(Beirut) – Arbeitsmigranten und ihre Familien fordern von der FIFA und den katarischen Behörden Entschädigungen für die Menschenrechtsverletzungen, darunter ungeklärte Todesfälle, die Arbeiter bei der Vorbereitung auf die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022 erlitten haben, so Human Rights Watch heute. Human Rights Watch veröffentlichte im Vorfeld des Turniers, das am 20. November 2022 beginnt, ein sechsminütiges Video, in dem die Arbeiter und ihre Familien sowie Fußballfans aus Nepal zu Wort kommen.
Anders als sonst herrscht bei dieser WM keine ungetrübte Vorfreude im fußballbegeisterten Nepal und in anderen Herkunftsländern von Arbeitsmigranten. Die Menschen aus Nepal, die in dem Video zu sehen sind, und diejenigen aus anderen Ländern, aus denen während der 12-jährigen Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft Arbeiter entsandt wurden, haben große Opfer gebracht, damit dieses Turnier stattfinden kann. Zu sehen sind etwa Eltern, die ihre Kinder jahrelang nicht sehen konnten, weil sie Geld für deren Ausbildung verdienen wollten, sowie Arbeiter, die in der extremen Hitze Katars stundenlang körperliche Arbeit verrichten mussten, und Familien von Arbeitern, die aus ungeklärten Gründen starben. Kshitiz Sigdel, ein begeisterter Fußballfan und Gründer eines Fanclubs in Kathmandu, sagte gegenüber Human Rights Watch: „Arbeitsmigranten aus Nepal sind durch ihre Entsendung nicht nur das Rückgrat der nepalesischen Wirtschaft, sondern auch das der katarischen Wirtschaft.“
„Arbeitsmigranten waren unverzichtbar, um die Fußballweltmeisterschaft 2022 zu ermöglichen. Aber viele Arbeitsmigranten und ihre Familien mussten einen hohen Preis zahlen. Sie brachten nicht nur persönliche Opfer, sondern waren auch mit weitverbreitetem Lohndiebstahl, Verletzungen und Tausenden ungeklärten Todesfällen konfrontiert“, sagte Rothna Begum, Senior Researcher bei Human Rights Watch. „Viele Arbeitsmigranten, ihre Familien und Gemeinden können nicht unbeschwert feiern, was sie aufgebaut haben. Sie fordern die FIFA und Katar auf, Entschädigungen zu leisten für die Menschenrechtsverletzungen an Arbeitern, durch die Familien und Gemeinden in Not und Elend gestürzt wurden.“
Auch Hari kommt in dem Video zu Wort. Um seine Anonymität zu wahren, wurde sein Name geändert. Hari ist seit 14 Jahren Bauarbeiter in Katar und hat auf mehreren Baustellen gearbeitet, unter anderem im Al Janoub-Stadion. Er sagt, dass der Stadtteil Lusail in Doha leer war, als er nach Katar kam. Jetzt stehen dort zahlreiche Hochhäuser. „Wir haben diese Hochhäuser gebaut“, sagt er und fügt hinzu, dass er bei der Arbeit in der extremen Hitze Katars oft „Wasser (Schweiß) aus seinen Schuhen kippen“ musste.
Hari verließ Nepal und zog nach Katar, als sein Sohn gerade 6 Monate alt war. Er hat viele wichtige Momente im Leben seines Sohnes verpasst und ihn in 14 Jahren nur fünfmal gesehen. „Mein Sohn erkannte mich nicht, als ich das erste Mal nach Nepal zurückkehrte“, sagte er. In diesen 14 Jahren hat Hari den dramatischen Wandel Katars miterlebt und mitgestaltet, der es ihm ermöglichte, seine Kinder, also auch seinen Sohn, besser zu versorgen. Sein Sohn träumt davon, später Profifußballer zu werden. Er ist ein großer Fan der portugiesischen Nationalmannschaft.
Ram Pukar Sahani, der selbst früher als Arbeitsmigrant in Katar war, erfuhr durch einen Freund vom Tod seines Vaters in Katar. Ungläubig rief er die Nummer seines Vaters in Katar an. Ein Freund seines Vaters meldete sich und bestätigte die erschütternde Nachricht. „Ich ließ das Telefon fallen und mir wurde schwarz vor Augen“, erinnert er sich unter Tränen. Sein Vater sei auf einer Baustelle in seiner Arbeitskleidung gestorben, habe aber keinen Anspruch auf Entschädigung, weil auf seinem Totenschein „akutes Herzversagen aufgrund eines natürlichen Todes“ stehe.
Nach dem katarischen Arbeitsrecht gelten Todesfälle, die, ohne dass sie angemessen untersucht wurden, auf „natürliche Ursachen“ zurückgeführt werden, , nicht als arbeitsbedingt und werden nicht entschädigt. Wie die Familien vieler anderer Arbeiter, die über den Tod ihrer Angehörigen im Unklaren gelassen wurden, sagt er: „Wie kann jemand, der so gesund und stark ist, einfach sterben? Ich konnte es nicht glauben.“
Hinter jeder Familie, die bereit ist, ihre Verlustgeschichte öffentlich zu erzählen, stehen zahlreiche weitere, die im Stillen mit ähnlich katastrophalen Verlusten fertig werden müssen.
Viele Arbeiter erlebten zügellosen Lohndiebstahl. Ein Arbeiter, der sich trotz Angst vor Repressalien an einem Streik gegen unbezahlte Löhne beteiligt hatte, sagte: „Es gibt zwei Dinge, die wir brauchen: Regelmäßige Arbeit und regelmäßige Bezahlung für die geleistete Arbeit. Leider ist beides in Katar nicht gewährleistet, vor allem wenn man einen schlechten Arbeitgeber erwischt.“
Als Reaktion auf solche Berichte hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) berichtet, dass die katarische Regierung den Opfern von Lohndiebstahl über den Unterstützungs- und Versicherungsfonds für Arbeitnehmer 320 Millionen US-Dollar erstattet hat. Der Fonds läuft jedoch erst seit 2020. Für viele andere Arbeitnehmer endete ihre Reise abrupt mit unbezahlten Löhnen für körperlich anstrengende Arbeit in extremer Hitze.
Arbeitgeber und Vermittlungsagenturen in Katar konnten die Not der Arbeitsmigranten und die Chancenlosigkeit in ihren Heimatländern durch das Kafala-System, das den Arbeitgebern eine exzessive Kontrolle über die Arbeitnehmer ermöglicht, missbrauchen und ausnutzen, so Human Rights Watch. In einem der reichsten Länder der Welt lebten Arbeitsmigranten unter ärmlichen Bedingungen in überfüllten Unterkünften. Obwohl sie die milliardenschwere, hochmoderne Infrastruktur errichtet haben, hat die Mehrheit der schlecht bezahlten Arbeitsmigranten selbst für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar einen hohen Preis gezahlt. Und trotz des modernen Gesundheitssystems in Katar wurden Familien in Asien und Afrika darüber im Unklaren gelassen, woran ihre Angehörigen in Katar gestorben sind.
Die katarischen Behörden haben wichtige Arbeitsrechts- und Kafala-Reformen auf den Weg gebracht, aber viele Arbeitsmigranten haben davon nicht profitiert, entweder weil die Reformen zu spät eingeführt oder schlecht umgesetzt wurden oder weil die Initiativen des Obersten Komitees, der für die Vorbereitung der Weltmeisterschaft zuständigen Regierungsstelle, zu eng gefasst waren. Diejenigen, die von den Reformen nicht berücksichtigt wurden, müssen finanziell entschädigt werden, so Human Rights Watch.
Basanta Sunuwar, ein Nepali, der sechs Jahre lang in Katar gearbeitet hat, beschreibt sich selbst als eingefleischten Deutschland-Fan und Gründer eines Fußball-Fanclubs. Er sagt in dem Video, dass er sich selbst als einen der glücklicheren Arbeitsmigranten in Katar betrachtet, und setzt sich nachdrücklich für den Entschädigungsfonds für nicht behobene Missstände ein.
„Sie haben ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt, und im Gegenzug sollten sie ihre Rechte bekommen“, sagt er. „Welches Recht haben sie jetzt, da sie ihr Leben verloren haben? Es braucht eine Entschädigung. Das ist meine bescheidene Bitte an die FIFA und Katar, als Fußballfan“.
Fußballfan Sigdel sagt: „Warum sind sie nicht bereit, [Entschädigungen] zu zahlen? Es sollte keine Frage sein, ob sie zahlen oder nicht. Es muss gezahlt werden.“
Die FIFA, die für die WM Einnahmen in Milliardenhöhe erwartet und für die Einhaltung der Menschenrechte verantwortlich ist, hat sich nicht verpflichtet, einen Entschädigungsfonds einzurichten. Stattdessen schimpfte sie über Fußballverbände und Spieler*innen, welche die FIFA aufgefordert hatten, die Forderung der Arbeitsmigranten nach Einrichtung eines Entschädigungsfonds zu unterstützen, und sagte ihnen, sie sollten sich „auf den Sport konzentrieren“. Die katarischen Behörden lehnen den Fonds ab, verfügen aber über Daten und bestehende Mechanismen, die zum Auf- und Ausbau von Systemen genutzt werden könnten, um Abhilfe für die Missstände zu schaffen.
„Eine Woche vor der Weltmeisterschaft ist die Strategie der FIFA, den Kopf in den Sand zu stecken und auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, dass die Begeisterung für die WM die Menschenrechtsverletzungen ausblendet. Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt“, so Page. „Für die Fans, vor allem aus den Herkunftsländern der Arbeitsmigranten, wird das Turnier eine Erinnerung an den hohen Preis dafür sein. Die einzige Möglichkeit für die FIFA und die katarischen Behörden, ein positives Vermächtnis zu hinterlassen, besteht darin, sich zu einem Fonds zu verpflichten, um die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aufzuarbeiten.“