Werden die Kämpfe zwischen irakischen Streitkräften und dem IS um Mosul letzten Nagel in den Sarg der Dschihadisten schlagen? Und wie soll es gelingen, die Unzufriedenheit der sunnitisch-arabischen Iraker zu beseitigen, wenn kurdische Truppen weiterhin Tausende Araber vertreiben und ihre Häuser zerstören?
Ein neuer »Human Rights Watch«-Bericht dokumentiert, wie von September 2014 bis Mai 2016 in den Gouvernements Kirkuk und Ninive systematisch von Arabern bewohnte Häuser, teilweise auch ganze arabische Dörfer, zerstört wurden, nachdem diese unter die Kontrolle der kurdischen Peschmerga gefallen waren. Dieses Vorgehen ist völkerrechtswidrig, da die Zerstörung der Häuser durch keine militärische Notwendigkeit gerechtfertigt war.
Truppen der kurdischen Regionalregierung verfolgten diese Strategie auch nach Beginn der deutschen Finanz- und Militärhilfen für den Kampf gegen den IS weiter.
Als ich im letzten Jahr mit dem 15-jährigen Ahmad durch die Trümmer des sunnitisch-arabischen Dorfs Idris Khaz‘al 20 Kilometer westlich von Kirkuk lief, versuchte ich mir vorzustellen, wie sich jemand fühlt, dessen Zuhause dem Erdboden gleichgemacht wurde. Zwischen den Trümmern zeigte mir Ahmad die Überreste seines Elternhauses, den zerstörten Garten seiner Nachbarn, in dem er als Kind gespielt hatte, und die Reste des Geschäfts, in dem er immer Milch gekauft hatte. Als wir an einem nahezu vollständig zerstörten Haus vorbeigingen, konnte ich gut erkennen, an welcher Stelle die Schaufel des Bulldozers die Ziegelsteine herausgeschnitten hatte. Nach unserem Besuch kehrte Ahmad zurück in das Flüchtlingslager, in dem er mit Hunderten anderen sunnitisch-arabischen Familien lebt, die ebenfalls ihr Zuhause verloren haben.
Ahmads Dorf war das zwölfte zerstörte Dorf, das ich zusammen mit einem Kollegen im November 2015 im Nordirak besuchte. Anfang dieses Jahres kamen weitere hinzu und im November besuchten wir erneut zwei Dörfer, die durch Truppen der kurdischen Regionalregierung evakuiert und anschließend dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Mit jedem Besuch wurde uns klarer, dass dies nicht ein Resultat der Kämpfe zwischen kurdischen Peschmerga und dem Islamischen Staat war, sondern dass hier gezielt zerstört wurde, nachdem die Kämpfe beendet waren.
Wir begaben uns vor Ort, werteten Satellitenbilder aus und befragten Augenzeugen und kurdische Kämpfer
In der Nacht vom 29. zum 30. Januar 2015 brachte der IS die Dörfer Idris Khaz‘al und das benachbarte Idris Khubbaz unter seine Kontrolle. Die meisten Zivilisten flohen. Als Peschmerga-Truppen das Gebiet am Abend des 31. Januar 2015 zurückeroberten, befahlen sie den wenigen verbliebenen Einwohnern, das Dorf zu verlassen, wie uns die Dorfbewohner später selbst erzählten. Diese berichteten weiter, sie hätten im Fortgehen gesehen, wie Peschmerga, Asayesh-Polizei und kurdische Zivilisten Bulldozer herangeholt und begonnen hätten, Gebäude in beiden Dörfern zu zerstören.
Als wir die Behörden der kurdischen Regionalregierung später fragten, warum die beiden Dörfer zerstört wurden, erklärten diese zunächst, bei den »Räumarbeiten« seien »unvermeidlich« Landminen detoniert. Laut Aussagen der Dorfbewohner hatte der IS jedoch nicht ausreichend Zeit, um in den Häusern Sprengsätze zu legen. Als wir Satellitenbilder der beiden Dörfer aus der Woche nach dem 31. Januar untersuchten, wurde klar, dass der Großteil der Schäden am 5. Februar entstanden war, fünf Tage nachdem die Peschmerga das Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hatten.
Auch in 19 anderen Dörfern untersuchten wir akribisch die Spuren der Zerstörung: Wir begaben uns vor Ort, werteten Satellitenbilder aus und befragten Augenzeugen und kurdische Kämpfer. Dabei stießen wir auf ein deutliches Muster: Zwischen September 2014 und Mai 2016 wurden in Teilen der Gouvernements Kirkuk und Ninive – Gebieten, die nach Ansicht der Kurdenführer ursprünglich kurdisch waren – zahlreiche von Arabern bewohnte Häuser, teilweise sogar ganze arabische Dörfer, völkerrechtswidrig zerstört, nachdem sie unter die Kontrolle der Peschmerga gefallen waren.
In einigen kurdisch-arabischen Dörfern wie Bardija und Hamad Agha zerstörten die Peschmerga nur die Häuser arabischer Bewohner, während sie die Häuser von Kurden intakt ließen. Wir fanden keinen einzigen Fall, in dem für den Abriss eines Hauses eine zwingende militärische Notwendigkeit bestanden hatte. Das Völkerrecht ist hier eindeutig: Die gezielte Zerstörung zivilen Eigentums ohne militärische Notwendigkeit ist ein Kriegsverbrechen.
Die Vertreibung zahlloser sunnitisch-arabischer Dorfbewohner läuft den Zielen der Koalition zuwider
Auch in weiteren 62 Dörfern, die wir nicht persönlich aufsuchen konnten, zeigen die Satellitenbilder großflächige Schäden, die erst nach der Wiedereinnahme durch kurdische Truppen entstanden sind. Wegen des Fehlens von Zeugenaussagen konnten wir hier jedoch keine endgültigen Schlüsse ziehen.
Menschenrechtswidrige Strategien, ohne dass dafür die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, wie das hier dokumentierte Vorgehen gegen sunnitische Araber, sind in der jüngeren Geschichte des Irak ein vertrautes Bild. Sie sind mitverantwortlich für den Aufstieg des IS. Die Vertreibung zahlloser sunnitisch-arabischer Dorfbewohner läuft den Zielen der Koalition zuwider, die die Region vom IS befreien will.
Deutschland hat Zehntausende Sturmgewehre, Millionen von Patronen und anderes Material an die Peschmerga-Kämpfer geliefert und Tausende von ihnen ausgebildet. Doch es konnte die kurdischen Streitkräfte bislang offenbar nicht davon abbringen, von Arabern bewohnte Häuser und Dörfer zu zerstören.
Die Bundesregierung sollte gegenüber der kurdischen Führung deutlich machen, dass rechtswidrige militärische Praktiken nicht nur die Fortsetzung der Sicherheitskooperation gefährden, sondern auch militärisch kontraproduktiv sind. Denn auch wenn die militärischen Anstrengungen gegen den IS erfolgreich erscheinen mögen, hilft es niemandem, wenn hier erneut eine Generation von Vertriebenen heranwächst, die wie Ahmad und seine Familie in Lagern leben, wo sie ausgegrenzt, hilflos und unzufrieden sind. Es ist ein hervorragender Nährboden für die extremistischen Bewegungen der Zukunft.