(Belgrad, 8. Juni 2016) – In Serbien werden Hunderte Kinder mit Behinderungen in Einrichtungen vernachlässigt und isoliert. Dies kann die intellektuelle, emotionale und körperliche Entwicklung stark beeinträchtigen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Zwar hat die serbische Regierung einige Fortschritte beim Schutz der Rechte von Kindern mit Behinderungen gemacht, sie muss jedoch mehr unternehmen, um die landläufige Praxis zu beenden, Kinder in staatlichen Einrichtungen unterzubringen. Ebenso muss die Regierung die Betroffenen unterstützen, so dass Kinder mit Behinderungen bei ihren Familien oder in einer familienähnlichen Umgebung leben können.
Der 89-seitige Bericht „‘It is my dream to leave this place’: Children with Disabilities in Serbian Institutions” dokumentiert den Druck, dem Familien ausgesetzt sind, ihre mit einer Behinderung geborenen Kinder in großen Pflegeeinrichtungen unterzubringen. Diese sind häufig weit von ihrem Wohnort entfernt und trennen die Kinder so von ihren Familien. In den Einrichtungen droht den Kindern Vernachlässigung und die unangemessene Behandlung mit Medikamenten. Zudem haben sie keine Privatsphäre und entweder keinen oder nur begrenzten Zugang zu Schulbildung.
„Familien soll kein falsches Ultimatum gestellt werden, das ihnen vermittelt, sie hätten keine andere Wahl, als ihr Kind in einer Einrichtung unterzubringen”, so Emina Ćerimović, Expertin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch. „Die langfristige Unterbringung in einer Einrichtung liegt nur sehr selten, wenn überhaupt, im Interesse des Kindes.“
Zudem dokumentierte Human Rights Watch, die Regierung nicht ausreichend in Hilfsdienste vor Ort investiert, so dass Familien nicht die benötigte Unterstützung bekommen, um Kinder mit Behinderungen zu Hause großzuziehen und diese am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Stattdessen hat Serbien Millionen Euro in den Bau neuer Einrichtungen und die Renovierung bestehender Einrichtungen gesteckt.
Human Rights Watch führte Interviews mit insgesamt 118 Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sowie mit betroffenen Familien und Aktivisten. Darüber hinaus sprach Human Rights Watch mit Pflegepersonal und besuchte fünf große Pflegeeinrichtungen sowie drei kleine Gruppenheime in ganz Serbien.
Laut Angaben der Regierung hatten mindestens 80 Prozent der Kinder, die 2014 in Serbien in Einrichtungen untergebracht waren, eine Behinderung. 2012 waren es noch 62,5 Prozent. Die meisten Kinder mit Behinderungen in Serbien, die in Einrichtungen untergebracht werden, bleiben ihr ganzes Leben lang dort. Die Mehrzahl der betroffenen Kinder hat noch mindestens einen lebenden Elternteil.
Mediziner raten Eltern oft, ihr behindertes Kind in einer Einrichtung unterzubringen, mit der Begründung, dies sei das Beste für das Kind. Fehlende medizinische Versorgung und Unterstützung vor Ort, etwa in Form einer Tagespflege oder integrativer Schulen oder Schulen speziell für Kinder mit Behinderungen, gehören zu den Hauptgründen, warum Eltern der Meinung sind, keine andere Wahl zu haben, als ihr behindertes Kind in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen. Weitere Gründe sind Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung.
Ana, eine alleinerziehende Mutter einer 12-jährigen Tochter mit einer intellektuellen und körperlichen Behinderung, sagte: „Nicht eine einzige Kindertagesstätte wollte meine Tochter aufnehmen. Sie sagten, sie sei zu hyperaktiv. Anderthalb Jahre lang habe ich um eine Alternative gebettelt… Vor drei Jahren dann habe ich sie schließlich in einem Pflegeheim untergebracht.”
Human Rights Watch dokumentierte, dass Kindern mit Behinderungen in Pflegeeinrichtungen Medikamente verabreicht werden, darunter Psychopharmaka. Dies geschieht häufig, um Verhaltensauffälligkeiten zu begegnen. Weder wird der Einsatz von Medikamenten überwacht noch wird über den angemessenen Einsatz aufgeklärt. Zudem gibt es kaum Klarheit darüber, wessen Einwilligung für eine Verabreichung von Medikamenten eingeholt werden muss, so Human Rights Watch.
Human Rights Watch fand heraus, dass es in den Einrichtungen nicht ausreichend Personal gibt, um der großen Anzahl Kinder und Erwachsener mit Behinderungen gerecht zu werden. Dies gilt besonders für jene, die besondere Unterstützung benötigen. Das führt häufig zu Vernachlässigung. Alle Kinder, besonders jene mit Behinderungen, brauchen an ihre Bedürfnisse angepasste Aufmerksamkeit und Pflege, um sich zu entwickeln und zu wachsen.
Kinder mit bestimmten Behinderungen, darunter häufig Kinder, die weder sprechen noch laufen können, werden getrennt von den anderen auf besonderen Stationen untergebracht, wo sie den ganzen Tag nur im Bett liegen und kaum Kontakt zu anderen Kindern haben. Vielen haben nur selten die Möglichkeit, nach draußen zu gehen, eine Schulbildung zu erhalten oder mit anderen Kindern zu spielen.
Zahlen der Regierung zufolge besuchen sechzig Prozent der Kinder mit Behinderungen in serbischen Einrichtungen keine Schule. Die anderen besuchen Schulen, die ausschließlich Kinder mit Behinderungen unterrichten. In einigen Fällen kommen die Lehrer in die Einrichtungen, um die Kinder dort für einige Stunden in der Woche zu unterrichten.
Den meisten Erwachsenen mit Behinderungen, die in Einrichtungen in Serbien leben, wird die Rechtsfähigkeit entzogen oder das Recht, Entscheidungen über ihre eigenen Grundrechte zu treffen. Ihnen wird ein Vormund zugeteilt. Dieser wird oft vom Staat bestimmt und trifft dann alle Entscheidungen für den Betroffenen. So dokumentierte Human Rights Watch beispielsweise Fälle, bei denen jungen Frauen mit Behinderung die Rechtsfähigkeit entzogen wurde und die sich medizinischen Eingriffen unterziehen mussten, darunter auch Schwangerschaftsabbrüche. Diese Eingriffe erfolgten mit Zustimmung des jeweiligen Vormunds, jedoch ohne dass die Betroffenen aufgeklärt wurden und selbst frei entscheiden konnten.
Die serbische Regierung hat sich öffentlich dazu verpflichtet, die Unterbringung von Kindern in Heimen zu beenden, darunter auch die von Kindern mit Behinderungen. Im Jahr 2011 erließ die Regierung ein Verbot, Kinder unter drei Jahren ohne „rechtfertigende Gründe“ in Einrichtungen unterzubringen. Zudem sollten Kinder in diesem Alter nicht länger als zwei Monate in Pflegeheimen bleiben. Human Rights Watch fand jedoch heraus, dass die Regierung dennoch Kinder, und sogar Babys, in solchen Einrichtungen unterbringt.
„Die Unterbringung von Babys und Kleinkindern kann ihre Gesundheit und ihr soziales und emotionales Verhalten stark beeinträchtigen. Dies kann nachhaltige Auswirkungen auf ihre zukünftigen Lebenschancen haben”, so Ćerimović.
Serbien hat eine Reihe von Menschenrechtsabkommen verabschiedet, darunter die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die UN-Kinderrechtskonvention, die UN-Antifolterkonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Laut diesen Abkommen ist Serbien dazu verpflichtet, die Rechte von Kindern mit Behinderungen zu schützen und sicherzustellen, dass diese vollwertige Mitglieder der Gesellschaft sind. Dazu zählt auch, dass kein Kind aufgrund einer Behinderung von seiner Familie getrennt werden darf.
Im April 2016 äußerte sich der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen sehr besorgt „über die Anzahl der Kinder mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben”, ebenso wie über die „extrem schlechten Bedingungen in Einrichtungen“ in Serbien. Die Experten des Ausschusses drängen Serbien, „die Kinder aus den Einrichtungen zu entlassen… und keine Kleinkinder unter drei Jahren mehr in Einrichtungen unterzubringen.”
Serbien ist EU-Beitrittskandidat. Gemäß dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen soll Serbien schrittweise seine Gesetzgebung in Einklang mit den Gesetzen der EU bringen. Hierzu gehören auch jene Gesetze über den Umgang von Menschen mit Behinderungen. Im neuesten Fortschrittsbericht zu Serbien hat die Europäische Kommission klar Stellung bezogen zum problematischen Umgang Serbiens mit Kindern mit Behinderungen in Einrichtungen. Die Kommission drängte die serbische Regierung, von der Unterbringung in Pflegeeinrichtungen abzusehen.
Die serbische Regierung soll sofort Schritte unternehmen, um der Vernachlässigung, Isolation und Ausgrenzung ein Ende zu setzen. Dies gilt auch für nicht angebrachte psychiatrische Behandlungsmethoden und die Diskriminierung von behinderten Kindern in serbischen Pflegeeinrichtungen. Zudem sollen Hilfs- und Pflegeangebote vor Ort zur Verfügung gestellt werden. Wenn Kinder nicht in ihre Ursprungsfamilie zurückkehren können, so soll ihnen ermöglicht werden, in einer anderen familiären Umgebung zu leben, beispielsweise bei anderen Verwandten, Pflege- oder Adoptiveltern.
„Da Serbien mit großen Schritten auf eine EU-Mitgliedschaft zugeht, soll die EU sicherstellen, dass Serbien der Politik ein Ende setzt, Kinder mit Behinderungen routinemäßig in Einrichtungen wegzusperren”, so Ćerimović. „Kein Kind darf von seiner Familie und der Gemeinschaft isoliert werden. Auch darf keinem Kind die Chance verwehrt werden, Kind zu sein, nur weil es eine Behinderung hat.”