Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Samstag in Meseberg mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentrifft, liegt das Schicksal von 2,3 Millionen Menschen in der syrischen Provinz Idlib in ihren Händen. Der letzte große Zufluchtsort der Regierungsgegner diente bisher als Fluchtventil. Als andere regierungsfeindliche Gebiete und Städte fielen, gaben syrische Streitkräfte den Bewohnern die Wahl, nach Idlib gebracht zu werden oder in von der Regierung kontrollierten Gebieten zu leben, in denen sie dem ständigen Risiko der Inhaftierung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt wären. Aus offensichtlichen Gründen haben sich viele für Idlib entschieden. Etwa die Hälfte der heutigen Bevölkerung von Idlib wurde aus anderen Teilen Syriens vertrieben.
Nun aber ist Idlib selbst in Gefahr. Es besteht das Risiko, dass die russisch-syrischen Streitkräfte ihre charakteristischen wahllosen und manchmal vorsätzlichen Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser wieder aufnehmen. Diese Art der Kriegsverbrechen ist ein Hauptgrund dafür, dass schätzungsweise eine halbe Million Menschen getötet und mehr als 50 Prozent der syrischen Bevölkerung vertrieben wurden.
In der Vergangenheit konnten Zivilisten, die den russisch-syrischen Angriffen entkommen wollten, über die Grenze Idlibs in die Türkei fliehen, wo heute etwa 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben. Im Oktober 2015 jedoch haben die türkischen Sicherheitskräfte die Grenze geschlossen. Seitdem werden Asylsuchende an der Grenze abgewiesen. Manchmal wird sogar auf sie geschossen.
Es geht nur mit Druck
Wenn die Türkei erneut mit einem großen Andrang von Asylsuchenden konfrontiert wird, die der russisch-syrischen Bombardierung entkommen wollen, könnte sie diese in Gebiete Syriens entlang der türkischen Grenze wie Afrin und Dscharābulus leiten. Diese Gebiete werden zwar von der Türkei kontrolliert, sind aber kaum gegen Angriffe geschützt. Oder sie könnte eine große Anzahl von Menschen in die Türkei einreisen lassen, was zu Druck im Land selbst führen könnte, das Abkommen auszusetzen, welches der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit Kanzlerin Merkel geschlossen hatte – zu einem Zeitpunkt, da der Wahlkampf für die europäischen Parlamentswahlen 2019 gerade an Fahrt aufnimmt. Ziel des Abkommens war es, die Überfahrten von Asylsuchenden über das Ägäische Meer nach Griechenland zu drosseln.
Ein Massaker in Idlib von vornherein zu verhindern, wäre die viel bessere Option. Und das geht am besten durch Druck auf Russland. Seit 2015 kämpft die russische Luftwaffe an der Seite von syrischen Kampffliegern. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb regierungstreue Kräfte, deren Position auf dem Schlachtfeld schwach war, nun wahrscheinlich die Oberhand gewinnen werden. Darüber hinaus ist Russlands offizieller Waffenexporteur Rosoboronexport der größte Waffenlieferant für Syrien. Russische Diplomaten haben gegen die Bemühungen, Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, ihr Veto eingelegt und – letztlich erfolglos – versucht, die Ermittlungen zum Einsatz chemischer Waffen zu blockieren. Russische Staatsmedien wie RT und Sputnik sind die Vorreiter der Schönfärberei des russisch-syrischen Militärbündnisses.
Merkel sollte Putin dazu drängen, diesen Einfluss zu nutzen. Der Kreml will unbedingt bessere Beziehungen zur Europäischen Union, sodass die Sanktionen aufgehoben und die Aussichten für seine stagnierende Wirtschaft verbessert werden. Zwar gibt es hierbei zahlreiche andere Hindernisse – die Krim, die Ostukraine, MH17, Nowitschok –, aber Kanzlerin Merkel sollte deutlich machen, dass ein Massaker an Zivilisten in Idlib die Beziehungen zu Russland in eine noch tiefere Krise stürzen würde.
Schwieriges Angebot: Keine Offensive, wenn der Westen zahlt
Russland hat ein gewisses Interesse daran gezeigt, das zu vermeiden. Idlib ist die einzige von vier vereinbarten Deeskalationszonen, die Russland und Syrien nicht angegriffen und wieder eingenommen haben. Russland hatte sich mit der Türkei darauf geeinigt, ein Dutzend Beobachtungspunkte rund um Idlib einzurichten. Während die Türkei jedoch angab, dass eine Militäroffensive auf Idlib eine "rote Linie" überschreiten würde, bezog Russland hierzu keineswegs eindeutig Stellung.
Der aufschlussreichste Hinweis ist jedoch, dass Russland hinter verschlossenen Türen verbreitet hat, den militärischen Vormarsch auf Idlib zu stoppen, falls sich der Westen massiv am Wiederaufbau der zerstörten Städte und der Infrastruktur Syriens beteiligt. Das berichten verhandlungsnahe Quellen.
Selbst wenn westliche Regierungen davon überzeugt werden könnten, für den Wiederaufbau von Städten zu zahlen, für deren Zerstörung die russischen und syrischen Streitkräfte weitgehend verantwortlich sind, sind die Bedingungen des Vorschlags umstritten. Die syrische Regierung hat Flüchtlinge davon abgehalten, nach Hause zurückzukehren. Sie wurden enteignet und ihnen droht Inhaftierung. Auf der anderen Seite wurde dem Wiederaufbau von Gebieten, die als regierungsfreundlich gelten, Vorrang eingeräumt. Zudem haben die syrischen Streitkräfte und Geheimdienste bereits große Summen an humanitärer Hilfe abgezweigt, um ihre eigenen Taschen zu füllen und ihre Gemetzel zu finanzieren. So gibt es allen Grund zur Sorge, dass sie die Wiederaufbauhilfe angesichts mangelnder Transparenz und fehlender unabhängiger Überwachung ebenfalls umleiten würden.
Auf jeden Fall sollte das Leben der syrischen Zivilbevölkerung nicht von massiven Geldzahlungen abhängen. Die Alternative besteht darin, die russische Mittäterschaft an den systematischen Kriegsverbrechen des syrischen Regimes anzuprangern und den Kreml energisch dazu zu drängen, diese Gräueltaten zu beenden. Es ist an der Zeit, dass Merkel Putin klarmacht, dass Russland in seinem Streben nach besseren Beziehungen zu Europa vollends scheitern wird, solange es weiterhin brutale Repressionen in Syrien mitbetreibt. Das Schicksal von 2,3 Millionen Syrern in Idlib hängt davon ab, dass diese Botschaft nachdrücklich vermittelt wird.