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Nigerianische Studierende in der Ukraine warten auf einem Bahnsteig am Bahnhof von Lwiw auf einen Zug, der sie über die Grenze bringen soll, Sonntag, 27. Februar 2022. © AP Photo/Bernat Armangue

(Mailand) - In der Ukraine lebende Ausländer*innen wurden ungleich behandelt und aufgehalten, als sie versuchten, zusammen mit Hunderttausenden von Ukrainer*innen vor dem Krieg zu fliehen, so Human Rights Watch heute. Befragungen von drei Dutzend Ausländer*innen, darunter viele internationale Studierende, ergaben, dass Ausländer*innen der Zugang zu Bussen und Zügen versperrt oder verzögert wird, offenbar um der Evakuierung ukrainischer Frauen und Kinder Vorrang zu geben.

Die ukrainischen Behörden haben erklärt, dass sie sich des Problems bewusst sind und Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass ausländische Staatsangehörige das Land verlassen können. Am 2. März 2022 gab Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter bekannt, dass die Regierung eine Hotline für ausländische Studierende eingerichtet hat, die die Ukraine verlassen wollen.

„Es ist eine erschütternde Situation für alle, die versuchen, sich in Sicherheit zu bringen, und alle, die vor dem Krieg fliehen, egal woher sie kommen, sollten die Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, sagte Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die ukrainischen Behörden sollten nicht nach Nationalität oder ethnischen Gesichtspunkten diskriminieren, und die Nachbarländer sollten alle mit einem Minimum an Bürokratie einreisen lassen.“

Eine Woche nach Beginn der Invasion, die durch schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht gekennzeichnet ist, sind eine Million Menschen über die Grenzen in die Nachbarländer Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien und Moldawien geflohen. Alle erleben Angst und Not, während sie darum kämpfen, einen Weg zur Grenze zu finden, lange Schlangen bei eisigem Wetter zu überstehen und sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Nach dem Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar wurde das Kriegsrecht verhängt. Danach unterliegen ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren der Wehrpflicht und dürfen das Land nicht verlassen.

Die Ukraine ist seit langem ein Ziel für Studierende und Migrant*innen aus der ganzen Welt. Nach Angaben der Regierung aus dem Jahr 2020 hielten sich 80.000 internationale Studierende im Land auf, wobei die meisten aus Indien, Marokko, Aserbaidschan, Turkmenistan und Nigeria kamen. Diese Studierenden und Menschen aus zahlreichen Ländern, die zum Arbeiten in die Ukraine eingewandert sind, versuchen nun verzweifelt, aus einem Kriegsgebiet zu entkommen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es bis zum 1. März 752 zivile Opfer, darunter 227 Todesopfer. Sie kamen zu dem Schluss, dass die meisten Opfer durch „den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite“ verursacht wurden, darunter Beschuss durch schwere Artillerie, Mehrfachraketen und Luftangriffe. Human Rights Watch hat Beweise dafür gefunden, dass die russischen Streitkräfte Streumunition und Explosivwaffen in bewohnten Gebieten eingesetzt haben, was zu Opfern unter der Zivilbevölkerung und erheblichen Schäden an der zivilen Infrastruktur führte.

Ukrainische Behörden sollten die Ausreiseverfahren für alle Menschen, die aus der Ukraine fliehen, vereinfachen und beschleunigen und die Gleichbehandlung von Ukrainer*innen und ausländischen Staatsangehörigen sicherstellen, so Human Rights Watch. EU-Agenturen sollten zur Unterstützung an den Grenzen eingesetzt werden, und sowohl die EU als auch die Ukraine sollten grundlegende humanitäre Hilfe für die in den Grenzgebieten auf ukrainischer Seite gestrandeten Menschen sicherstellen.

Human Rights Watch befragte ausländische Staatsangehörige aus nordafrikanischen Ländern, afrikanischen Ländern südlich der Sahara und Indien an der polnischen Grenze, in Lwiw, einer ukrainischen Stadt etwa 75 Kilometer von der Grenze entfernt, und per Telefon zu den Schwierigkeiten, beim verlassen des Landes.

Barn, ein 22-jähriger indischer Medizinstudent in Dnipro, der seinen vollen Namen nicht nennen wollte, sagte, dass die Polizei ihn und sechs weitere Personen am 26. Februar nicht in den Zug einsteigen ließ. „Vier Züge kamen und fuhren wieder ab und sie ließen uns nicht einsteigen“, sagte er. „Sie [die Polizei] sagten uns, dass nur Ukrainer tagsüber mit den Zügen fahren könnten und dass Ausländer nur nachts in die Züge gelassen würden. Wir kamen um 7 Uhr morgens am Bahnhof an und durften erst um 19:30 Uhr in einen Zug steigen.“

Ein nigerianischer Student sagte, er gehöre zu einer Gruppe von etwa 20 Ausländer*innen, darunter Menschen aus Equador und Marokko, die am 26. Februar in Kiew aus einem Zug gedrängt wurden. „Die Polizei kam herein und ... zog und schubste mich und fragte, ob ich nach Lwiw oder Polen wolle. Ich sagte Polen und sie sagten mir, ich solle aussteigen.“

Mourad Hajri, ein 22-jähriger Marokkaner, der in Charkiw in der Ostukraine in der Nähe Russlands Tiermedizin studiert, machte sich in der Nacht des 26. Februar mit dem Zug, einem Taxi und dann 11 Stunden zu Fuß auf den Weg zur polnischen Grenze. „Die ukrainischen Soldaten und ihre Hilfskräfte haben nichts getan, um das Chaos einzudämmen“, sagte er. „Alles, was sie taten, war, jedes Mal, wenn sich ein mit Ukrainern gefüllter Bus der Grenze näherte, gewaltsam einen Weg zu öffnen. Diese wurden problemlos hineingelassen und fuhren ohne Probleme nach Polen. Aber für alle anderen, einschließlich uns, war es sehr kompliziert. Sie mussten sich den Weg freikämpfen.“

Rugiatu Faith Maxey, 22, eine US-Bürgerin aus Sierra Leone, war in der Ukraine zu Besuch bei ihrem Verlobten aus Sierra Leone in Dnipro. Sie sagte, der Fahrer eines Linienbusses habe durchgesagt, „alle Schwarzen müssen den Bus verlassen“, als sie sich der Grenze zu Polen näherten. Sie blieb im Bus, nachdem ihre Gruppe und ukrainische Fahrgäste protestiert hatten. „Schließlich wurden wir in der Reihe mit den Ukrainern durchgelassen, aber wir mussten wirklich darauf drängen, und es war hilfreich, dass ich Amerikanerin war und die Botschaft eingeschaltet habe“, sagte sie.

Die Afrikanische Union gab am 28. Februar eine Erklärung ab, in der sie „alle Länder auffordert, das Völkerrecht zu respektieren und allen Menschen, die vor einem Krieg fliehen, ungeachtet ihrer ethnischen Identität [im englischen Original: racial identity] das gleiche Mitgefühl und die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen“. Mehrere Regierungen, deren Staatsangehörige sich in der Ukraine aufhalten, haben sich besorgt über deren Behandlung und die Hindernisse bei der Ausreise geäußert. Der nigerianische Außenminister teilte den Medien am 1. März mit, er habe mit den ukrainischen und polnischen Behörden darüber gesprochen, sicherzustellen, dass Nigerianer*innen die Grenze passieren können.

Bei der Sitzung der Generalversammlung am 2. März sagte der ständige Vertreter Indiens bei den Vereinten Nationen: „Wir fordern eine sichere und ununterbrochene Ausreise für alle indischen Staatsangehörigen, einschließlich unserer Studierenden, insbesondere aus Charkiw und anderen Konfliktgebieten.“ Tausende von Inder*innen wurden evakuiert, nachdem sie die Grenze zu den Nachbarländern überschritten hatten.

Am 3. März äußerten UN-Experten „ernste Besorgnis [über] anhaltende Berichte über Menschen afrikanischer Abstammung und ethnischer Minderheiten [im englischen Original: racial and ethnic minorities], die während ihrer Flucht aus der Ukraine diskriminiert werden“, und erinnerten daran, dass „das Verbot der Rassendiskriminierung ein Grundrecht des Völkerrechts ist, das in allen Konflikt- und Friedenssituationen gilt.“

Andriy Demchenko, ein Sprecher des staatlichen Grenzschutzes der Ukraine, erklärte gegenüber Human Rights Watch, dass die Behauptungen über die ungerechte Behandlung von Ausländern „nicht der Wahrheit entsprechen“. Er behauptete, dass „ukrainische Grenzschutzbeamte nicht auf die Nationalität oder die Farbe der Pässe achten“, und sagte, dass Staatsangehörige aus anderen Ländern „versuchten, vorzudringen und bevorzugt behandelt zu werden“.

Am 1. März gaben neun ukrainische Menschenrechtsorganisationen eine Erklärung ab, in der sie die Behörden aufforderten, „allen Fällen von persönlicher oder institutioneller Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus entgegenzuwirken“ und die Herkunfts- und Nachbarländer der Ukraine aufzufordern, Menschen die Ausreise aus dem Kriegsgebiet zu erleichtern. In einem Tweet vom 1. März erklärte Minister Kuleba: „Afrikaner, die evakuiert werden wollen, sind unsere Freunde und müssen die gleichen Möglichkeiten haben, sicher in ihre Heimatländer zurückzukehren. Die ukrainische Regierung scheut keine Mühe, um das Problem zu lösen.“

Am 3. März stimmten die EU-Mitgliedstaaten dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 2. März zu, erstmals die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz auszulösen, die einen vereinfachten, pauschalen Schutz für bis zu drei Jahre für Menschen ermöglicht, die durch den Krieg in der Ukraine vertrieben wurden. Darunter fallen Drittstaatenangehörige, die seit langem in der Ukraine ansässig sind, sowie Staatenlose und ukrainische Staatsangehörige.

Die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten sollten den ukrainischen Behörden gegenüber klarstellen, dass alle nicht-ukrainischen Staatsangehörigen, einschließlich Menschen ohne gültige Reisedokumente, Zugang zum EU-Gebiet erhalten. Dort sollte sie entweder vorübergehenden Schutz zu genießen oder Schutz aus humanitären Gründen, einschließlich einer sicheren Überfahrt oder Rückführung in ihre Herkunftsländer, so Human Rights Watch. Die EU-Länder sollten Personen, deren Leben oder Freiheit bedroht ist, nicht in ihre Herkunftsländer zurückschicken. Es sollten Vorkehrungen getroffen werden, um eine gerechte Verteilung der Verantwortung auf alle Mitgliedsstaaten durch einen effizienten und fairen Umsiedlungsplan zu gewährleisten, der familiäre Bindungen und, soweit möglich, individuelle Präferenzen berücksichtigt.

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