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Vor fast einem Jahr appellierte die Europäische Union an die USA, das Gefangenenlager in Guantánamo zu schließen. Jetzt ist es höchste Zeit, den Appellen Taten folgen zu lassen. Die EU muss nun darauf bestehen, dass die US-Behörden den 385 Guantánamo-Häftlingen entweder ein Gerichtsverfahren nach internationalem Recht gewähren oder die Betroffenen freilassen. Um zu beweisen, dass es Europa ernst meint, sollte die EU ein Angebot machen: Es nimmt jene Guantánamo-Häftlinge auf, die von den USA selbst nicht mehr als »feindliche Kämpfer« eingestuft und entlassen werden sollen, aber aus Furcht vor Folter und Verfolgung nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können.

Dazu gehört etwa der Chinese Bahtiyar Mahnut, ein Angehöriger der muslimischen Minderheit der Uiguren im Nordwesten des Landes. Wie viele Uiguren waren auch Mahnut und seine Familie Opfer religiöser Verfolgung durch den chinesischen Staat. Während der Verhöre durch das US-Militär erklärte Mahnut, dass er 2001 mit 700 Dollar in der Tasche aus China geflohen war erst nach Kasachstan, dann nach Pakistan, um von dort weiter nach Kanada oder in die USA zu kommen. Als sein Geld in Pakistan aufgebraucht war, hatte Mahnut im Juli 2001 Unterschlupf bei einer Gruppe von Uiguren in Afghanistan gesucht. Nach seinen Aussagen und denen anderer Bewohner des Uiguren-Camps hatten sie keinerlei Kontakt mit Angehörigen der Taliban oder mit al-Qaida. Er habe seine Zeit dort mit Bauarbeiten und Koranstudien verbracht, sagt Mahnut, und sich nie an irgendwelchen Kämpfen beteiligt. Als das Lager im November 2001 von Kampfbombern der Koalitionstruppen zerstört wurde, flohen die Uiguren zunächst in die Berge und schließlich zurück nach Pakistan. Dort wurden Mahnut und 17 seiner Landsleute von pakistanischen Kopfgeldjägern an das US-Militär verkauft und nach Guantánamo gebracht.

Der Fall der Uiguren unterstreicht in besonders erschütternder Weise die Erkenntnis, die man nach Lektüre der Verhörprotokolle des Pentagons gewinnt. Auf der Grundlage dieser Verhöre es sind Hunderte gewesen wurde entschieden, ob die betroffenen Gefangenen weiterhin als »feindliche Kämpfer« gelten. Obwohl als geheim eingestufte Informationen aus den Protokollen entfernt wurden, wird klar, dass die Mehrheit der Insassen auf Guantánamo völlig unbedeutende Figuren in dem US-amerikanischen »Krieg gegen den Terrorismus« sind. Wie Mahnut wurden die meisten nicht auf dem Schlachtfeld gefangen genommen.

Ungefähr die Hälfte ist durch Kopfgeldjäger für Tausende von Dollar an US-Truppen ausgeliefert worden. Nur einem kleinen Prozentsatz der sogenannten combattants wird überhaupt vorgeworfen, gegen US-Truppen und ihre Alliierten gekämpft zu haben.

Andererseits ist das Schicksal von Mahnut und den anderen 17 Uiguren besonders tragisch. Inzwischen gelten sie als »nicht mehr feindliche Kämpfer« oder stehen aus anderen Gründen auf der Liste der Freizulassenden. Doch sie können nirgendwohin. Den Uiguren, die in den Verhören wiederholt ihre Opposition gegen die chinesische Regierung zum Ausdruck gebracht haben, droht im Fall ihrer Rückkehr nach China Verhaftung oder Schlimmeres. Bis heute hat sich einzig Albanien, eines der ärmsten Länder Europas, bereit erklärt, diesen Menschen Zuflucht zu gewähren. Im Mai 2006 nahm es trotz massiver Proteste Chinas fünf Uiguren aus Guantánamo auf.

Es wäre eine angemessene humanitäre Geste, würde Bundeskanzlerin Angela Merkel nun zusammen mit den anderen EU-Regierungschefs jenen Uiguren Asyl anbieten, deren Freilassung das amerikanische Militär bereits bewilligt hat. Amerikas Gerichte sind noch vollauf beschäftigt, sich durch den juristischen Sumpf rund um das Gefangenenlager Guantánamo zu wühlen. Die EU und ihre Ratspräsidentin Merkel aber können dieser Verhöhnung moralischer und juristischer Prinzipien zumindest teilweise entgegentreten, indem sie Menschen wie Bahtiyar Mahnut Zuflucht gewähren.

Lotte Leicht ist EU-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

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