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Wähler*innen wurden mit Wahlkampfbotschaften bombardiert, darunter "szavazz!", was auf Ungarisch "Geh wählen!" bedeutet. © 2022 Brian Stauffer for Human Rights Watch

(Brussels) – Der Missbrauch von personenbezogenen Daten durch die ungarische Regierung während des Wahlkampfs 2022 hat die Privatsphäre der Bürger*innen untergraben und eine bereits unfaire politische Ausgangslage weiter zugunsten der Regierungspartei Fidesz verzerrt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

In dem 83-seitigen Bericht „Trapped in a Web: The Exploitation of Personal Data in Hungary’s 2022 Elections“ wird die datenbasierte Kampagne von Fidesz zu den Wahlen am 3. April 2022 in Ungarn untersucht, die der Partei und ihrem Premierminister Viktor Orbán die vierte Amtszeit in Folge bescherte. Human Rights Watch fand heraus, dass die Regierung personenbezogene Daten, die Bürger*innen bei der Beantragung von Versorgungsleistungen angegeben hatten, zweckentfremdete, um ihnen Informationen zur Wahlkampagne von Fidesz zu schicken. Damit verwischte die Regierung die Trennlinien zwischen staatlichen Ressourcen und denen der Regierungspartei, wozu auch personenbezogene Daten gehören. Zudem führte die Besetzung zentraler Institutionen mit regierungstreuem Personal zu einer selektiven Durchsetzung von Rechtsvorschriften, was Fidesz zusätzlich zum Vorteil gereichte.

„Daten zu nutzen, die Menschen zum Abruf öffentlicher Leistungen angegeben hatten, um sie mit politischer Kampagnenwerbung zu bombardieren, ist ein Vertrauensbruch und Machtmissbrauch“, sagte Deborah Brown, leitende Forscherin für digitale Rechte bei Human Rights Watch. „Die ungarische Regierung muss damit aufhören, personenbezogene Daten für politische Zwecke zu missbrauchen, und zudem für faire Bedingungen bei Wahlen sorgen.“

Human Rights Watch befragte Fachleute aus den Bereichen Datenschutz, Datensicherheit, Integrität von Wahlen und politische Kampagnen, Vertreter*innen von Parteien, Unternehmen, die Tools für datenbasierte Kampagnen bereitstellen, sowie Personen, deren Daten durch politische Kampagnen missbraucht wurden. Human Rights Watch hat zudem eine technische Analyse der Websites von Partei und Wahlkampagne durchgeführt, um zu ermitteln, wie Nutzerdaten verwendet wurden.

Human Rights Watch kam dabei zu dem Schluss, dass die Regierung Daten, die Bürger*innen angegeben hatten, um sich etwa für eine Covid-19-Impfung zu registrieren, Steuernachlässe zu beantragen oder die erforderliche Mitgliedschaft in einem beruflichen Verband abzuschließen, dafür genutzt hatte, politische Botschaften der Fidesz-Kampagne zu verbreiten. Beispielsweise erhielten Personen, die sich auf einer Regierungswebsite für eine Covid-19-Impfung anmeldeten, Wahlkampfbotschaften der Regierungspartei für die anstehenden Wahlen.

Die Wahlen von 2022 fanden statt, nachdem das Orbán-Regime 12 Jahre an der Macht war und in dieser Zeit die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, öffentliche Institutionen maßgeblich beeinflusst, die Kontrolle über die Medien übernommen, zivilgesellschaftliche Aktivitäten kriminalisiert und Minderheiten sowie besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen verteufelt hat.

Ungarn unterliegt gemäß regionalem und internationalem Recht der Verpflichtung zum Datenschutz sowie zur Gewährleistung des Rechts auf Beteiligung an demokratischen Wahlen. Faire Bedingungen sind eine notwendige Erfordernis für das Recht auf Beteiligung an demokratischen Wahlen, wie in regionalen und internationalen Bestimmungen ausgeführt.

Verschiedene befragte Personen gaben an, sich nicht bewusst gewesen zu sein, dass sie mit der Anmeldung auf der Impfwebsite ihr Einverständnis zum Erhalt zusätzlicher Informationen der Regierung geben würden. Über die Nutzung ihrer Anmeldedaten für den Wahlkampf waren sie empört, schließlich hätte die Regierung sie nach eigenem Befinden in einer besonders schwierigen Zeit im Pandemiekontext ausgenutzt.

Eine 36-jährige Frau aus dem Großraum Budapest gab an, dass sie aufgrund der Ängste und Ungewissheiten im Zuge von Covid-19 bei der Frage nach weiterem Kontakt zur Regierung das Gefühl gehabt hätte, „nicht anders handeln zu können, ich musste mich impfen lassen […]. Das war keine freie Entscheidung und deswegen war ich so wütend“.

Wie in anderen Ländern auch haben Parteien des gesamten politischen Spektrums in Ungarn in datenbasierte Kampagnen investiert, etwa in Wählerdatenbanken, Online-Petitionen und ‑Befragungen zum Zweck der Datenerhebung, Wahlkampfwerbung im Internet, Chatbots in sozialen Medien und auch die in direkte Ansprache von Wähler*innen und Unterstützer*innen durch automatisierte Anrufe und den Massenversand von SMS und E-Mails. Solche Verfahren haben schwere Implikationen in Bezug auf die Menschenrechte und insbesondere auf das Recht auf Privatsphäre.

Den Erkenntnissen von Human Rights Watch zufolge war auch die Datenverarbeitung durch die Oppositionsparteien intransparent und es bestand das Risiko von Datenschutzverstößen. Im Gegensatz zur Regierungspartei gab es bei ihnen jedoch keine Hinweise darauf, dass ihre Verarbeitung personenbezogener Daten die Fairness des Wahlprozesses in Frage gestellt hätte.

Befragte Personen erhielten unaufgefordert Anrufe, Textnachrichten sowie umfangreiche Wahlkampfwerbung unterschiedlichster Parteien in den sozialen Medien. Human Rights Watch fand heraus, dass manche der Websites größerer Parteien die von Besucher*innen eingegebenen Daten mittels Drittanbieter-Tracking an bekannte Werbeunternehmen wie Facebook oder Google weiterreichten. Diese Praxis belegt eine weitreichende Missachtung des Datenschutzes der Bürger*innen.

Ungarn sollte alles dafür tun, Lücken in Gesetzen, Bestimmungen und der politischen Praxis zu schließen, um die Nutzung der Daten von Bürger*innen zu Wahlkampfzwecken zu verhindern, so Human Rights Watch. Insbesondere sollte der Staat sicherstellen, dass der rechtliche und institutionelle Rahmen den Missbrauch staatlicher Verwaltungsressourcen eindeutig untersagt, wozu auch die von Bürger*innen erhobenen personenbezogenen Daten gehören. Staatliche Institutionen wie die Justiz, Wahlgremien und die Datenschutzbehörde sollten tatsächlich unabhängig, unparteiisch und vor dem Missbrauch durch die Regierungspartei geschützt sein.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte die ungarische Regierung noch nicht auf einen Brief reagiert, in dem Human Rights Watch diese um einen Kommentar zu den zentralen Erkenntnissen des Berichts bat.

Parteien in Ungarn sollten mehr Transparenz darüber an den Tag legen, wie sie Daten von Wähler*innen erheben und verarbeiten, und darüber hinaus zeigen, dass sie ihre Datenschutzverpflichtungen ernstnehmen.

Facebook und andere Plattformen haben einen gewissen Grad an Transparenz zu den Ausgaben der Kampagnen ermöglicht, indem sie auf Grundlage ihrer Werbedatenbanken eingeschränkten Einblick in die Ausgaben für Wahlwerbung erlaubten. Die Undurchsichtigkeit gewisser von Facebook bereitgestellter Techniken für personalisierte Werbung, auf die ungarische Parteien zugriffen, stellt jedoch eine mögliche direkte oder indirekte Gefährdung von Menschen aufgrund ihrer politischen Haltung dar, die ihr Recht auf Privatsphäre sowie den demokratischen Prozess an sich verletzt.

Sowohl der Europäische Datenschutzbeauftragte als auch der Europäische Datenschutzausschuss warnten davor, personenbezogene Daten jenseits ihres ursprünglichen Zwecks zu nutzen, einschließlich zur unangemessenen Beeinflussung von Menschen im Rahmen des politischen Diskurses und demokratischer Wahlprozesse.

Social-Media-Plattformen haben eine Verantwortung zu Wahrung der Menschenrechte. Daher sollten sie ausreichend Transparenz schaffen, damit betroffene Personen die Techniken zur personalisierten Werbung – sowohl in den Werbedatenbanken als auch in Echtzeit – ausreichend verstehen können. Sie sollten sicherstellen, dass personalisierte Werbung, weder direkt noch indirekt, auf beobachteten oder abgeleiteten besonderen Kategorien basieren, einschließlich politischer Meinungen.

Die Europäische Union sollte dringend überprüfen, ob die Verwendung personenbezogener Daten der ungarischen Regierung zu Wahlkampfzwecken mit EU-Recht, und insbesondere mit der Datenschutz-Grundverordnung der EU, vereinbar ist, so Human Rights Watch. Die EU-Kommission sollte zudem ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die ungarische Datenschutzbehörde NAIH anstrengen, da es ihr an den Qualifikationen für eine unabhängige Aufsichtsbehörde fehlt.

„In Ungarn und anderswo beruhen Wahlkampagnen in großem Maße auf Daten, die häufig auf intransparente Art und Weise erhoben werden“, so Brown. „Regierungen, Datenschutz- und Wahlexperten, die Tech-Industrie sowie andere Akteure sollten sicherstellen, dass datenbasierte Kampagnen weder die Privatsphäre der Menschen untergraben noch ihr Recht auf die Beteiligung an demokratischen Wahlen.“

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