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Ungarn: Machtsicherung der Regierungspartei bedroht EU

EU muss handeln, um die Rechtsstaatlichkeit nach den Wahlen zu schützen

Nach Schließung der Wahllokale für die Parlamentswahlen in Budapest, Ungarn, am Sonntag, 3. April 2022, werden die Stimmzettel ausgezählt. © 2022 AP Photo/Anna Szilagyi

(Budapest) – Die EU sollte umgehend und umfassend auf die schwerwiegende Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Institutionen reagieren, die von der ungarischen Regierungspartei Fidesz ausgeht, die bei den nationalen Wahlen am 3. April 2022 für eine vierte Amtszeit gewählt wurde, so Human Rights Watch.

Die EU hat nur unzureichend auf die Aushöhlung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn während der bisherigen 12 Regierungsjahre der Fidesz-Partei unter Ministerpräsident Viktor Orban reagiert. Die erreichte Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei wird ihr freie Hand lassen, wenn die EU-Institutionen nicht entschlossen und konzertiert handeln.

„Nachdem Orban und Fidesz 12 Jahre damit verbracht haben, demokratische Schutzmechanismen zurückzudrängen und die Macht zu zentralisieren, wäre es naiv zu erwarten, dass sie sich nun auf ihren Lorbeeren ausruhen“, sagte Lydia Gall, leitende Forscherin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die EU-Institutionen sollten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um sicherzustellen, dass die Orban-Regierung für ihre Aushöhlung der EU-Werte zur Rechenschaft gezogen wird, und um sich vor zukünftigen Bedrohungen zu schützen.“

Die Wahl wurde überschattet von ernsthaften Bedenken bezüglich ihrer Fairness. Eine Wahlbeobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte am 4. April eine Reihe von Bedenken im Vorfeld der Wahl vor. Dazu gehörten die Verwischung der Grenzen zwischen der Regierung und der Regierungspartei im Wahlkampf, die Verstärkung des Vorteils der Regierungskoalition, das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen und die mangelnde Ausgewogenheit der Wahlkampfberichterstattung.

Der vierte aufeinanderfolgende Wahlsieg der Regierungspartei folgt auf Jahre, in denen weder die EU-Institutionen noch die Mitgliedstaaten entschieden gehandelt haben angesichts  eklatanter Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und Angriffe auf die demokratischen Institutionen in Ungarn. Die verheerende Rechtsbilanz des Landes ist darauf zurückzuführen, dass die bisherigen Amtszeiten Orbans die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, öffentliche Einrichtungen sowie die Medienlandschaft unter ihre Kontrolle gebracht, die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen kriminalisiert, unabhängige Journalist*innen schikaniert und gefährdete Gruppen und Minderheiten verteufelt haben.

Die Auswirkungen der Feindseligkeit der Fidesz-Partei gegenüber den demokratischen Institutionen wurden bereits vor den Wahlen deutlich, als die Kandidat*innen der Oppositionsparteien in vier Jahren nur fünf Minuten Sendezeit im staatlich kontrollierten Fernsehen erhielten und die Regierungspartei das Wahlgesetz zu ihren Gunsten umgestaltete. Ein am Wahltag abgehaltenes Anti-LGBT-Referendum scheiterte, nachdem eine konzertierte Kampagne der Zivilgesellschaft zu einer großen Zahl ungültiger Stimmzettel geführt hatte.

Zu lange hat die EU auf die Rückschritte der ungarischen Regierung in Sachen Rechtsstaatlichkeit mit Zurückhaltung reagiert und sich geweigert, den systematischen Charakter der Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit anzuerkennen oder diese zu verurteilen, so Human Rights Watch. In jüngster Zeit hat die EU versucht, die ungarische Regierung durch Vertragsverletzungsverfahren, Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Möglichkeit, EU-Gelder an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen, wieder mit den Grundwerten der EU in Einklang zu bringen.

Das politische Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags, mit dem die Regierungen für die Gefährdung der EU-Werte zur Rechenschaft gezogen werden sollen, hat zu keinen konkreten Empfehlungen für Ungarn geführt. Wichtige Urteile des EU-Gerichtshofs werden nach wie vor nicht umgesetzt, was zum Beispiel dazu führt, dass die Unterstützung von Geflüchteten an den ungarischen Grenzen weiterhin kriminalisiert wird.

Der Sieg der Fidesz-Partei sollte beim Rat der Europäischen Union die Alarmglocken schrillen lassen und die Mitgliedsstaaten dazu veranlassen, die Verfahren nach Artikel 7 unverzüglich voranzutreiben, so Human Rights Watch. Artikel 7 sollte das letzte Instrument gegen die Aushöhlung der Werte der Europäischen Union sein und ist wichtiger denn je. Die Europäische Kommission sollte die Aktivierung der Konditionalität für EU-Gelder prüfen, um sicherzustellen, dass das Geld der EU-Steuerzahler*innen nicht zur Finanzierung von Repressionen verwendet wird.

„Die EU-Institutionen sollten Ungarns Menschenrechtsbilanz in den kommenden vier Jahren genau im Auge behalten und auf weitere Angriffe auf demokratische Institutionen und zentrale EU-Werte vorbereitet sein“, sagte Gall. „Brüssel sollte sich mit denjenigen solidarisch zeigen, die die Werte der EU hochhalten, einschließlich der bedrängten ungarischen Zivilgesellschaft, und alles tun, um die Abwärtsspirale zu stoppen, in der die Rechtsstaatlichkeit untergraben und der Schutz der Menschenrechte missachtet wird.“

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