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Schlussplädoyer von Oleg Orlov, Co-Vorsitzender der Organisation Memorial, in seinem zweiten Strafprozess wegen politisch motivierter Anklage der "Diskreditierung der russischen Streitkräfte",

Moskau, 26. Februar 2024

Oleg Orlow liest Franz Kafkas "Der Prozess" in einem Moskauer Gerichtssaal während seines eigenen Prozesses, Februar 2024. © 2024 Ekaterina Yanshina, for Memorial

Übersetzt aus dem Russischen von Human Rights Watch

An dem Tag, an dem dieser Prozess begann, wurde Russland und die Welt von der schrecklichen Nachricht über den Tod von Alexei Navalny erschüttert. Die Nachricht hat auch mich erschüttert. Ich dachte sogar darüber nach, ganz auf ein Schlussplädoyer zu verzichten: Was nützen uns heute Worte, wenn wir den Schock noch nicht überwunden haben? Aber dann dachte ich: Das sind alles Glieder derselben Kette - der Tod oder besser gesagt die Tötung von Alexej, die Vergeltungsmaßnahmen der Justiz gegen andere Regimekritiker, mich eingeschlossen, das Ersticken der Freiheit in diesem Land, der Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Also habe ich mich entschlossen, doch die Stimme zu erheben.

Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich werde wegen eines Zeitungsartikels angeklagt, in dem ich das politische Regime in Russland als totalitär und faschistisch bezeichne. Ich habe ihn vor über einem Jahr geschrieben. Damals dachten einige meiner Freunde, ich würde die Dinge überspitzen.

Aber jetzt ist es ganz klar. Ich habe überhaupt nichts übertrieben. Der Staat kontrolliert in unserem Land nicht nur das öffentliche, politische und wirtschaftliche Leben. Er strebt auch die totale Kontrolle über Kultur und Wissenschaft an und greift in das Privatleben ein. Der Staat ist allgegenwärtig geworden.

Es ist erst etwas mehr als vier Monate her, dass mein erster Prozess endete, und in dieser Zeit sind viele Dinge passiert, die zeigen, wie schnell unser Land immer tiefer in dunkle Abgründe versinkt.

Hier ist eine Liste der jüngsten Entwicklungen von unterschiedlichem Ausmaß und Tragik:

  • In Russland sind Bücher einer Reihe von zeitgenössischen Autoren verboten worden.
  • Eine nicht existierende "LGBT-Bewegung" wurde verboten, was in Wirklichkeit eine dreiste Einmischung des Staates in das Privatleben der Bevölkerung bedeutet.
  • Angehende Studierende, die sich an der Higher School of Economics bewerben, dürfen sich nicht auf "ausländische Agenten" berufen. Jetzt müssen Bewerber und Studierende, ehe sie ein bestimmtes Fach wählen können, Listen mit ausländischen Agenten lesen und auswendig lernen.
  • Der bekannte Soziologe und linke Intellektuelle Boris Kagarlitsky wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich in wenigen Worten über die Ereignisse im Krieg in der Ukraine geäußert hat, die von der offiziellen Darstellung abweichen.
  • Als er öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs sprach, sagte die Person [Präsident], die von Propagandisten als "nationaler Führer" bezeichnet wird, Folgendes: "Letztendlich haben die Polen Hitler gezwungen - sie haben es übertrieben und ihn gezwungen -, den Zweiten Weltkrieg mit ihnen zu beginnen. Warum wurde der Krieg mit Polen begonnen? Weil Polen sich als UNGEHORSAM erwies. Hitler hatte KEINE ANDERE WAHL, als bei der Umsetzung seiner Pläne mit Polen zu beginnen."

Wie soll man denn sonst ein politisches System beschreiben, in dem so etwas stattfindet? Aus meiner Sicht kann es keine Zweifel an der Antwort geben. Leider war die Schlussfolgerung in meinem Artikel richtig.

Es ist nicht nur öffentliche Kritik, die verboten ist, sondern jeder unabhängige Gedanke. Selbst Handlungen, die scheinbar nichts mit Politik oder Kritik an den Behörden zu tun haben, können bestraft werden. Es gibt keinen Bereich der Kunst, in dem eine freie künstlerische Äußerung möglich ist, es gibt keine akademische Freiheit in den Geisteswissenschaften, es gibt kein Privatleben mehr.

Ich möchte ein paar Worte über den Charakter der Anschuldigungen gegen mich und in ähnlichen Gerichtsverfahren gegen viele andere sagen, die sich wie ich gegen den Krieg äußern.

Ich habe mich geweigert, aktiv an dem aktuellen Prozess gegen mich teilzunehmen, was mir zum Glück die Möglichkeit gab, während der Verhandlungen Franz Kafkas "Der Prozess" erneut zu lesen. Tatsächlich hat unsere Situation einige Gemeinsamkeiten mit der Situation, in der Kafkas Protagonist gelandet ist - Absurdität und Tyrannei, verkleidet als formelle Einhaltung einiger pseudo-juristischer Verfahren.

Wir werden der Diskreditierung beschuldigt, doch niemand erklärt, worin der Unterschied zu legitimer Kritik besteht. Wir werden beschuldigt, wissentlich falsche Informationen zu verbreiten, aber niemand macht sich die Mühe zu zeigen, was genau daran falsch ist. Wenn wir versuchen zu beweisen, warum die Informationen eigentlich richtig sind, werden diese Bemühungen zum Grund für eine strafrechtliche Verfolgung. Wir werden beschuldigt, das von den Behörden für richtig befundene Glaubenssystem und die Weltanschauung nicht zu unterstützen, obwohl es in Russland keine Staatsideologie geben soll. Wir werden verurteilt, weil wir anzweifeln, dass das Ziel eines Angriffs auf einen Nachbarstaat die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit ist. Absurd.

Bis zum Ende des Romans hat Kafkas Protagonist keine Ahnung, weswegen er angeklagt ist, dennoch wird er verurteilt und hingerichtet. In Russland werden wir formell über die Anschuldigungen informiert, aber es ist unmöglich, sie in irgendeinem rechtlichen Rahmen zu verstehen.

Im Gegensatz zu Kafkas Protagonisten kennen wir jedoch den wahren Grund, warum wir festgehalten, vor Gericht gestellt, verhaftet, verurteilt und getötet werden. Wir werden dafür bestraft, dass wir es gewagt haben, die Behörden zu kritisieren. Im heutigen Russland ist das absolut verboten.

Abgeordnete, Ermittler, Staatsanwälte und Richter geben das nicht offen zu. Sie verstecken es unter absurden und unlogischen Formulierungen in neuen sogenannten Gesetzen, Anklagen und Urteilen. Aber das ist die Realität.

In diesem Augenblick werden Alexey Gorinov, Alexandra Skochilenko, Igor Baryshnikov, Vladimir Kara-Murza und viele andere langsam in Strafkolonien und Gefängnissen getötet. Sie werden umgebracht, weil sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestieren und weil sie wollen, dass Russland ein demokratischer, blühender Staat wird, der keine Gefahr für die Welt darstellt.

In den letzten Tagen wurden Menschen festgehalten, bestraft und sogar inhaftiert, nur weil sie zu Gedenkveranstaltungen der Opfer politischer Verfolgung gekommen waren, um dem ermordeten Alexey Navalny zu gedenken. Er war ein großartiger Mensch, mutig und ehrlich, der unter Bedingungen, die eigens für ihn unglaublich harsch gemacht wurden, nicht den Optimismus und den Glauben an die Zukunft unseres Landes verloren hat. Was auch immer die genauen Umstände seines Todes gewesen sein mögen, es war Mord.

Selbst nach seinem Tod führen die Behörden Krieg gegen Navalny und zerstören aufgestellte Denkmäler für ihn. Sie fürchten ihn sogar im Tod - und das aus gutem Grund.

Diejenigen, die das tun, hoffen, dass sie damit den Teil der russischen Gesellschaft demoralisieren, der sich weiterhin für sein Land verantwortlich fühlt.

Ihre Hoffnungen sind fehl am Platz.

Navalny mahnte uns: "Gebt nicht auf." Daran erinnern wir uns. Was ich noch hinzufügen kann, ist Folgendes: Verliert nicht den Mut, verliert nicht den Optimismus. Denn die Wahrheit ist auf unserer Seite. Diejenigen, die unser Land in den Abgrund gerissen haben, in dem es sich jetzt befindet, repräsentieren die alte, marode, längst überholte Ordnung. Sie haben keine Vision für die Zukunft - nur falsche Erzählungen der Vergangenheit, Wahnvorstellungen von "imperialer Größe". Sie drängen Russland zurück, in die Dystopie, die Wladimir Sorokin in seinem Roman "Der Tag des Oprichnik" beschrieben hat. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, die Gegenwart und die Zukunft gehören uns, und unser Sieg ist unvermeidlich.

Abschließend möchte ich, vielleicht zur Überraschung vieler, noch ein paar Worte an diejenigen richten, die daran arbeiten, den Unterdrückungsapparat voranzutreiben. An Regierungsbeamte, Vollzugsbeamte, Richter und Staatsanwälte.

Ihr wisst ganz genau, was vor sich geht. Und ihr seid längst nicht alle davon überzeugt, dass politische Unterdrückung notwendig ist. Manchmal bedauert ihr, wozu ihr gezwungen seid, aber ihr sagt euch: "Was kann ich denn sonst tun? Ich befolge nur Befehle. Das Gesetz ist das Gesetz."

Noch ein Wort an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft. Haben Sie selbst keine Angst? Vermutlich lieben auch Sie unser Land. Haben Sie keine Angst davor, zu sehen, was aus ihm wird? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern, Gott bewahre, auch Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?

Kommt Ihnen nicht das Offensichtliche in den Sinn, dass die Unterdrückungsmaschinerie früher oder später diejenigen überrollen könnte, die sie in Gang gesetzt und vorangetrieben haben? So ist es in der Geschichte schon oft geschehen.

Ich wiederhole, was ich bei dem letzten Prozess gesagt habe. Natürlich ist das Gesetz das Gesetz. Aber wenn ich mich recht erinnere, wurden 1935 in Deutschland die sogenannten Nürnberger Gesetze verabschiedet. Und nach dem Sieg 1945 wurden diejenigen, die diese Gesetze durchsetzten, vor Gericht gestellt.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Verfasser und Vollstrecker der rechts- und verfassungsfeindlichen Gesetze in Russland selbst zur Rechenschaft gezogen werden. Aber sie werden zwangsläufig bestraft werden. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben und was sie getan haben. Das Gleiche wird mit denjenigen passieren, die in der Ukraine Verbrechen begehen, indem sie Befehle ausführen. Das ist meiner Meinung nach die schlimmste Bestrafung. Und sie ist unvermeidlich.

Auch für mich ist eine Bestrafung unvermeidlich, denn unter den heutigen Umständen ist ein Freispruch in dieser Sache unmöglich.

 

Nun werden wir sehen, wie das Urteil ausfällt.

Doch ich habe nichts zu bedauern oder zu bereuen.

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