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Ein Anwohner sieht sich ein Wohnhaus an, das während schwerer Kämpfe in der Nähe der Illich Eisen- und Stahl-Produktion in Mariupol beschädigt wurde. 16. April 2022. © 2022 AP Photo/Alexei Alexandrov

(Kiew) – Die russischen Streitkräfte, die derzeit den Großteil der ukrainischen Hafenstadt Mariupol im Südosten des Landes besetzen, sollten sicherstellen, dass die in der Stadt verbliebenen Zivilist*innen sicher in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet fliehen können, wenn sie dies möchten, so Human Rights Watch heute. Ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Kranke und Verletzte benötigen besondere Aufmerksamkeit.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, der diese Woche Moskau und Kiew besucht, sollte der Notlage der Zivilist*innen in Mariupol Priorität einräumen und betonen, dass hochrangige russische Beamte für den unrechtmäßigen Tod von Zivilist*innen und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zur Rechenschaft gezogen werden können. Die russischen Streitkräfte müssen die grundlegende Verpflichtung des humanitären Völkerrechts beachten, zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen zu unterscheiden und alle möglichen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu treffen.

„Nachdem sie zwei Monate des Terrors überlebt und sich in Kellern verschanzt haben, während ihre Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde, brauchen die Zivilist*innen in Mariupol dringend Hilfe und sichere Evakuierungswege“, sagte Ida Sawyer, Direktorin für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Generalsekretär Guterres und andere führende internationale Politiker*innen sollten Druck auf die russische Spitze ausüben, damit sie für einen sicheren Weg in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet sorgt.“

Human Rights Watch sprach mit 56 Menschen, die zwischen Mitte März und Mitte April aus Mariupol geflohen waren. Diese Menschen schilderten die katastrophalen Bedingungen in der Stadt. Diejenigen, die die Stadt in jüngerer Zeit verlassen haben, waren gezwungen, nach Russland oder in die von Russland kontrollierten Gebiete zu gehen, es sei denn, sie verfügten über ausreichende finanzielle Mittel und waren in der Lage, einen privaten Transport über die gefährlichen Fluchtrouten zu organisieren.

Die Zahl der Zivilist*innen, die sich noch in Mariupol aufhalten, ist nach wie vor unklar. Ukrainische Beamte geben an, dass sich noch 120.000 Menschen in Mariupol aufhalten. Diese Zahl kann aktuell jedoch nicht überprüft werden.

Seit Beginn der Belagerung um den 2. März 2022 haben die russischen Streitkräfte fast ganz Mariupol besetzt, mit Ausnahme des letzten Stützpunkts der ukrainischen Streitkräfte im Stahlwerk Azovstal, wo sich nach Angaben der ukrainischen Behörden noch einige Tausend ukrainische Streitkräfte, darunter etwa 500 Verwundete, und 1.000 Zivilist*innen aufhalten. Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin am 21. April im Fernsehen anordnete, das Werk zu blockieren, anstatt zu versuchen, es einzunehmen, gingen die russischen Bombardierungen mindestens bis zum 24. April weiter.

Die Gesamtzahl der in Mariupol getöteten Zivilist*innen ist ebenfalls unbekannt. Die ukrainischen Behörden schätzen, dass dort seit Beginn des Krieges 20.000 Menschen getötet worden sein könnten.

Ukrainische Beamte haben berichtet, dass die russischen Streitkräfte viele von ihnen in zwei Massengräbern verscharrt haben, eines in Manhush, 20 Kilometer westlich von Mariupol, das andere in Vynohradne, 14 Kilometer östlich. Die von Human Rights Watch ausgewerteten Satellitenbilder zeigen, dass sich beide Orte in der Nähe von Friedhöfen befinden. In Manhush sind die ersten Anzeichen dieser Massengräber auf Satellitenbildern zwischen dem 23. und 26. März zu sehen, in Vynohradne zwischen dem 26. und 29. März. Beide Massengräber haben sich in den letzten Wochen dramatisch ausgeweitet. In Manhush hatte sich die Größe der Anlage am 24. April in Längsrichtung verdreifacht. In Vynohradne umfasste das Gelände am 20. April rund 1.125 Quadratmeter.

Eine 57-jährige Englischlehrerin, die über drei Wochen im Intensivkrankenhaus von Mariupol untergebracht war, berichtete, dass russische Soldaten ihr Anfang April mitteilten, dass sie Leichen nach Manhush bringen würden, um sie dort zu begraben. Die Leichen hätten sich im Krankenhaus gestapelt, sagte sie, darunter auch Verwundete, die an ihren Verletzungen starben, und Leichen, die auf der Straße aufgelesen wurden. „Die Russen sagten uns, sie würden die Leichen nach Manhush bringen“, sagte sie. „Sie benutzten einen Lieferwagen, um die Leichen zu transportieren. Ich sah, wie sie den Wagen mit Leichen beluden, als ich Wasser holen ging - zweimal, und dann sagten sie uns, wir dürften diesen Eingang nicht mehr benutzen.“

Human Rights Watch sprach mit 43 Personen, die Mariupol Mitte März verließen und es bis nach Saporischschja in ukrainisch kontrolliertes Gebiet schafften, nachdem sie durch Mundpropaganda von möglichen Fluchtwegen erfahren hatten. Wie Human Rights Watch bereits dokumentierte, fuhren sie in Privatfahrzeugen über mehrere Kontrollpunkte entlang der 80 Kilometer langen Strecke durch russisch kontrolliertes Gebiet bis nach Berdjansk. Einige stiegen dann in Busse um, während andere in Privatfahrzeugen nach Saporischschja weiterfuhren, wo Freiwillige und Hilfsgruppen humanitäre Hilfe leisteten.

Viele andere Zivilist*innen waren nicht in der Lage oder nicht bereit, den gefährlichen Weg aus Mariupol heraus zu wagen. Da die Mobiltelefon- und Internetverbindungen seit Anfang März unterbrochen waren, hatten die Menschen keine Möglichkeit, Informationen über mögliche Evakuierungsrouten zu erhalten, und viele beschlossen, dass es am sichersten sei, in ihren Unterkünften zu bleiben, obwohl sich die Bedingungen verschlechterten und es an Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten mangelte. Andere hatten keine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, unter anderem weil ihre Autos durch Beschuss zerstört worden waren oder weil es zu gefährlich war, diese zu erreichen.

Um den 21. März wurde es für Zivilist*innen noch schwieriger, aus der Stadt in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet zu fliehen. Human Rights Watch befragte 13 Zivilist*innen, die Mariupol zwischen dem 21. März und dem 11. April verlassen hatten, als die russischen Streitkräfte bereits einen Großteil der Stadt besetzt hatten. Alle sagten, dass die russischen Streitkräfte ihnen keine Möglichkeiten oder Unterstützung boten, um in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet zu gelangen, wohin sie alle wollten. Viele hatten Informationen über ihre Familie und Freunde, sowie über russische Streitkräfte, die Zivilist*innen in die von Russland kontrollierten Gebiete und nach Russland brachten.

Eine Frau, die am 8. April versuchte, mit ihren Nachbarn vor den Kämpfen zu fliehen, berichtete, dass die russischen Streitkräfte sie dazu zwangen, in ein russisches Panzerfahrzeug einzusteigen, das sie in das Dorf Vynohradne brachte, wo ihre Papiere und Taschen kontrolliert und ihre Namen registriert wurden und sie in einen Bus nach Bezimenne in dem von Russland unterstützten Gebiet der „Volksrepublik Donezk“ (DNR) gesetzt wurden, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird.

Nach drei Nächten in einem Gemeindezentrum wurden sie mit dem Bus nach Starobesheve, ebenfalls in der DNR, gebracht, wo sie sich einem Prozedere unterziehen mussten, das die Soldaten als „Filterverfahren“ bezeichneten. Sie sagte, dass die russischen Beamten ihre Fingerabdrücke und persönlichen Daten aufnahmen, sie fotografierten und sie zwangen, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie unter anderem über ihre Verbindungen zum ukrainischen Militär und ihre politischen Ansichten Auskunft gaben.

Am nächsten Tag wurden sie mit einem anderen Bus zur russischen Grenze gebracht, wo sie erneut befragt wurden, und dann nach Tagonrog, wo in einer großen Sportanlage angeblich Hunderte von Einwohner*innen von Mariupol untergebracht waren. Da sie befürchtete, in eine weit entfernte russische Stadt geschickt zu werden, legte sie mit sechs anderen zusammen, um ein privates Auto zu mieten, das sie nach Tiflis in Georgien brachte.

Als sie Mariupol verließ, „hätten wir jede Gelegenheit genutzt, um in die Ukraine zu gehen, wenn wir gekonnt hätten, ganz sicher“, sagte sie. „Aber wir hatten keine Wahl. Es gab keine Möglichkeit, dorthin zu gehen.“

Eine 24-jährige Frau aus einem 13 Kilometer von Mariupol entfernten Dorf, das die russischen Streitkräfte Berichten zufolge um den 13. März unter ihre Kontrolle gebracht hatten, sagte, dass sie um den 15. März eine ähnliche Reise nach Bezimenne und dann weiter nach Tagonrog auf sich hatte nehmen müssen. Sie konnte schließlich selbst einen Transport nach St. Petersburg und dann weiter in ein Land der Europäischen Union finden, aber sie sagte, dass ihre Tante und zwei Cousinen, die ebenfalls aus der Ukraine transportiert wurden, Russland nicht verlassen konnten.

Zwei Frauen, die Mariupol am 21. März verließen, und eine weitere Frau, die am 11. April ausreiste, gaben an, man habe ihnen gesagt, dass sie Busse nach Saporischschja nehmen könnten, wenn sie nach Nikolske (Wolodarsk), etwa 20 Kilometer von Mariupol entfernt in dem von Russland kontrollierten Gebiet, fahren würden. In Nikolske angekommen, sagte eine Frau, die am 21. März ausgereist war: „Wir fragten, ob wir einen Bus nach Zaporizhzhia nehmen könnten. Aber man sagte uns, es gäbe keine Busse mehr nach Saporischschja... Die einzigen Optionen waren russische Gebiete: DNR, Rostow am Don [in Russland], irgendein russisches Gebiet, aber die Ukraine konnten wir vergessen.“ Die Frauen hatten jedoch genug Geld, um private Fahrzeuge zu mieten, die sie nach Berdjansk und schließlich nach Saporischschja brachten.

Viele andere Einwohner*innen von Mariupol sind offenbar gegen ihren Willen in Russland gelandet, weil sie nicht ausreisen konnten, die genaue Zahl ist jedoch unklar. Eine Frau aus Mariupol, die es nach Saporischschja geschafft hat, sagte, dass ihre Schwester am 26. März in einen Bus gestiegen sei, der sie nach Saporischschja bringen sollte, aber in Rostow, Russland, gelandet sei und sich jetzt in der russischen Region Pskow befinde. „Wir stehen in Kontakt ... aber sie hat Angst zu reden, sogar mit mir“, sagte die Frau.

Die ukrainischen Behörden berichteten am 18. April, dass die russischen Streitkräfte etwa 40.000 Einwohner*innen von Mariupol „gewaltsam“ über die Grenze nach Russland gebracht haben, während die russischen Behörden am 22. April berichteten, dass 143.631 Einwohner*innen von Mariupol nach Russland evakuiert wurden. Human Rights Watch konnte diese Zahlen nicht verifizieren.

Sowohl Russland als auch die Ukraine sind verpflichtet, allen Zivilist*innen Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewähren und alle möglichen Schritte zu unternehmen, um den Zivilist*innen eine sichere Evakuierung zu ermöglichen, wenn sie dies wünschen. Russland ist es untersagt, Zivilist*innen einzeln oder massenweise zur Evakuierung nach Russland zu zwingen. Solche Aktionen können Kriegsverbrechen darstellen, wenn sich eine Person freiwillig meldet, weil sie Konsequenzen wie Gewalt, Zwang oder Inhaftierung befürchtet, wenn sie bleibt, und die Besatzungsmacht eine Zwangslage ausnutzt, um sie zu verlegen.

„Die Stadt Mariupol und ihre Bewohner*innen haben bereits unsägliches Leid erfahren“, sagte Sawyer. „Um das Leben und die Menschenwürde der Zehntausenden Zivilist*innen zu schützen, die sich Berichten zufolge noch in der Stadt aufhalten, sollte Generalsekretär Guterres die globale Gemeinschaft mobilisieren, um Mariupol beizustehen und die russischen Streitkräfte zu drängen, unverzüglich die Lieferung von Hilfsgütern und die freiwillige sichere Ausreise zu ermöglichen.“

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