Die Schlussfolgerung aus der Reihe der Menschenrechtskrisen im Jahr 2022 - von Wladimir Putins gezielten Angriffen auf Zivilist*innen in der Ukraine über Xi Jinpings Freiluftgefängnis für Uigur*innen in China bis hin zu den Taliban, die Millionen von Afghan*innen verhungern lassen – ist offensichtlich: unkontrollierte autoritäre Macht führt zu immensem menschlichen Leid. Das Jahr 2022 hat aber auch eine grundlegende Machtverschiebung in der Welt offenbart. Diese gibt allen betroffenen Regierungen die Möglichkeit, gegen diese Missstände vorzugehen, indem sie das globale Menschenrechtssystem schützen und stärken, insbesondere dann, wenn die Maßnahmen der Großmächte unzureichend oder problematisch sind.
Wir mussten miterleben, wie Staats- und Regierungsoberhäupter auf zynische Weise Menschenrechtsverpflichtungen und die Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen gegen kurzfristige politische Erfolge eingetauscht haben. Das hochtrabende Versprechen des US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden, Saudi-Arabien wegen seiner Menschenrechtslage zu einem „Pariastaat“ zu machen, wurde, kaum, dass er im Amt und mit hohen Gaspreisen konfrontiert war, durch seinen kumpelhaften Fistbump mit Saudi-Arabiens Kronprinz und Premierminister Mohammed Bin Salman ausgehöhlt. Und die Regierung Biden hat trotz ihrer Zusicherungen, Demokratie und Menschenrechten in Asien Vorrang einzuräumen, die Kritik an Missständen und zunehmendem Autoritarismus in Indien, Thailand, den Philippinen und anderswo in der Region aus Sicherheits- und wirtschaftlichen Gründen abgemildert, anstatt den Zusammenhang zwischen all diesen Aspekten anzuerkennen.
Natürlich findet sich diese Art von Doppelmoral nicht nur bei den globalen Supermächten. Pakistan hat zwar die Überwachung der Menschenrechtsverletzungen im mehrheitlich muslimischen Kaschmir durch den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen unterstützt, aber aufgrund seiner engen Beziehungen zu China die Augen verschlossen vor möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Uigur*innen und andere turkstämmige Muslim*innen in Xinjiang. Diese Heuchelei Pakistans ist besonders eklatant, bedenkt man seine Rolle als Koordinator der 57 Mitglieder zählenden Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC).
Menschenrechtskrisen tauchen nicht aus dem Nichts auf. Regierungen, die ihren gesetzlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte im eigenen Land nicht nachkommen, schaffen die Grundlage für Unzufriedenheit und Instabilität und letztlich für eine Krise. Bleiben ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen unkontrolliert und ungeahndet, eskalieren sie und zementieren die Überzeugung, dass Korruption, Zensur, Straffreiheit und Gewalt die wirksamsten Mittel sind, um ans Ziel zu kommen. Werden Menschenrechtsverletzungen ignoriert, so hat das einen hohen Preis, und ein möglicher Dominoeffekt darf hierbei nicht unterschätzt werden.
In einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschieben, sahen wir bei der Zusammenstellung unseres World Report 2023, für den wir die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern untersuchten, in dieser Verschiebung aber auch eine Chance. Jedes Thema muss für sich verstanden und angegangen werden und erfordert Führungsstärke. Jeder Staat, der die Kraft erkennt, die sich aus der Zusammenarbeit mit anderen ergibt, um einen positiven Wandel bei den Menschenrechten zu bewirken, kann führend vorangehen. Es gibt nicht weniger, sondern mehr Raum für Regierungen, sich zu erheben und Aktionspläne zu verabschieden, die die Menschenrechte respektieren.
Es sind neue Koalitionen entstanden und neue Führungsstimmen haben sich erhoben, die diesen Trend weiter ausgestalten und fördern können. Südafrika, Namibia und Indonesien haben den Weg dafür geebnet, dass mehr Regierungen anerkennen, dass die israelischen Behörden durch die Apartheid Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Palästinenser*innen begehen.