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Kolumbien: Kaum Hilfe für misshandelte und vertriebene Frauen

Täter sollen verfolgt, die Gewalt- und Vergewaltigungsopfer medizinisch versorgt werden

(Washington DC) – Die kolumbianischen Gesetze zu Gewalt gegen Frauen schützen Betroffene nicht ausreichend, die durch den bewaffneten Konflikt vertrieben wurden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Ein sehr großer Teil der etwa zwei Millionen binnenvertriebenen Frauen und Mädchen erlebt Vergewaltigung und häusliche Gewalt. Entmutigende Hürden erschweren ihre medizinische Versorgung, ihren Zugang zur Justiz und zu Schutzleistungen.

Der 101-seitige Bericht „Rights Out of Reach: Obstacles to Health, Justice, and Protection for Displaced Victims of Gender-Based Violence in Colombia“ dokumentiert, dass sich die jüngsten Verbesserungen von Gesetzen, politischen Maßnahmen und Programmen gegen Vergewaltigung und häusliche Gewalt nicht niederschlagen in effektiverer Strafverfolgung, medizinischer Versorgung und Schutz von Flüchtlingsfrauen und -mädchen. Mehr als die Hälfte der etwa vier Millionen binnenvertriebenen Menschen in Kolumbien ist weiblich.

„Viele Frauen und Mädchen haben nicht nur mit ihren Fluchterfahrungen zu kämpfen, sondern sind auch traumatisiert durch Vergewaltigungen und häusliche Gewalt“, so Amanda Klasing, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Obwohl in den letzten Jahren gute Gesetze und Maßnahmen beschlossen wurden, ist es für viele Betroffene immer noch sehr schwer, die notwendige medizinische Behandlung zu bekommen. Und sie erleben äußerst selten, dass ihre Peiniger zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die offiziellen Zahlen von Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt sind in Kolumbien insgesamt hoch. Landesweite Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass es unter den Binnenvertriebenen noch mehr Betroffene gibt. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung aus dem Jahr 2011 kommt zu dem Ergebnis, dass fast 48 Prozent der binnenvertriebenen Frauen häusliche Gewalt erleben. Mehr als neun Prozent wurden von einer Person, die nicht ihr Ehemann ist, vergewaltigt. Im Vergleich dazu gaben 37 Prozent der Frauen aus der allgemeinen Bevölkerung an, dass ihr Partner gegen sie gewalttätig ist, und sechs Prozent, dass sie von einer anderen Person als ihrem Partner vergewaltigt wurden. Diese Zahlen stammen aus einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2010. Allerdings sind die offiziellen Angaben nur begrenzt aussagekräftigt, vor allem wenn es um sexuelle Gewalt im Zusammenhang mit Konflikt und Vertreibungen geht. Human Rights Watch fordert die Regierung auf, entsprechende Daten zu erheben. So kann sie Gesetze und politische Maßnahmen besser auf den Schutz von binnenvertriebenen Frauen und Mädchen abstimmen.

Human Rights Watch befragte 80 vertriebene Frauen und Mädchen, die fast alle vergewaltigt wurden oder häusliche Gewalt erleiden und in vier Großstädten leben. In den Bericht gingen darüber hinaus die Aussagen von mehr als 100 Regierungsangehörigen, Mitarbeitern im Gesundheitswesen, Anwälten und anderen Dienstleistern und Angehörigen der Zivilgesellschaft ein, die intensiv mit Überlebenden von Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt zusammenarbeiten.

Eine der befragten Frauen wurde über zehn Jahre hinweg fünf Mal vergewaltigt, ebenso ihre Schwester und deren fünfjährige Tochter.

„Wenn die Täter nicht bestraft werden, untergräbt dies nicht nur das kolumbianische Recht, sondern ermutigt sie auch dazu, wieder zu vergewaltigen“, sagt Klasing.

Zu späte und verweigerte Versorgung

Die aus ihrer Heimat vertriebenen und oftmals armen Frauen und Mädchen kennen nur selten die medizinischen und rechtlichen Einrichtungen an ihrem neuen Wohnort, an die sie sich wenden können, wenn sie vergewaltigt oder von ihrem Partner misshandelt werden. Viele können sich öffentliche Verkehrsmittel oder andere Dienstleistungen nicht leisten, vertrauen den Behörden nicht und fürchten die Rache der Täter.

Es ist entscheidend, dass Überlebende von Gewalt und Vergewaltigung schnell medizinisch behandelt werden. Aber binnenvertriebene Frauen und Mädchen berichten, dass sie zu spät versorgt werden, dass ihnen Hilfe verweigert wird und dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen sie schlecht behandeln. Ihren Aussagen zufolge versäumen die Angestellten oft, nach Zeichen von Misshandlung zu suchen. Manchmal verletzt das Krankenhauspersonal seine Schweigepflicht und behandelt die Betroffenen in unangemessener Weise. Einige Angestellte im Gesundheitswesen haben nicht einmal grundlegendes Wissen über die Behandlung von Vergewaltigungs- und Gewaltfällen. Sie geben an, dass sie auch nicht lernen, mit binnenvertriebenen Betroffenen umzugehen. In einigen Fällen haben medizinische Einrichtungen die Behandlung so lange hinaus gezögert, dass eine Schwangerschaft nicht mehr verhütet oder eine sexuell übertragbare Infektion nicht mehr vorhindert werden konnte.

Auch im Justizsystem sind die betroffenen Frauen mit massiven Hürden konfrontiert. Unter anderem werden sie von den Behörden schlecht behandelt und müssen Beweise vorlegen, die sie oft nicht erbringen können. Betroffene und Anwälte sagen aus, dass Beamte Überlebenden von Vergewaltigungen oft erniedrigende Fragen stellen - über ihre Sexualgeschichte, ihre Kleidung und die Art, wie sie den Übergriff provoziert haben.

„Wenn du [es] bei den Familienbeauftragten anzeigen willst, sagen sie: ‚Er hat dich geschlagen, weil du irgendetwas gemacht hast‘“, sagt ein Mitglied einer Arbeitsgruppe für Frauen in Cartagena.

Obwohl Fälle von Gewalt auf Grund des Geschlechts ohne physische Beweise untersucht werden können, erleben Betroffene, dass Staatsanwälte die Täter nicht verfolgen, wenn solche Beweise nicht vorliegen. In manchen Fällen konnten die Betroffenen keine physischen Beweise vorlegen, weil sie nicht rechtzeitig rechtsmedizinisch untersucht worden waren. So berichtete die Überlebende einer Vergewaltigung, dass die Rechtsmediziner sie erst nach zehn Tagen untersuchten, so dass keine Spuren mehr gesichert werden konnten.

Humanitäre Hilfsprogramme für Binnenvertriebene berücksichtigen nicht ausreichend, dass häusliche Gewalt den Zugang zu Unterstützung behindern kann. Humanitäre Hilfe wie Nahrungsmittel, Unterkünfte und medizinische Versorgung erhalten Familien nur, wenn sie sich offiziell als Binnenvertriebene registrieren lassen. In der Regel meldet der Ehemann die Familie in seinem Namen an. Dann fühlen sich Betroffene von häuslicher Gewalt oft gefangen. Zwar können Frauen ihre Registrierung ändern, wenn sie sich von einem gewalttätigen Partner trennen, aber das wissen nur die wenigsten. Viele sagen, dass sie sich entscheiden mussten, ob sie bei ihrem gewalttätigen Partner bleiben oder die lebensnotwendige, humanitäre Unterstützung verlieren wollten.

Gute Gesetze, schlechte Umsetzung

Die Gesetze und politischen Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Kolumbien zählen zu den fortschrittlichsten in der ganzen Region. Etwa erkennt ein Gesetz zur Prävention und Verfolgung von Gewalt gegen Frauen aus dem Jahr 2008 an, dass alle Regierungsbehörden koordiniert zusammenarbeiten müssen, um weibliche Gewaltopfer umfassend zu unterstützen. Das Gesetz erweitert wichtige Rechtsansprüche der Betroffenen, unter anderem auf Informationen, medizinische und andere Leistungen, Schutz und Entschädigung.

Auch das kolumbianische Strafrecht, Gesetze über die Rechte von Binnenvertriebenen und Urteile des Verfassungsgerichts umfassen Rechte und Rechtsmitteln für von Gewalt betroffene Frauen.
Darüber hinaus hat Kolumbien innovative Schutzmaßnahmen für Betroffene von Gewalt auf Grund des Geschlechts und für Menschenrechtsverteidiger entwickelt. Diese Programme bieten essentielle, manchmal lebenswichtige Unterstützung. Dennoch kritisieren binnenvertriebene Aktivistinnen genau wie Anwälte und Personen, die mit Betroffenen arbeiten, dass diese Maßnahmen speziell für binnenvertriebene Frauen schlecht greifen. Ein wesentliches Problem ist, dass Kinder in der Praxis nicht von den Schutzmaßnahmen profitieren, die ihnen von der Nationalen Schutzeinheit zugesprochen wurden - und das, obwohl sie bedroht werden und sie laut eines Protokolls des Innenministeriums in Schutzmaßnahmen einbezogen werden dürfen.

Human Rights Watch empfiehlt der kolumbianischen Regierung, die Gesetzeslücken zu schließen, um binnenvertriebene Frauen zu unterstützen, die von sexueller und häuslicher Gewalt betroffen sind. Sie soll folgende Schritte unternehmen:

  • sie soll eine unabhängige Kommission einrichten, die umfassend die gegenwärtige Praxis in Institutionen untersucht, die Betroffene behandeln oder anderweitig unterstützen;
  • sie soll aussagekräftige Daten über das Ausmaß von geschlechtsspezifischer Gewalt im Zusammenhang mit Konflikt und Vertreibung erheben;
  • sie soll Weiterbildungsprogramme für Angestellte im Gesundheits- und Justizsystem ausweiten, stärken und kontinuierlich vorhalten;
  • sie soll Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit durchführen, um binnenvertriebene Frauen und Mädchen vertraut zu machen mit ihren Rechten und den Leistungen, die ihnen zur Verfügung stehen; und
  • sie soll derzeit anhängige Gesetze verabschieden, die den Zugang zur Justiz für Betroffene von sexueller Gewalt regeln, um die erfolgreiche, strafrechtliche Verfolgung der Täter zu ermöglichen.

Zurzeit ist im kolumbianischen Kongress ein Gesetz anhängig, das den Zugang zur Justiz für Überlebende sexueller Gewalt verbessern soll und einen Schwerpunkt auf den bewaffneten Konflikt setzt. Diese Gesetzesvorlage würde das Strafrecht so ändern, dass seine Vorschriften zu sexueller Gewalt besser internationalen Standards entsprechen. Darüber hinaus benennt er eine Reihe wichtiger Rechte und Garantien für Betroffene von sexueller Gewalt. Etwa berechtigt er sie, Kopien aller offiziellen Dokumente zu erhalten, die mit ihrem Fall im Zusammenhang stehen. Ihre Sexualgeschichte soll als Beweis ausgeschlossen werden, wenn sie irrelevant für den Fall ist, und Unterstützungsmaßnahmen sollen an zugänglichen, sauberen, sicheren und vertraulichen Orten angeboten werden. Auch ermutigt der Gesetzesentwurf Angestellte im Justizsystem dazu, ihre amtlichen Befugnisse zu nutzen, um Fälle von sexueller Gewalt zu untersuchen und Straflosigkeit zu vermeiden.

„Das Gesetz ist von zentraler Bedeutung, weil es wesentliche Lücken im bestehenden Recht schließt - Lücken, die die Betroffenen erniedrigen und die Täter straflos davon kommen lassen“, so Klasing. „Wird es verabschiedet, muss die Regierung allerdings auch sicherstellen, dass es effektiv umgesetzt wird.“

Ausgewählte Aussagen aus dem Bericht

„Es war schwierig, nach der [sexuellen] Gewalt medizinisch behandelt zu werden. Erst nach zehn Tagen habe ich Hilfe bekommen.“
- Monica N. (Pseudonym), Bogotá, 22. Februar 2012. Monica ging unmittelbar nach ihrer Vergewaltigung im Jahr 2011 ins Krankenhaus, bekam aber erst nach zehn Tagen einen Termin bei einem Gynäkologen. Als sie endlich behandelt wurde, hatte sie bereits eine vaginale Pilzinfektion durch die Vergewaltigung. Ihre Ärzte informierten sie nicht über Möglichkeiten zu Notfallverhütung, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern.

„Ich hatte keine Orientierung. Kannte den Weg nicht, den ich gehen musste. Niemand sagte mir, was mit jedem Schritt passiert.“
- Viviana N. (Pseudonym), Cali, 7. Mai 2012. Viviana, die nach Cali vertrieben wurde, hat im Jahr 2007 Anzeige gegen ihren Mann erstattet, der sie jahrelang misshandelt hat. Der Staatsanwalt informierte sie nicht darüber, dass ihr weitere Unterstützung, auch medizinische Hilfe, zusteht.

„Sie [die Ärzte] glauben den Frauen nicht. Sie fragen die Betroffenen aus, um herauszufinden, ob sie die Vergewaltigung erfunden haben.“
- Paola A. Salgado Piedrahita, Anwältin, La Mesa por la Vida y la Salud de las Mujeres, 10. Mai 2012. Paola hat bereits mit Duzenden Überlebenden von Vergewaltigungen zusammengearbeitet, die Abtreibungen durchführen lassen wollten, und unterstützte sie bei der Suche nach kostenloser Rechtsvertretung.

„Dieser Mann wird mich umbringen und nichts wird passieren.“
- Dolores G. (Pseudonym), Cartagena, 24. April 2012. Dolores‘ Familie floh im Jahr 2002 nach Cartagena, wo ihr Ehemann sie massiv misshandelte. Sie suchte Hilfe bei Polizei und Staatsanwaltschaft, aber sie boten ihr keinen Schutz. Sie verließ ihren Ehemann, aber er verfolgte und vergewaltigte sie mit vorgehaltener Pistole. Daraufhin floh sie in ihre Heimatstadt, wurde dort aber von bewaffneten Männern bedroht und kehrte zu ihrem Mann nach Cartagena zurück. Dort erlitt sie sechs weitere Jahre lang seine Misshandlungen.

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