(Beirut) – Behörden im Nahen Osten und Nordafrika nehmen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen (LGBT) aufgrund ihrer Online-Aktivitäten in sozialen Medien ins Visier, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Sicherheitskräfte haben LGBT-Personen in sozialen Medien und auf Dating-Plattformen aufgespürt, sie online erpresst, belästigt und gedoxxt und sie zudem auf Grundlage von unrechtmäßig erlangten digitalen Fotos, Chats und ähnlichen Informationen strafrechtlich verfolgt, was gegen das Recht auf Privatsphäre und andere Menschenrechte verstößt.
Der 135-seitige Bericht „‚All This Terror Because of a Photo‘: Digital Targeting and Its Offline Consequences for LGBT People in the Middle East and North Africa“ untersucht den Einsatz von digitalem Targeting durch Sicherheitskräfte und dessen weitreichende Folgen in der realen Welt, etwa willkürliche Inhaftierungen und Folter, in fünf Ländern: Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien. Die Ergebnisse zeigen, wie Sicherheitskräfte gezielt digitales Targeting einsetzen, um Beweise für die strafrechtliche Verfolgung von LGBT-Personen zu sammeln oder solche zu fälschen.
„Die Behörden in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien nutzen Technologien, um LGBT-Personen verfolgen“, sagte Rasha Younes, Expertin für LGBT-Rechte bei Human Rights Watch. „Während digitale Plattformen der LGBT-Community als Sprachrohr dienen, sind sie gleichzeitig zu Werkzeugen für staatliche Repression geworden.“
Human Rights Watch befragte 90 LGBT-Personen, die von digitalem Targeting betroffen sind, sowie 30 Expert*innen, darunter Rechtsanwält*innen und Fachleute für digitale Rechte. Außerdem hat Human Rights Watch Beweise für Angriffe auf LGBT-Personen im Netz untersucht, darunter Videos, Bilder und Drohungen. Unterstützt wurde HRW dabei von Mitgliedern der Coalition for Digital and LGBT Rights: in Ägypten von Masaar und einer LGBT-Rechtsorganisation in Kairo, deren Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird; im Irak von IraQueer und dem Iraqi Network for Social Media (INSM); in Jordanien von Rainbow Street und der Jordan Open Source Association (JOSA); im Libanon von Helem und Social Media Exchange (SMEX); und in Tunesien von der Damj Association.
Human Rights Watch dokumentierte 45 Fälle willkürlicher Verhaftungen, von denen 40 Personen aus der LGBT-Community in Ägypten, Jordanien, Libanon und Tunesien betroffen waren. In allen Fällen durchsuchten die Sicherheitskräfte die Telefone der Betroffenen unter Androhung oder Einsatz von Gewalt, um private digitale Informationen zu sammeln oder sogar selbst zu fälschen, um sie auf dieser Grundlage strafrechtlich verfolgen zu können, so Human Rights Watch.
Human Rights Watch sah Gerichtsakten von 23 Fällen durch, in denen LGBT-Personen aufgrund digitaler Beweise im Rahmen von Gesetzen zur Kriminalisierung von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen, „Anstiftung zur Unzucht“, „Unzucht“, „Prostitution“ und Cyberkriminalität in Ägypten, Jordanien, Libanon und Tunesien strafrechtlich verfolgt wurden. Es stellte sich heraus, dass die meisten der Verfolgten, die Berufung eingelegt hatten, freigesprochen wurden. In fünf Fällen wurden Personen zu Haftstrafen von einem bis drei Jahren verurteilt. Zweiundzwanzig Personen wurden nie angeklagt, saßen aber in Untersuchungshaft. Eine Person musste dabei 52 Tage lang auf einer Polizeistation im Libanon ausharren.
Inhaftierte LGBT-Personen berichteten von zahlreichen Verstößen gegen ihr Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren, darunter die Beschlagnahmung ihrer Telefone durch die Behörden, die Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeistand und die Erzwingung von Geständnissen. Ihnen seien Nahrung und Wasser, Besuche der Familie, Rechtsbeistand und medizinische Versorgung verweigert worden und man habe sie verbal und körperlich angegriffen und sexuell belästigt. Einige seien in Einzelhaft gehalten worden. Transgender-Frauen seien routinemäßig in Männerzellen festgehalten worden, wo sie sexuellen Übergriffen und anderen Misshandlungen ausgesetzt gewesen seien. In einem Fall berichtete eine Transgender-Frau, die in einer ägyptischen Polizeistation festgehalten wurde, dass sie 13 Monate lang wiederholt sexuell misshandelt wurde.
Human Rights Watch dokumentierte 20 Fälle, in denen Sicherheitskräfte aus Ägypten, Irak und Jordanien gefälschte Profile auf Grindr und Facebook erstellten, um sich als LGBT-Personen auszugeben und Mitglieder der Community ins Visier zu nehmen; und 17 Fälle von Erpressung im Internet durch Privatpersonen aus Ägypten, Irak, Jordanien und Libanon auf Grindr, Instagram und Facebook, darunter auch organisierte Banden aus Ägypten und bewaffnete Gruppen aus dem Irak. Die sechs Personen, die den Behörden diese Fälle von Erpressung meldeten, wurden selbst verhaftet.
Human Rights Watch dokumentierte in Jordanien, Libanon und Tunesien 26 Fälle von Belästigung auf Facebook und Instagram, einschließlich Doxxing und Outing. LGBT-Personen berichteten, dass sie daraufhin ihren Arbeitsplatz verloren, Gewalt in der Familie ausgesetzt waren, dass sie gezwungen waren, ihren Wohnsitz und ihre Telefonnummern zu ändern, ihre Konten in den sozialen Medien zu löschen und aus dem Land zu fliehen sowie dass sie unter schweren psychischen Folgen zu leiden hatten. Die meisten von ihnen meldeten der betreffenden digitalen Plattform den Missbrauch, aber keine von ihnen entfernte die Inhalte.
Dass LGBT-Personen im Internet angegriffen werden können, ist nicht zuletzt auch auf ihren unsicheren Rechtsstatus zurückzuführen, so Human Rights Watch. Ohne gesetzlichen Schutz oder eine ausreichenden Regulierung von digitalen Plattformen konnten sowohl Sicherheitskräfte als auch Privatpersonen ungestraft gegen sie vorgehen.
Nach den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte sind Social-Media-Plattformen verpflichtet, die Menschenrechte zu achten, einschließlich des Rechts auf Nichtdiskriminierung, Privatsphäre und Meinungsfreiheit. Digitale Plattformen wie Meta (Facebook, Instagram) und Grindr tun nicht genug, um Nutzer*innen zu schützen, die besonders durch digitales Targeting gefährdet sind, so Human Rights Watch.
Digitale Plattformen sollten verstärkt Inhalte moderieren, insbesondere in arabischer Sprache, indem sie missbräuchliche Inhalte sowie Inhalte, die Nutzer*innen gefährden könnten, umgehend entfernen. Sie sollten eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung durchführen, die vorsieht, potenzielle und tatsächliche gezielte Angriffe auf Personen im Internet zu erkennen, zu verhindern, zu beenden oder Abhilfe zu schaffen und zu prüfen, in welchem Ausmaß digitales Targeting die Menschenrechte potenziell und faktisch verletzt.
Gemäß internationaler und regionaler Menschenrechtsverträge sind Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien verpflichtet, gegen Verletzungen der Rechte von LGBT-Personen vorzugehen. Die fünf Regierungen sollten die Rechte von LGBT-Personen achten und schützen, anstatt ihre Äußerungen zu kriminalisieren und sie online ins Visier zu nehmen, so Human Rights Watch. Sie sollten Gesetze einführen und durchsetzen, die Menschen vor Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität schützen – auch im Internet.
„Missbräuchliches Verhalten gegenüber LGBT-Personen im Internet hat Folgen in der realen Welt, die sich durch ihr gesamtes Leben ziehen – und die ihren Job, ihre psychische Gesundheit und ihre Sicherheit beeinträchtigen können“, erklärte Younes. „Die Behörden in der gesamten MENA-Region sollten aufhören, LGBT-Personen online und offline ins Visier zu nehmen, und die Social-Media-Plattformen sollten sich dafür einsetzen, die negativen Folgen von digitalem Targeting einzudämmen, indem sie LGBT-Personen im Internet besser schützen.“