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Polen: Untergraben der Rechtsstaatlichkeit schadet Frauen und LGBT-Personen

EU muss Institutionen schützen und Rechte verteidigen

Demonstrant*innen mit Symbol des Frauenstreiks während eines Protests gegen die Aushöhlung der Rechte von Frauen in Polen. Warschau, 28. November, 2022 © 2022 Photo by Maciej Luczniewski/NurPhoto via AP

(Budapest) – Die anhaltenden Angriffe der polnischen Regierung auf die Rechtsstaatlichkeit unterminieren die Rechte von Frauen und LGBT-Personen und machen ein entschiedeneres Handeln der Europäischen Union erforderlich.

Seit die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 in Polen die Regierung übernahm, hat sie rechtstaatliche Prinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit bewusst untergraben. Es kam wiederholt zu Angriffen auf die Rechte von Frauen und LGBT-Personen. Unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen, Aktivist*innen und diejenigen, die gegen die Politik der PiS protestieren, werden zum Schweigen gebracht, nicht selten auch auf juristischem Wege.

„Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen schwächt demokratische Institutionen und beeinträchtigt gravierend den Schutz der Rechte von Menschen, einschließlich Frauen und LGBT-Personen“, sagte Lydia Gall, Expertin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Europäische Union muss ihre Verantwortung gegenüber den Menschen in Polen ernst nehmen und sich verstärkt bemühen, den verheerenden Angriffen der polnischen Regierung auf die Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu setzen.“

Kontinuierliche Recherchen von Human Rights Watch seit 2020 zeigen, wie sich die Aushöhlung des Rechtsstaats durch die polnische Regierung auf die Bevölkerung auswirkt und wie Gerichte und das Justizsystem gezielt politisch instrumentalisiert werden, um die Rechte von Frauen, Mädchen und LGBT-Personen zu untergraben. Im November 2022 informierte Human Rights Watch das Justiz- und das Innenministerium in Polen in einem Schreiben über seine Bedenken und bat um eine entsprechende Stellungnahme. Eine Antwort ist bisher ausgeblieben.

Human Rights Watch befragte vier LGBT-Aktivist*innen und -Organisationen, elf Vertreter*innen von Frauenrechtsorganisationen in Polen sowie sechs LGBT-Personen, die persönlich von der Anti-LGBT-Kampagne der Regierung betroffen waren.

Die feindselige Haltung gegenüber LGBT-Personen fand 2019 ihren Höhepunkt, als über 90 regionale und kommunale Behörden sogenannte LGBT-freie Zonen einrichteten oder die von der Regierung unterstützte „Familien-Charta“ unterzeichneten, die den Ausschluss von LGBT-Personen aus der polnischen Gesellschaft fordert.

Obgleich Polen ohnehin eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in ganz Europa hatte, verbot das polnische Verfassungsgericht, das die PiS-Regierung mit neuen Posten besetzt hatte, im Oktober 2020 faktisch den Zugang zu legalen Abtreibungen, so dass nun viele Frauen und Mädchen gezwungen sind, für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu gehen.

Im Oktober berichtete die Gruppe „Abortion Without Borders“, dass die Zahl der Frauen und Mädchen, die in Polen Unterstützung bei einem Schwangerschaftsabbruch wünschen, zwischen Oktober 2021 und Oktober 2022 stark angestiegen ist. Aktivist*innen beschrieben, wie geschockt und verzweifelt sich Frauen und Mädchen nach der neuen rechtlichen Lage zeigten, da sie nun gezwungen sein könnten, ungewollte Schwangerschaften auszutragen. In vielen Fällen konnten die Aktivist*innen Frauen bei einer Abtreibung unterstützen – allerdings oft unter schwierigen Umständen, etwa Reisen ins Ausland.

Es sind mindestens fünf Fälle bekannt, bei denen Frauen starben, weil Ärzt*innen trotz Komplikationen bei der Schwangerschaft und einer Gefahr für Gesundheit und Leben der Mutter untätig blieben.

Justyna Wydrzyńska von der Gruppe „Abortion Dream Team“ ist die erste Aktivistin in Europa, die sich einem Strafverfahren stellen muss, weil sie Tabletten für eine Abtreibung bereitgestellt hatte. Ihr werden die Unterstützung bei einem Schwangerschaftsabbruch sowie die nicht-autorisierte, illegale „Vermarktung“ von Medikamenten vorgeworfen. Die Anhörung in ihrem Fall wurde auf Januar 2023 verschoben.

Seit der Machtübernahme der Partei Recht und Gerechtigkeit in Polen werden LGBT-Aktivist*innen wegen ihres friedlichen Engagements von den Behörden unter Druck gesetzt, verhaftet oder strafrechtlich verfolgt, zum Teil unter dem Vorwurf der Blasphemie. LGBT-Aktivist*innen berichteten auch, dass lokale Behörden sogenannte strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung (SLAPPs) gegen sie anstrengen, um ihre Arbeit zu behindern und sie zum Schweigen zu bringen.

Diese Maßnahmen untergraben nicht nur eine eigenständige Zivilgesellschaft, was einen klaren Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellt, sondern haben auch zu verstärkter LGBT-Feindlichkeit im Land beigetragen.

Bart Staszewski, ein führender polnischer LGBT-Aktivist, berichtete im Juni 2021 Human Rights Watch gegenüber, dass er der Polizei wiederholt Drohungen gegen ihn, darunter auch Morddrohungen, gemeldet habe, dass aber keine ernsthaften Schritte zur Untersuchung unternommen worden seien. Die Drohungen folgten auf seine Kampagne „Atlas des Hasses“, eine interaktive Website, die alle LGBT-freien Zonen in Polen auflistet.

Die Instrumentalisierung des polnischen Verfassungsgerichts, um die politische Agenda der Regierung zur Unterminierung von Rechten voranzutreiben, endete nicht beim Abtreibungsverbot, so Human Rights Watch. Die Regierung forderte das Gericht zudem in den Jahren 2020 und 2021 auf, darüber zu entscheiden, ob das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die die Rechte in den Mitgliedstaaten des Europarats schützen, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Damit versucht Polen, gezielt seinen Austritt aus der Istanbul-Konvention zu rechtfertigen und sich über rechtskräftige Urteile der EMRK hinwegzusetzen. Im März erklärte das Gericht die EMRK für teilweise unvereinbar mit der polnischen Verfassung.

Die EU-Institutionen haben die Pflicht, Polen für die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien, die das Leben von Frauen, Mädchen und LGBT-Personen beeinträchtigt hat, zur Rechenschaft zu ziehen, so Human Rights Watch. Polen sollte den Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen gewährleisten und die Angriffe auf und die Verfolgung von LGBT- und Frauenrechtsaktivist*innen einstellen.

Das Europäische Parlament hat sich gegen Polens Entscheidung für ein Abtreibungsverbot und gegen die Ankündigung des Landes, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, ausgesprochen. Im September 2021 drohte die EU-Kommission fünf polnischen Regionen, die sich zu LGBT-freien Zonen erklärt haben, mit einem Stopp der Auszahlung von EU-Mitteln, woraufhin vier Regionen ihren Status als LGBT-freie Zone wieder aufhoben. Im Juli 2021 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen im Zusammenhang mit der Ausrufung LGBT-freier Zonen ein. Allerdings haben es die EU-Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten versäumt, sich auch der Rückschritte hinsichtlich der Rechte von Frauen anzunehmen. Zwar kritisierte die für Gleichstellung zuständige EU-Kommissarin das Urteil des Verfassungsgerichts zum De-facto-Abtreibungsverbot im November 2021, erklärte jedoch, dass die EU nicht befugt sei, sich im Bereich der reproduktiven Rechte einzumischen.

Die EU-Kommission sollte Vertragsverletzungsverfahren einleiten oder bereits laufende Verfahren ausweiten, um der Aushöhlung rechtstaatlicher Prinzipien, etwa des Schutzes der Rechte von Frauen und LGBT-Personen, Einhalt zu gebieten. Sie sollte auch ihren begründeten Vorschlag vom Dezember 2017 zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags, ein Verfahren zum Schutz der Grundwerte der EU, auf alle nach 2017 ergriffenen Maßnahmen ausweiten. Dazu zählt, zu verhindern, dass ein instrumentalisiertes polnisches Verfassungsgericht Frauenrechte sowie Gesetze und politische Maßnahmen untergräbt, die einen Angriff auf die Grundwerte der EU wie Nichtdiskriminierung und Toleranz darstellen.

Die EU-Kommission sollte politische und juristische Angriffe auf Frauenrechts- und LGBT-Aktivist*innen und -Organisationen in Polen öffentlich als Verstöße gegen die EU-Werte und als Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit verurteilen. Dasselbe gilt für die Unterstützung der Regierung für solche Angriffe ebenso wie ihr Versäumnis, solche Angriffe anzuprangern.

Der EU-Rat sollte die Untersuchung im Artikel-7-Verfahren wegen der potenziellen Gefahr, die von der polnischen Regierung für die Werte der EU ausgeht, ausweiten. Insbesondere sollte er spezifische Empfehlungen zum Schutz rechtsstaatlicher Prinzipien abgeben und eine Abstimmung abhalten, um festzustellen, dass eine eindeutige Gefahr für eine schwerwiegende Verletzung der EU-Werte in Polen besteht. Schweden, das ab Januar 2023 für sechs Monate die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird, sollte diese Bemühungen anführen.

„EU-Institutionen sollten das Verfahren nach Artikel 7 vorantreiben und ihre rechtlichen Durchsetzungsinstrumente nutzen, um die Rechte der Menschen zu schützen, die von Polens Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit betroffen sind“, so Gall. „Es kann nicht sein, dass es Frauen im Jahr 2022 in einem EU-Mitgliedstaat verwehrt wird, eine Schwangerschaft abzubrechen. LGBT-Personen sollten nicht angefeindet werden, nur weil sie so sind, wie sie sind. Und sie sollten auch keine Strafen fürchten müssen, wenn sie für ihre Rechte eintreten.“

Correction

12/15/2022: The text has been changed to reflect the fact that the threats against Staszewski are connected to the Atlas of Hate campaign which involves other activists, and his photo project.

The paragraph about the process of referring the abortion ban the Constitutional Tribunal has been changed to address an editing error. In fact, the citizen’s initiatives triggered the government attempts to pass similar legislation in 2016 and 2019.

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