(Berlin, 3. Dezember 2015) – In Libyen sind Tausende Menschen ohne Gerichtsverfahren seit mehr als einem Jahr im Gefängnis, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Langfristige Willkürhaft ist so weit verbreitet und wird so systematisch angewandt, dass es sich möglicherweise um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.
Der 34-seitige Bericht „The Endless Wait: Long-term Arbitrary Detentions and Torture in Western Libya“ dokumentiert langfristige, willkürliche Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen in vier Gefängnissen in Tripolis und Misrata, die von der Gerichtspolizei durchgeführt und vom Justizministerium der selbsternannten Regierung in Tripolis kontrolliert werden. Der Bericht basiert auf Einzelgesprächen mit 120 Gefangenen. Seit dem Jahr 2011 haben aufeinander folgende Übergangsregierungen und die Behörden Tausende Menschen inhaftiert, ohne sie einem Richter vorzuführen oder Anklage gegen sie zu erheben. Die Justizbehörden haben weder eine Rechtsgrundlage für diese langfristigen, willkürlichen Inhaftierungen entwickelt noch irgendetwas unternommen, um diese Praktik zu beenden.
„Die Behörden, die den Westen Libyens kontrollieren, tun nichts dagegen, dass Tausenden Gefangenen seit vier Jahren ihre grundlegenden Rechte verwehrt werden“, so Hanan Salah, Libyen-Expertin. „Die Gefängnisse der libyschen Behörden sind nur auf den ersten Blick legal. Das anhaltende Unrecht muss ein Ende haben – sonst drohen internationale Untersuchungen und möglicherweise Strafverfolgung.“
Seit Juli 2014 gilt in Libyen das humanitäre Völkerrecht wegen der Schwere des Konflikts sowie des Organisationsgrads und der Befehlsstruktur der Konfliktparteien.
Der libysche Generalstaatsanwalt in Tripolis soll die unverzügliche Freilassung aller Gefangenen anordnen, die seit mehr als einem Jahr ohne Anklage inhaftiert sind oder zu deren Inhaftierung keine richterliche Zustimmung vorliegt. Darüber hinaus sollen die zuständigen Behörden im Westen Libyens die weit verbreitete Folter und andere Misshandlungen in den von ihnen kontrollierten Gefängnissen unterbinden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll den Druck auf Libyen erhöhen, damit die vom Sicherheitsrat verabschiedeten Resolutionen umgesetzt werden. Zusätzlich soll die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen untersuchen, die in ihre Zuständigkeit fallen.
In Libyen sind seit Juli 2014 erneut bewaffnete Konflikte zwischen der libyschen Regierung im Osten und der Gegenregierung im Westen des Landes ausgebrochen. Die international anerkannte Regierung mit Sitz in Tobruk und al-Baida im Osten wird von der Armee unterstützt, die selbsternannte Regierung der „Nationalen Rettung“ von einer bewaffneten Milizen-Allianz, die Tripolis und große Teile West-Libyens kontrolliert. Die Vereinten Nationen setzen sich seit einem Jahr für eine Einheitsregierung ein, was die Kämpfe allerdings nicht beendet hat.
Zwischen dem 16. und dem 20. September 2015 besuchte Human Rights Watch vier Gefängnisse in Tripolis und Misrata und sprach einzeln und in Abwesenheit von Gefängnispersonal mit 120 Insassen. Es handelte sich um die Gefängnisse Ain Zara und al-Baraka (ehemals al-Roueimy) in Tripolis sowie al-Jawiyyah und al-Huda in Misrata. Die Gefangenen berichteten, dass sie seit Jahren ohne Gerichtsverfahren in Haft seien, schilderten Folter und andere Misshandlungen, erzwungene Geständnisse, das völlige Fehlen von Verfahrensgarantien wie dem Recht auf anwaltlichen Beistand, langfristige Einzelhaft und zum Teil sehr schlechte Haftbedingungen. Unter den Gefangenen waren auch Minderjährige, die mit Erwachsenen zusammen untergebracht waren.
Von den 120 Befragten befanden sich 96 in Haft, ohne dass ihnen ein Vergehen zur Last gelegt worden wäre, fünf durchliefen gerade ein Gerichtsverfahren, und 19 waren verurteilt worden, fünf von ihnen zum Tode. 79 Personen beschrieben Behandlungen, die Folter entsprechen, und 63 sagten, dass sie Folter im Gefängnis mitangesehen haben. Keinem der Befragten wurde nach der Verhaftung und bei Befragungen anwaltlicher Beistand gewährt. Diejenigen, die während ihrer Gerichtsverfahren von einem Anwalt vertreten wurden, durften nicht alleine mit ihm sprechen.
Schläge mit Plastikrohren sind laut Aussage der Gefangenen die häufigste Foltermethode. Einige berichteten, dass sie auch mit Stromkabeln, Stöcken und Fäusten verprügelt wurden. Manche wurden stundenlang an Türen oder an der Decke aufgehängt und mit Stromschlägen misshandelt. Gefangene berichteten weiter, dass sie lange Zeit in Einzelhaft waren, was unter bestimmten Umständen Folter darstellen kann. Nach Auffassung der Betroffenen wurden sie sowohl gefoltert, um Geständnisse zu erpressen, als auch, um sie für vermeintliche Verstöße gegen die Gefängnisregeln zu „bestrafen“.
Viele der Befragten wurden verdächtigt, Muammar al-Gaddafi, den ehemaligen Staatschef, zu unterstützen, der im Jahr 2011 abgesetzt worden war. Andere wurden für gewöhnliche Verbrechen verhaftet, andere als „Terror“-Verdächtige oder als mutmaßliche Angehörige extremistischer Gruppen wie des Islamischen Staates (ISIS).
„Ich habe die Gefängnisverwaltung mehrfach dazu aufgefordert, mich einem Richter vorzuführen, aber trotz wiederholter Zusagen ist nichts passiert“, sagt ein Gefangener im al-Jawiyyah-Gefängnis in Misrata, der nach eigenen Angaben seit vier Jahren in Haft ist, ohne je mit einem Staatsanwalt oder Richter gesprochen zu haben. Verhaftet wurde er während der Revolution im Jahr 2011, weil er angeblich ein Maschinengewehr ohne Lizenz besaß. „Hier im Gefängnis wird man für den kleinsten Fehler verprügelt.“
Am 17. Juni berichtete Human Rights Watch über weit verbreitete Folter und Willkürhaft in Gefängnissen, die der international anerkannten Regierung und den Alliierten im Osten Libyens unterstehen. Human Rights Watch rief die Behörden dazu auf, die Rechtsverletzungen zu beenden, die Täter zu bestrafen und zu gewährleisten, dass die Rechte der Gefangenen geachtet werden, darunter auch ihr Recht auf ein zeitnahes, faires und öffentliches Gerichtsverfahren.
Da es keine Zentralregierung mehr in Libyen gibt, brechen Recht und Ordnung flächenweise zusammen, ebenso kollabiert das ohnehin schlecht funktionierende Justizsystem in vielen Teilen des Landes. Fast alle Gerichtsverfahren stehen still.
Bei einem Treffen mit Human Rights Watch am 22. September räumte Ibrahim Bashiya, der libysche Generalstaatsanwalt in Tripolis, ein, dass die Justiz schlecht funktioniere und die willkürlichen Inhaftierungen ein Problem seien. Allerdings betonte er, dass die Gefangenen ein strafrechtliches Verfahren durchlaufen sollten, statt übermäßig lange ohne Anklage in Haft zu bleiben.
Mustafa al-Gleib, der Justizminister der selbsternannten Regierung in Tripolis, sagte am 19. September gegenüber Human Rights Watch, er toleriere keine Folter in seinen Gefängnissen. Weiter behauptete er, Folter werde nicht systematisch angewandt, es handele sich um Einzelfälle.
Einige schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter Folter oder eine Person ohne faires Verfahren zu verurteilen, stellen Kriegsverbrechen dar, wenn sie mit krimineller Absicht von einer der Konfliktparteien verübt werden. Einige Verbrechen können in Kriegs- und Friedenszeiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, wenn sie weit verbreitet sind und systematisch im Rahmen einer vom Staat oder einer anderen Institution getroffenen Entscheidung verübt werden. Zu ihnen zählen Folter und Willkürhaft.
Diejenigen, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, anordnen oder auf Grund der Befehlskette zu verantworten haben, werden von nationalen Gerichten oder vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt.
Die Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, soll Ermittlungen einleiten, um die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Libyen zu untersuchen. Die Chefanklägerin ist seit dem 15. Februar 2011 für die Ermittlung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid in Libyen zuständig. Bislang hat sie keine neue Untersuchung der anhaltenden, schweren Verbrechen eröffnet, mit der Begründung, dass Libyen weiter zu instabil sei und ihr nötige Ressourcen fehlten.
Im August 2014 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat Resolution 2174, die den Verantwortlichen für schwerste Verbrechen in Libyen Sanktionen androhen, darunter Reiseverbote und das Einfrieren ihrer Vermögen. Angesichts der praktisch vollständigen Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten des Konflikts sollen die Mitglieder des Sicherheitsrats die Umsetzung dieser Resolution beschleunigen. Das kann dazu beitragen, dass die Krise nicht weiter eskaliert.
Im März 2015 richtete der UN-Menschenrechtsrat eine Untersuchungsmission unter Resolution 28/30 ein. Sie ist damit beauftragt, schwere Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts, des Kriegsrechts, mit dem Ziel zu untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die im Juli von der Hochkommissarin entsandte Ermittlungsmission soll auch systematische Willkürhaft, Folter und andere Misshandlung in libyschen Gefängnissen untersuchen.
„Die libyschen Behörden haben alle Regeln über die Rechte von Gefangenen über Bord geworfen und ignorieren die anhaltende Folter und Misshandlungen“, so Salah. „Andere Regierungen und die Mitglieder des Sicherheitsrats sollen Druck auf die zuständigen Stellen ausüben, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und alle Gefangenen zu entlassen, die willkürlich und ohne Rechtsgrundlage im Gefängnis sitzen. Ansonsten steht den libyschen Behörden womöglich selbst eine Untersuchung bevor.“