer wieder erweisen sich die Menschenrechte als ein mächtige Linse, durch die wir die existenziellsten Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, etwa den Klimawandel, betrachten können. Von Pakistan über Nigeria bis Australien ist jeder Winkel der Welt mit einem beinahe ununterbrochenen Zyklus katastrophaler Wetterereignisse konfrontiert, die sich aufgrund des Klimawandels verstärken werden. Hinzu kommen langsam einsetzende Veränderungen wie der Anstieg des Meeresspiegels. Wir blicken auf die Untätigkeit der Regierungen, das schädliche Verhalten der großen Umweltverschmutzer und wir sehen, welchen Preis die Menschen vor Ort hierfür zahlen müssen, wobei bereits marginalisierte Gemeinschaften den höchsten Preis zahlen.
Die untrennbare Verbindung zwischen Mensch und Natur wurde von der UN-Generalversammlung anerkannt, die im vergangenen Jahr die Universalität des Menschenrechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt bestätigte. Angesichts der zerstörerischen Auswirkungen des Klimawandels, die sich weltweit verschärfen, sind die Behörden rechtlich und moralisch verpflichtet, die Industrien zu regulieren, deren Geschäftsmodelle nicht mit dem Schutz der Grundrechte vereinbar sind.
Um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abzuwenden und die Menschenrechtsverletzungen in allen Tätigkeitsbereichen zu beenden, müssen die Regierungen dringend auf einen gerechten und geregelten Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen hinarbeiten und verhindern, dass die Agrarindustrie weiterhin die Wälder der Welt abholzt. Gleichzeitig sollten Regierungen bei ihren Reaktionen auf die bereits unvermeidlichen Klimaextreme und langsam eintretenden Veränderungen dringend die Menschenrechte wahren. Sie sollten die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen wie indigene Völker, Frauen, Kinder, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und in Armut lebende Menschen schützen.
Viele dieser Gruppen sind führend beim Schutz ihrer Lebensweise und ihrer Heimat vor Kohle-, Öl- und Gasunternehmen, die das Wasser verschmutzen, auf das die Menschen zum Kochen, Waschen und Trinken angewiesen sind. Die Aktivitäten dieser Unternehmen führen zum Anstieg des Meeresspiegels, durch den das Land, auf dem die Menschen leben, massiv bedroht wird. Die Einbindung von Gemeinden und Umweltschützer*innen an vorderster Front ist eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, sich gegen umweltschädigende Aktivitäten von Unternehmen und Regierungen zu wehren und wichtige Ökosysteme zu schützen, die zur Bewältigung der Klimakrise erforderlich sind.
Indigene Waldschützer*innen sind von entscheidender Bedeutung für den Schutz des brasilianischen Amazonasgebiets, eines Ökosystems, das durch die Speicherung von Kohlenstoff zur Verlangsamung des Klimawandels beiträgt. Anstatt sie zu unterstützen, ermöglichte die Regierung des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro die illegale Abholzung und schwächte den Schutz der Rechte indigener Völker. Die wahnwitzige Umweltzerstörung während seiner vierjährigen Amtszeit ging Hand in Hand mit schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter Gewalt und Einschüchterung gegen diejenigen, die versuchten, sie zu stoppen.
Brasiliens neu gewählter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat sich verpflichtet, die Abholzung des Amazonasgebiets zu beenden und die Rechte der indigenen Bevölkerung zu schützen. Während seiner letzten beiden Amtszeiten von 2003 bis 2010 ging die Abholzung zwar drastisch zurück, aber seine Regierung förderte auch Staudämme und andere Infrastrukturprojekte mit massiven, negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen im Amazonasgebiet. Ob Präsident Lula seine Zusagen in Sachen Klimaschutz und Menschenrechte einhalten kann, ist für Brasilien und die ganze Welt von entscheidender Bedeutung.
Ein neues internationales Bekenntnis zu Menschenrechten
Das Ausmaß, der Umfang und die Häufigkeit von Menschenrechtskrisen auf der ganzen Welt zeigen die Dringlichkeit eines neuen Handlungsrahmens und Handlungsmodells. Ein Blick auf die größten Herausforderungen und Bedrohungen für die moderne Welt aus einer Menschenrechtsperspektive offenbart nicht nur die Ursachen der Krisen, sondern zeigt auch, wie sie bewältigt werden können.
Jede Regierung ist verpflichtet, die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Nach Jahren vereinzelter und oft halbherziger Bemühungen, um bedrohte Zivilist*innen in Ländern wie Jemen, Afghanistan und Südsudan erinnert uns die weltweite Mobilisierung um die Ukraine an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Verantwortung für die Menschenrechte auf globaler Ebene wahrnehmen. Alle Regierungen sollten denselben Geist der Solidarität in die zahlreichen Menschenrechtskrisen rund um den Globus tragen, und zwar nicht nur, wenn es unmittelbar ihren eigenen Interessen dient.