(São Paulo) – Der gewählte brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sollte dem Schutz der Menschenrechte Priorität einräumen und die schweren Rückschritte während der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro rückgängig machen.
Der von seinen Landsleuten meist nur Lula genannte Ex-Präsident setzte sich bei der Stichwahl am 30. Oktober 2022 mit 50,9 Prozent gegen Amtsinhaber Bolsonaro durch, der laut Daten der Obersten Wahlbehörde 49,1 Prozent erhielt. Der knappe Vorsprung entspricht 2,1 Millionen Stimmen. Die Zahl der Nichtwähler sank gegenüber 2018 (21,3 Prozent) auf 20,6 Prozent.
Obwohl die Wahlbehörden Lula zum offiziellen Sieger der Wahl erklärten und das Wahlergebnis in vielen Teilen der Welt, darunter in den USA, der Europäischen Union, Argentinien, Ecuador und anderen Ländern, schnell anerkannt wurde, hatte sich der amtierende Präsident Bolsonaro bisher noch nicht öffentlich zu den Wahlergebnissen geäußert.
„Präsident Bolsonaro war eine Katastrophe für die Menschenrechte, sowohl im Inland als auch im Ausland“, sagte Juanita Goebertus, Amerika-Direktorin bei Human Rights Watch. „Der gewählte Präsident Lula sollte einen Maßnahmenplan erarbeiten, um die schädliche Politik von Präsident Bolsonaro rückgängig zu machen, etwa in den Bereichen öffentliche Sicherheit und Umwelt sowie bezogen auf die Rechte von Frauen, LGBT-Personen und Indigene. Er sollte direkt bei Amtsantritt am 1. Januar 2023 mit der Umsetzung dieses Plans beginnen.“
In seiner ersten öffentlichen Erklärung nach dem Wahlsieg rief Lula zur nationalen Einheit und zum Dialog zwischen Exekutive, Kongress und Judikative auf. Er verpflichtete sich, Hunger, Armut, Gewalt gegen Frauen und indigene Völker, Rassismus und die Abholzung des Amazonas zu bekämpfen.
Lula sollte daran arbeiten, den Schaden zu beheben, den Präsident Bolsonaro dem demokratischen System und der Rechtsstaatlichkeit zugefügt hat, und die Unabhängigkeit der Justiz stärken, so Human Rights Watch. Er sollte für eine unabhängige Staatsanwaltschaft sorgen. Bis zu Bolsonaros Amtszeit war diese durch die Tradition garantiert, den*die Generalstaatsanwält*in aus einer Liste von drei Kandidat*innen auszuwählen, die von den Staatsanwält*innen des gesamten Landes gewählt wurden. Präsident Bolsonaro brach mit dieser Tradition, indem er einen Staatsanwalt auswählte, der nicht auf der Liste stand. Dieser Generalstaatsanwalt, der eigentlich unabhängig sein sollte, ist weithin dafür kritisiert worden, dass er Entscheidungen zu seinen Gunsten zu treffen schien und sich nicht dem Kampf gegen die Korruption verpflichtet sah.
Der gewählte Präsident Lula sollte für vollständige Transparenz bei allen Ausgaben des Kongresses sorgen und den von Präsident Bolsonaro eingeführten sogenannten „Geheimhaushalt“ (Orcamento Secreto) auflösen, der es dem Kongress ermöglichte, praktisch ohne jede Aufsicht über Milliarden von US-Dollar an öffentlichen Einnahmen zu verfügen.
Eine weitere Aufgabe des neu gewählten Präsidenten muss sein, den erheblichen Lernrückstand während der Corona-Pandemie aufzuholen. Dieser war durch das Versäumnis der Regierung Bolsonaro, auf den Bildungsnotstand zu reagieren, noch verschlimmert worden. Davon sind vor allem Schwarze und indigene Kinder sowie Kinder aus einkommensschwachen Haushalten betroffen. Außerdem sollte sich Lula für eine umfassende Sexualerziehung einsetzen, die Bolsonaro strikt abgelehnt hatte.
Weiterhin sollte Lula Maßnahmen zur Verringerung der Ernährungsunsicherheit ergreifen, die laut dem brasilianischen Forschungsnetzwerk für Ernährungssouveränität und -sicherheit zwischen 2018, dem Jahr vor dem Amtsantritt von Präsident Bolsonaro, und 2022 um etwa 60 Prozent gestiegen ist. Etwa 33 Millionen Menschen leiden unter akuter Ernährungsunsicherheit, so das Netzwerk.
In seiner dritten Amtszeit sollte Lula auch andere schwere Menschenrechtsprobleme angehen, die Bolsonaros Regierung ignoriert oder sogar verschlimmert hat. Er sollte die Schäden rückgängig machen, die den Behörden zugefügt wurden, die mit dem Schutz der Umwelt und der Rechte indigener Völker betraut sind. Dazu sollten die Verantwortlichen für die Zerstörung des Amazonasgebiets und die Bedrohungen und Angriffe auf Waldschützer*innen strafrechtlich verfolgt werden. Lulas Regierung sollte auch die Ambitionen des brasilianischen Klimaaktionsplans im Einklang mit dem Pariser Abkommen erhöhen.
Der neue Präsident Lula sollte die von der Regierung Bolsonaro errichteten Hindernisse für den Zugang zu legalen Abtreibungen abbauen und sich in internationalen Foren für das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit einsetzen. In Absprache mit der Zivilgesellschaft und den betroffenen Gemeinschaften sollte Lula außerdem einen Plan zur Eindämmung von tödlicher Polizeigewalt im ganzen Land entwickeln.
Die Umkehrung von Bolsonaros schädlicher Politik ist ein sehr wichtiger Schritt nach vorn, doch sind noch weitere Maßnahmen zur Wahrung der Menschenrechte erforderlich, so Human Rights Watch. Dazu gehören unter anderem die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und LGBT-Personen, die Entkriminalisierung von Abtreibung, die Bekämpfung von systemischem Rassismus und Ungleichheit, die Entwicklung Community-basierter Dienste für Menschen mit Behinderungen und die Verbesserung der Haftbedingungen.
Der gewählte Präsident Lula sollte eine Politik verfolgen, die die Menschenrechte ohne jegliche Diskriminierung und ohne Stigmatisierung politisch Andersdenkender achtet, die Polarisierung in der Gesellschaft verringert sowie eine offene und freie öffentliche Debatte fördert.
Eine Regierung unter Lula sollte auch im Bereich der Außenpolitik darauf hinwirken, dass Menschenrechte weltweit konsequent verteidigt werden, und zwar unabhängig von der Ideologie der jeweiligen Regierung, so Human Rights Watch. So sollte die künftige Regierung beispielsweise die von Regierungen in der Region begangenen Menschenrechtsverletzungen verurteilen, etwa in El Salvador, Venezuela, Nicaragua und Kuba. Sie sollte auch die von China verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Uigur*innen und anderen turksprachigen Muslim*innen sowie die in Israel begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Apartheid und der Verfolgung von Millionen von Palästinenser*innen anprangern. Nicht zuletzt sollte Lula auch gründliche und unabhängige Untersuchungen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine unterstützen.
Ein weiterer prioritärer Bereich auf Lulas Agenda sollte die Stärkung des interamerikanischen Menschenrechtssystems sein.
„Der gewählte Präsident Lula sollte eine Regierung anführen, die nach fast vier Jahren wiederholter Angriffe gegen Justiz- und Wahlbehörden sowie gegen Reporter, insbesondere Reporterinnen, durch Präsident Bolsonaro die demokratischen Grundsätze und die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellt“, so Goebertus. „Der gewählte Präsident Lula sollte die Menschenrechte in den Mittelpunkt seiner Politik im In- und Ausland stellen und die Rechte aller Menschen verteidigen – ohne Ausnahmen. Das wäre eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik Bolsonaros.“