- Die wiederholten, mutmaßlich rechtswidrigen Angriffe des israelischen Militärs auf medizinische Einrichtungen, Personal und Transporte zerstören das Gesundheitssystem in Gaza weiter und sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden.
- Die Sorge bezüglich unverhältnismäßiger Angriffe ist in Krankenhäusern besonders groß. Selbst ein angedrohter Angriff oder ein geringer Schaden kann verheerende Auswirkungen auf Patient*innen und Pflegepersonal haben.
- Die israelische Regierung sollte die Angriffe auf Krankenhäuser einstellen. Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete und der Internationale Strafgerichtshof sollten die Angriffe untersuchen.
(Jerusalem) - Die wiederholten, mutmaßlich rechtswidrigen Angriffe des israelischen Militärs auf medizinische Einrichtungen, Personal und Transporte zerstören das Gesundheitssystem des Gazastreifens weiter und sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden, so Human Rights Watch heute. Trotz der Behauptungen des israelischen Militärs vom 5. November 2023 über „die zynische Nutzung von Krankenhäusern durch die Hamas“ liegen derzeit keine Beweise vor, die es rechtfertigen würden, Krankenhäusern und Ambulanzen ihren völkerrechtlichen Schutzstatus zu entziehen.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis zum 12. November bei 137 „Angriffen auf das Gesundheitswesen“ in Gaza mindestens 521 Menschen getötet, darunter 16 medizinische Fachkräfte. Diese Angriffe sowie die Entscheidung Israels, Strom und Wasser abzustellen und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu blockieren, haben den Zugang zu medizinischer Versorgung massiv erschwert. Die Vereinten Nationen stellten am 10. November fest, dass zwei Drittel der Einrichtungen für die medizinische Grundversorgung und die Hälfte aller Krankenhäuser im Gazastreifen nicht funktionsfähig sind - und das zu einer Zeit, in der das medizinische Personal eine noch nie dagewesene Zahl schwer verletzter Menschen zu versorgen hat. Den Krankenhäusern fehlt es an Medikamenten und Ausstattung. Ärzt*innen berichteten Human Rights Watch, dass sie gezwungen sind, ohne Anästhesie zu operieren und Essig als Antiseptikum zu verwenden.
„Israels wiederholte Angriffe, bei denen Krankenhäuser beschädigt und medizinische Fachkräfte verletzt wurden, die durch die rechtswidrige Blockade ohnehin schon schwer getroffen waren, haben die Infrastruktur des Gesundheitswesens im Gazastreifen zerstört“, sagte A. Kayum Ahmed, Sonderberater für das Recht auf Gesundheit bei Human Rights Watch. „Bei den Angriffen auf Krankenhäuser wurden Hunderte Menschen getötet und viele Patient*innen in große Gefahr gebracht, weil sie nicht angemessen medizinisch versorgt werden können.“
Human Rights Watch untersuchte Angriffe auf oder in der unmittelbaren Nähe von folgenden medizinischen Einrichtungen zwischen dem 7. Oktober und dem 7. November: das Indonesische Krankenhaus, das al-Ahli Krankenhaus, das Internationale Augenheilkundezentrum, das Türkisch-Palästinensische Freundschaftskrankenhaus und das al-Quds Krankenhaus. Human Rights Watch führte Telefonate mit zwei Binnenvertriebenen, die in Krankenhäusern untergebracht sind, sowie mit 16 Mitarbeitenden des Gesundheitswesens und Krankenhausmitarbeitenden im Gazastreifen. Zudem analysierte und überprüfte Human Rights Watch öffentlich zugängliche Daten, darunter in sozialen Medien veröffentlichte Videos und Satellitenbilder sowie Datenbanken der WHO.
Zwischen dem 7. und dem 28. Oktober griffen israelische Streitkräfte mehrfach das Indonesische Krankenhaus an. Hierbei wurden mindestens zwei Zivilist*innen getötet. Das Internationale Augenheilkundezentrum wurde wiederholt getroffen und nach einem Angriff am 10. oder 11. Oktober vollständig zerstört. Am 30. und 31. Oktober wurden das Gelände und die Umgebung des Türkisch-Palästinensischen Freundschaftskrankenhauses angegriffen. Die Schäden am Krankenhaus sowie der Mangel an Treibstoff für die Generatoren des Krankenhauses führten dazu, dass es am 1. November schließen musste. Wiederholte israelische Angriffe beschädigten das al-Quds-Krankenhaus und verletzten einen Mann und ein Kind vor dem Krankenhaus. Israelische Streitkräfte griffen mehrfach gut gekennzeichnete Krankenwagen an und töteten und verletzten bei einem Vorfall am 3. November vor dem al-Shifa-Krankenhaus mindestens ein Dutzend Menschen, darunter auch Kinder.
Diese fortwährenden Angriffe sind keine Einzelfälle. Die israelischen Streitkräfte haben auch zahlreiche andere Krankenhäuser im Gazastreifen angegriffen und beschädigt. Nach Angaben der WHO mussten bis zum 10. November insgesamt 18 von 36 Krankenhäusern und 46 von 72 Ambulanzen geschlossen werden. Die Schließung dieser Einrichtungen ist auf die durch die Angriffe verursachten Schäden sowie auf den Mangel an Strom und Treibstoff zurückzuführen.
Medizinisches Personal in den Krankenhäusern des Gazastreifens berichtete Human Rights Watch von einer noch nie dagewesenen Zahl von Verletzten. Darüber hinaus sind Tausende von Binnenvertriebenen, die in den Krankenhäusern untergebracht sind, durch den Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten gefährdet. Die Krankenhäuser im Gazastreifen sind gezwungen, diese Probleme trotz Personalmangel anzugehen, da einige der Mitarbeitenden außerhalb der Arbeit verletzt oder getötet wurden.
Ein Arzt des Nasser Medical Center berichtete: „Um 3 Uhr morgens hatte ich eine 60-jährige Frau zu versorgen, die eine Schnittwunde am Kopf hatte. Ich kann die Wunde nicht ordentlich nähen - keine Handschuhe, keine Ausstattung - also müssen wir nicht sterile Techniken anwenden.“
Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen sind zivile Objekte, die nach dem humanitären Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht besonderen Schutz genießen. Krankenhäuser verlieren nur dann ihren Schutz vor Angriffen, wenn sie genutzt werden, um „für den Feind schädliche Handlungen“ zu verüben. Auch in diesem Fall muss vorab eine Warnung erfolgen. Selbst wenn Streitkräfte ein Krankenhaus unrechtmäßig zur Lagerung von Waffen oder zur Unterbringung von kampffähigen Personen nutzen, muss die angreifende Partei eine Warnung aussprechen, um diesen Missbrauch zu beenden und eine angemessene Frist für die Beendigung des Missbrauchs setzen. Sie darf erst dann rechtmäßig angreifen, wenn auf eine solche Warnung nicht reagiert wurde. Die Evakuierung von Patient*innen, medizinischem Personal und anderen Personen aus einem Krankenhaus sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Das medizinische Personal muss geschützt werden und seine Arbeit verrichten können.
Alle Kriegsparteien müssen stets darauf achten, dass die Zivilbevölkerung so wenig wie möglich zu Schaden kommt. Angriffe auf Krankenhäuser, die zur Begehung von „für den Feind schädlichen Handlungen“ genutzt werden, sind auch dann rechtswidrig, wenn sie wahllos oder unverhältnismäßig sind. Der Einsatz von Explosionswaffen in dicht besiedelten Gebieten erhöht das Risiko wahlloser Angriffe. Angriffe, bei denen die zu erwartenden Verluste an Menschenleben und Eigentum in der Zivilbevölkerung im Vergleich zum konkreten und unmittelbaren militärischen Nutzen überwiegen, sind unverhältnismäßig. Die Sorge bezüglich unverhältnismäßiger Angriffe ist bei Krankenhäusern besonders groß, da selbst die Androhung eines Angriffs oder geringfügige Schäden massive Auswirkungen auf Patient*innen und Personal haben können.
Das israelische Militär behauptete am 27. Oktober, dass „die Hamas Krankenhäuser als Terrorinfrastrukturen nutzt“, und veröffentlichte Bildmaterial, auf dem zu sehen war, wie die Hamas vom größten Krankenhaus des Gazastreifens, al-Shifa, aus operierte. Israel behauptete außerdem, dass die Hamas das Indonesische Krankenhaus als Versteck für eine unterirdische Kommando- und Kontrollzentrale benutze und 75 Meter vom Krankenhaus entfernt eine Abschussrampe für Raketen aufgestellt habe.
Diese Behauptungen sind umstritten. Human Rights Watch konnte sie nicht bestätigen und hat auch keine Hinweise darauf, dass Angriffe auf Krankenhäuser in Gaza gerechtfertigt wären. Als ein Journalist auf einer Pressekonferenz, bei der Videomaterial zu den Schäden am Katar-Krankenhaus gezeigt wurde, um weitere Informationen bat, um die Tonaufnahmen und Bilder zu verifizieren, sagte ein israelische Sprecher: „Unsere Angriffe basieren auf Geheimdienstinformationen“. Selbst wenn dies zutrifft, muss Israel immer noch nachweisen, dass die darauf folgenden Angriffe auf das Krankenhaus nicht unverhältnismäßig waren.
Israels allgemeine Aufforderung zur Evakuierung vom 13. Oktober an 22 Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen stellte keine wirksame Warnung dar, da sie die spezifischen Anforderungen an Krankenhäuser, einschließlich der Gewährleistung der Sicherheit von Patient*innen und Personal, nicht berücksichtigte. Der pauschale Charakter der Aufforderung und die mangelnden Möglichkeiten, ihr sicher nachzukommen, da es im Gazastreifen weder sichere Fluchtwege noch Zufluchtsorte gibt, ließen vermuten, dass es hierbei nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung ging, sondern darum, diese in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Generaldirektorin der WHO hat erklärt, dass „es unmöglich ist, Krankenhäuser voller Patient*innen zu evakuieren, ohne deren Leben zu gefährden“.
Die israelische Regierung sollte die unrechtmäßigen Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen und andere zivile Objekte sowie die totale Blockade des Gazastreifens, die auf das Kriegsverbrechen der kollektiven Bestrafung hinausläuft, sofort einstellen bzw. aufheben, so Human Rights Watch. Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen müssen alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung vor Angriffen zu schützen. Sie dürfen Zivilist*innen nicht als „menschliche Schutzschilde“ benutzen.
Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ost-Jerusalem, sowie Israel sollten die rechtswidrigen israelischen Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur in Gaza untersuchen.
Die aktuellen Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen unterliegen der Gerichtsbarkeit des IStGH. Diese erstreckt sich auf rechtswidriges Verhalten aller Parteien. Das Römische Statut des IStGH verbietet als Kriegsverbrechen „vorsätzliche Angriffe auf … Sanitätseinheiten, Sanitätstransportmittel und Personal“. Israelische und palästinensische Beamte sollten mit der Kommission und dem IStGH zusammenarbeiten, so Human Rights Watch.
Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada, Deutschland und andere Länder sollten Militärhilfen und Waffenverkäufe an Israel aussetzen, solange die israelischen Streitkräfte weiterhin ungestraft umfangreiche, schwerwiegende Übergriffe gegen palästinensische Zivilist*innen begehen, die Kriegsverbrechen gleichkommen. Alle Regierungen sollten von Israel verlangen, die Strom- und Wasserversorgung des Gazastreifens wiederherzustellen und die Einfuhr von Treibstoff und humanitären Hilfsgütern zu ermöglichen, um sicherzustellen, dass Wasser, Lebensmittel und Medikamente die Zivilbevölkerung des Gazastreifens erreichen.
„Israels breit angelegter Angriff auf das Gesundheitssystem des Gazastreifens ist ein Angriff auf Kranke und Verletzte, auf Babys in Brutkästen, auf Schwangere, auf Krebspatient*innen“, sagte Ahmed. „Diese Aktionen müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden.“