Außenminister Frank-Walter Steinmeier glaubt, die Türkei befinde sich an einer „Wegscheide“.
In welche Richtung wird das Land gehen, fragte er letzte Woche im Bundestag. „Hin zu einer verfassten Demokratie, inklusive einer respektierten parlamentarischen Opposition – oder weg von ihr?“
Wohin die Türkei tatsächlich steuert, davon kann sich Steinmeier am Dienstag persönlich ein Bild machen. Dann besucht er das Land zum ersten Mal seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli. Angesichts der Themen, die er im Bundestag angesprochen hat, darunter die „Entlassungswellen, Inhaftierungen und Repressalien”, kann man davon ausgehen, dass es viel zu besprechen gibt.
Die Türkei ist sehr viel weiter gegangen, als rechtmäßig zu versuchen, die Verantwortlichen für den Putsch zur Rechenschaft zu ziehen. Insgesamt wurden infolge des Putschversuchs 110.000 Soldaten, Richter, Lehrer, Journalisten und andere Menschen verhaftet, entlassen oder suspendiert. Die türkische Polizei hat Menschen in Haft gefoltert und misshandelt, nachdem durch Notstands-Dekrete wichtige Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden. Innerhalb der gleichen Zeit wurden mehr als 160 Medien und Verlage auf staatliche Anordnung geschlossen. 112 Journalisten sitzen in Untersuchungshaft. Nun wurden, im Rahmen der jüngsten Eskalation, führende Vertreter und Parlamentsmitglieder, die der oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP) angehören, ebenfalls verhaftet.
Deutschland bietet Journalisten, Akademikern und anderen Menschen aus der Zivilgesellschaft Unterstützung an, wenn sie angegriffen werden. Auch hat Deutschland wiederholt den Putschversuch verurteilt, sich gleichzeitig aber immer kritischer zur derzeitigen Unterdrückung der Zivilgesellschaft in der Türkei geäußert. „Wir müssen eben auch fragen, ob das, was wir jetzt beobachten, ob die Personenkreise, die jetzt verfolgt werden, wirklich noch in Zusammenhang mit dem Putschversuch stehen“, so Steinmeier im Bundestag. „Ist das Vorgehen der türkischen Regierung mit den Mindeststandards rechtsstaatlicher Verfahren vereinbar?”, fragte er.
Während seines Besuchs soll Steinmeier ausdrücklich auf eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit drängen und darauf bestehen, dass sämtliche Pläne zur Wiedereinführung der Todesstrafe fallengelassen werden. Er soll deutlich machen, dass Deutschland die sofortige Freilassung erwartet von Selahattin Demirtas, Figen Yuksekdag und den übrigen HDP-Politikern, die festgenommen wurden und nun in Untersuchungshaft sitzen. Gleiches gilt für die zahlreichen Journalisten, die sich derzeit in Haft befinden.
Es ist wichtig, dass er die jüngsten skandalösen Anklagen anprangert gegen Journalisten und Autoren, die für die Zeitung Özgür Gündem tätig waren. Ihnen wird Separatismus vorgeworfen, wofür sie eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung bekommen könnten. Zudem soll Steinmeier die Regierung auffordern, Schutzmechanismen aufrechtzuerhalten, die Menschen vor Folter schützen, und die mutmaßlichen Fälle von Misshandlungen und Folter in Haft vollständig strafrechtlich zu untersuchen.
Schließlich sagte Steinmeier dem Bundestag, dass internationale Institutionen, zu deren Mitgliedern die Türkei zählt, diese Menschenrechtsverletzungen ebenso ansprechen müssen, darunter etwa der Europarat. Berlin muss hier vorangehen, um sicherzustellen, dass dies auch wirklich geschieht. Dies gilt ebenso für andere Institutionen wie den UN-Menschenrechtsrat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Deutschland derzeit vorsitzt. Am 8. und 9. Dezember wird Steinmeier ein Treffen in Hamburg leiten, bei dem alle 57 Außenminister der OSZE-Mitgliedstaaten zusammenkommen. Er soll dieses Treffen nutzen, um die Türkei dazu aufzurufen, die Menschenrechtsprinzipien der OSZE einzuhalten. Es ist an der Zeit, dass die Türkei, mit Deutschlands Unterstützung, den richtigen Weg wählt an dieser Wegscheide, an der das Land steht.