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Zwei Frauen und ein Kind kauern in Schlafsäcken auf dem Waldboden, nachdem sie am 6. Oktober 2021 die polnisch-weißrussische Grenze bei Michalowo überquert haben. © 2021 Maciej Luczniewski/NurPhoto via AP © 2021 Maciej Luczniewski/NurPhoto via AP

(Brüssel, 24. November 2021) – Die Krise an der belarussisch-polnischen Grenze führt zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen und Asylbewerber*innen durch beide Regierungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 26-seitige Bericht „‚Die Here or Go to Poland‘: Belarus’ and Poland’s Shared Responsibility for Border Abuses“ dokumentiert schwere Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten der Grenze. Menschen, die an der belarussischen Grenze zu Polen festsaßen, berichteten, dass sie von polnischen Grenzschutzbeamten mitunter gewaltsam nach Belarus zurückgedrängt wurden, obwohl sie um Asyl baten. Auf der belarussischen Seite waren Berichte über Gewalt, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Nötigung durch belarussische Grenzschutzbeamte an der Tagesordnung.

„Während Belarus diese Situation ohne Rücksicht auf die Folgen für die Menschen herbeiführte, ist Polen mitverantwortlich für das akute Leid in der Grenzregion“, sagte Lydia Gall, leitende Forscherin der Europa- und Zentralasien-Abteilung bei Human Rights Watch. „Männer, Frauen und Kinder werden seit Tagen oder Wochen bei eisigem Wetter hin und zurück über die Grenze getrieben und benötigen dringend humanitäre Hilfe, die auf beiden Seiten blockiert wird.“

Human Rights Watch reiste im Oktober 2021 in beide Länder und führte ausführliche Interviews mit 19 Personen, darunter alleinreisende Männer, Familien mit Kindern und Frauen, die allein unterwegs waren.

Die Menschen, die entweder auf der belarussischen Seite gefangen, auf der polnischen Seite gestrandet oder verloren waren, erzählten erschütternde Geschichten, wie sie bei eisigen Temperaturen tagelang oder sogar wochenlang ohne Nahrung und Wasser durch Wälder, Sümpfe, Moore und Flüsse stapften. Einige sagten, sie seien gezwungen gewesen, Sumpfwasser zu trinken oder Regenwasser in Blättern aufzusammeln, um es zu trinken. Mindestens 13 Menschen sind an den Folgen der unmenschlichen Bedingungen gestorben, darunter ein 1-jähriger syrischer Junge.

Ein 35-jähriger Mann aus der Demokratischen Republik Kongo, der mit seiner Frau und drei Kindern unter 7 Jahren unterwegs war, erklärte, dass seine Familie im Oktober zweimal von polnischen Grenzschutzbeamten zurückgedrängt worden war. Beim zweiten Vorfall habe er die polnischen Beamten um Asyl gebeten, aber sie hätten ihm nicht zugehört: „Sie sagten: ‚Es gibt kein Asyl, es gibt nichts, geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!‘ Sie [verfrachteten uns in Transporter] und zwangen uns, zurück nach Belarus zu gehen, in die neutrale Zone.“

Die Auseinandersetzungen am Grenzübergang Kuźnica-Bruzgi Mitte November, wo Tausende von Menschen festsaßen, ist der Höhepunkt der Entwicklungen seit Mai letzten Jahres, als Belarus ein Ryanair-Flugzeug zur Landung zwang, um einen Passagier festzunehmen. Seine Verhaftung löste Sanktionen der Europäischen Union gegen Belarus aus, worauf der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit der Ankündigung reagierte, die belarussische Grenze für Migrant*innen zu öffnen, indem er die Visaerteilung erleichterte.

Seit August sind Tausende von Menschen, vor allem aus Syrien, dem Irak und dem Jemen, in die belarussische Hauptstadt Minsk gereist, und zwar über im Nahen Osten ansässige Reiseveranstalter, die ihnen Falschinformationen vermittelten, nämlich dass sie problemlos in die EU einreisen könnten.

Drei Personen berichteten Human Rights Watch, dass polnische Grenzwachen ihre Familien, darunter auch Eltern von ihren Kindern, trennten, um alle, die medizinische Hilfe benötigten, ins Krankenhaus zu bringen. Die anderen Familienmitglieder schickten sie zurück nach Belarus. Eine syrische Frau, die nach Ansicht der polnischen Grenzwachen medizinisch versorgt werden musste, wurde Ende Oktober von ihrem fünfjährigen Sohn getrennt. Er wurde zusammen mit anderen Familienmitgliedern nach Belarus zurückgedrängt. Seit der Trennung in Polen hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie.

In der Antwort auf ein Schreiben von Human Rights Watch bestritten die polnischen Behörden, dass es zu Pushbacks, Familientrennungen oder der Ablehnung von Asylanträgen gekommen sei. Unter Berufung auf eine kürzlich erfolgte Gesetzesänderung in Polen erklärten sie jedoch, dass der Grenzschutz befugt sei, Personen, die die Grenze illegal überquert haben, unverzüglich zurückzuschicken. Bis zum 16. November 2021 hätten die Grenzschutzbeamten in diesem Jahr 29.921 Personen am illegalen Grenzübertritt gehindert.

Nachdem sie von polnischen Grenzschützern gewaltsam zurückgedrängt worden seien, hätten belarussische Grenzsoldaten sie in „Sammelstellen“ festgehalten und misshandelt, gaben die Befragten an. In solchen „Sammelstellen“ unter freiem Himmel wurden Migrant*innen zusammengedrängt und gefangen gehalten – ohne Nahrung, Wasser oder Unterkunft. Außerdem wurden sie daran gehindert, nach Minsk oder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Auf die Bitte von Human Rights Watch diese Erkenntnisse zu kommentieren, haben die belarussischen Behörden bisher nicht reagiert.

Bis zum 18. November schliefen Tausende von Menschen auf der belarussischen Seite in einem provisorischen Lager in Bruzgi, einem der wichtigsten Grenzübergänge. Die belarussischen Behörden lösten das Lager auf und brachten Berichten zufolge zumindest einen Teil der Menschen in einem nahe gelegenen Lagerhaus unter. Die Situation und der Verbleib derjenigen, die sich in dem provisorischen Lager befanden, ist jedoch weiter unklar.

Die belarussischen und polnischen Behörden haben eine Verpflichtung, weitere Todesfälle zu verhindern, indem sie den Menschen, die im Grenzgebiet festsitzen, einen geregelten Zugang zu humanitärer Hilfe ermöglichen, so Human Rights Watch. Beide Länder sollten außerdem sofort die gegenseitigen Pushbacks einstellen und unabhängigen Beobachter*innen, einschließlich Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen, den Zugang zu den derzeit gesperrten Grenzgebieten ermöglichen. Im August und September wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen an, den Menschen an der Grenze Nahrung, Wasser, Kleidung, angemessene medizinische Versorgung und wenn möglich eine vorübergehende Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Belarus hingegen fällt nicht in die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Die Misshandlung von Menschen an der belarussischen Grenze kommt mindestens einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung gleich und kann in einigen Fällen Folter darstellen, was einen Verstoß gegen die internationalen rechtlichen Verpflichtungen von Belarus darstellt. Die Behörden sollten die missbräuchlichen Praktiken unverzüglich einstellen und die Verantwortlichen für die Misshandlungen zur Rechenschaft ziehen.

Die Pushbacks des polnischen Grenzschutzes verstoßen gegen das Recht auf Asyl nach EU-Recht, einschließlich der EU-Charta der Grundrechte. Sie bergen die Gefahr einer Kettenabschiebung, die gegen das internationale Flüchtlingsrecht verstößt, sowie die Gefahr, dass Menschen unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen ausgesetzt werden, was einen Verstoß gegen polnisches und EU-Recht darstellt.

Die Europäische Kommission hat es versäumt, öffentlich über die Verantwortung Polens für die Übergriffe und die menschliche Krise an seiner Grenze zu sprechen. Sie hat Polen nicht unmissverständlich aufgefordert, Medien und humanitäre Organisationen nicht länger daran zu hindern, die Gebieten zu betreten, in denen die Übergriffe stattfinden.

„Die Europäische Kommission sollte sich mit den Opfern auf beiden Seiten der Grenze, die leiden und sterben, solidarisch zeigen“, sagte Gall. „Belarus mag die Krise herbeigeführt haben, aber das entbindet Polen und die EU-Institutionen nicht von ihren Menschenrechtsverpflichtungen. Brüssel sollte Warschau dazu drängen, den Schutz von Menschenleben in den Mittelpunkt seiner Maßnahmen zu stellen.“

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