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Putins Denkfehler

Eine schwangere Menschenrechtlerin ins Visier zu nehmen war ein Fehler. Die Welt muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

Veröffentlicht in: Foreign Policy

Es überraschte mich nicht, dass sie Ziel von Drohungen wurde: Tanja Lokschina, das unerschrockene Gesicht von Human Rights Watch in Moskau, war den russischen Behörden schon seit langem ein Dorn im Auge. Hinter ihrer zierlichen Gestalt und ihrem lässigen Auftreten verbirgt sich ein Mut und eine Hartnäckigkeit, die selbst unter den führenden Menschenrechtlern der Welt ihresgleichen suchen. In den dunkelsten und blutigsten Tagen des Tschetschenienkriegs war Tanja eine der wenigen, die bereit waren, die Gefahren auf sich zu nehmen, die nötig waren, um die wahllose Zerstörung, Folter und die Praxis des „Verschwindenlassens“ zu dokumentieren, die Putins Antwort auf die Erhebung kennzeichneten. Mit derselben außergewöhnlichen Entschlossenheit machte Tanja auf Gräueltaten in den kriegsgeschüttelten Kaukasusprovinzen Inguschetien und Dagestan und – gerade in den letzten Monaten – auf die zunehmende Unterdrückung kritischer Stimmen in Moskau aufmerksam.

Und dennoch war ich, als die Drohungen eingingen, erschüttert über deren Niedertracht und Schamlosigkeit. Die offensichtlich schwangere Tanja hatte geplant, vor ihrem Mutterschaftsurlaub noch eine letzte Ermittlungsmission nach Dagestan zu unternehmen. Doch irgendjemand schien dies verhindern zu wollen.

Die Drohungen kamen vergangene Woche per SMS. In der schlecht getarnten Absicht Tanja Verbindungen zu den islamistischen Aufständischen in Dagestan zu unterstellen, gab der Absender vor, im Namen einer Rebellengruppe zu sprechen, wobei er sogar „Allah“ falsch buchstabierte.

Die meisten der Textnachrichten ließen bewusst durchscheinen, dass der Absender und seine Komplizen Tanja beobachteten. Die Autoren behaupteten, sie seien „in der Nähe“ und hätten sie im Visier. Ferner prophezeiten sie Tanja eine „schwere Geburt“. Sie erwähnten private Details über ihre Bewegungen und die ihrer Verwandten, ihre Schwangerschaft und ihre inoffizielle Wohnanschrift. Über einige der Informationen konnte nur jemand verfügen, der Tanjas Kommunikation abhören und sie observieren konnte.

Die Drohungen zielten zweifellos darauf, Tanja einzuschüchtern, um sie und Human Rights Watch zur Beendigung ihrer Berichterstattung aus Russland zu zwingen. Stattdessen gingen wir in einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. In einem letzten Versuch, uns zur Absage der Konferenz zu bewegen, drohten zwei am Morgen des anberaumten Termins eingegangene Textnachrichten mit der Veröffentlichung pikanter Details aus Tanjas Privatleben. Wir ignorierten dies und erklärten vor der Presse, dass wir von nun an mit doppelter Entschlossenheit über Menschenrechtsverletzungen in Russland berichten würden.

Tanjas Schicksal ist bezeichnend für die fortschreitende Unterdrückung der Menschenrechtsbewegung und der Zivilgesellschaft in Russland. Die Massendemonstrationen gegen den angeblichen Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen und gegen Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt im Dezember 2011 haben Putins Selbstbewusstsein offenbar erschüttert. Die gemäßigte Ära von Dimitri Medwedew ist vorbei. In der Hoffnung weitere Proteste in Schach zu halten und die seit langem gefürchtete „Farbrevolution“ zu verhindern, dreht Putin nun die Daumenschrauben enger.

Die Folge ist eine Vielzahl repressiver Gesetzentwürfe, Gesetze und Praktiken. Den Teilnehmern nicht genehmigter Demonstrationen drohen nun exorbitante Bußgelder, die zwar ähnliche Höhen erreichen wie Bußgelder im Strafrecht, jedoch, da sie im Ordnungsrecht angesiedelt sind, ohne die hohen Anforderungen eines Strafverfahrens verhängt werden können. Menschenrechtsorganisationen, die Spenden aus dem Ausland entgegennehmen, werden seit kurzem mit der Bezeichnung „Auslandsagenten“ dämonisiert. Die Entwicklungshilfeagentur der USA, die zahlreiche russische NGOs finanziell unterstützt, wurde des Landes verwiesen. Der vormals abgeschaffte Straftatbestand der Verleumdung wurde wiedereingeführt. Eine Ausweitung des Gesetzes über Landesverrat befindet sich derzeit in Arbeit, maßgeschneidert, um Menschenrechtler von internationaler Lobbyarbeit abzuschrecken.

Derzeit laufen Verfahren gegen 17 Demonstranten unter zumeist fragwürdiger Anklage, 12 von ihnen befinden sich in Haft. Kurzzeitige Inhaftierungen nach Protestkundgebungen sind zur Routine geworden und kommen massenhaft zum Einsatz. Bislang wurden nur wenige Strafverfahren zu Ende geführt. Im prominentesten Fall – der Verurteilung der Frauen von „Pussy Riot“ wegen eines 40 Sekunden langen Putin-feindlichen „Punk-Gebets“ in einer orthodoxen Kirche – ging der Kreml gegen ein leichtes Opfer vor, um bei Putins konservative Anhängerschaft im russischen Hinterland zu punkten.

Die neuen Gesetze sollen offenbar alte Ängste wecken, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die andauernden Proteste zu entmutigen. Die Behörden scheinen darauf zu spekulieren, dass die Erinnerung an die Sowjetherrschaft noch lebhaft genug ist, um eine Vorstellung davon zu geben, wie sich eine offene Unterdrückung darstellen könnte.

Doch Putin, der für seine Verachtung des Internets und der liberalen Protestbewegung berüchtigt ist, irrt sich, wenn er glaubt, eine Rückkehr in die Vergangenheit sei einfach. Trotz der jüngsten Restriktionen gibt es in Russland heute eine dynamische Bürgergesellschaft. Die sozialen Medien erfreuen sich größter Beliebtheit und ermöglichen es jedem, die Kreml-freundliche Propaganda zu umgehen, die von Kreml-treuen TV-Sender verbreitet werden. Die völlige Fragmentierung der Gesellschaft, eine Grundvoraussetzung der Sowjetherrschaft, gehört der Vergangenheit an.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Veränderungen schnell oder einfach erreichen lassen. Kaum jemand bezweifelt, dass der Kreml bereit ist, die neuen, von der Duma bereitwillig absegneten Repressionsinstrumente auch einzusetzen. Unschöne Auseinandersetzungen wie im Fall von Tanja Lokschina weden unvermeidbar sein.

Die internationale Gemeinschaft kann einen Beitrag leisten, indem sie anhaltenden Druck auf Putin aufbaut und all denen, die nach mehr Demokratie streben, deutlicher ihre Solidarität bekundet. US-Präsident Obama sollte, so sehr er Russlands Hilfe in Afghanistan, dem Iran und Syrien auch benötigt, endlich aufhören von einem „Neustart“ in den Beziehungen mit Putin zu sprechen – einem Mann, der erwiesenermaßen versucht, die Uhr bis in Sowjetzeiten zurückzudrehen. Die von Deutschland geprägte Russlandpolitik der Europäischen Union darf Russland nicht mehr nur als Gaslieferant betrachten und sollten von der irrigen Ansicht abkommen, deutliche Worte gegenüber Moskau entsprächen einer Rückkehr in den Kalten Krieg.

Westliche Regierungen haben Tanja deutlich und wortreich ihre Unterstützung bekundet. Ich kann nur hoffen, dass sie dies beherzigen, wenn sie sich das nächste Mal mit dem Kreml treffen. Auch wenn es Putin missfällt, sollten sie ihm zu verstehen geben, dass Russland sich in der internationalen Arena nur Respekt und die für eine Modernisierung seiner zunehmend einseitigen Wirtschaft nötigen normalen Beziehungen zum Ausland, nur erreichen kann, wenn es die Art von Einschüchterung der Bürgergesellschaft beendet, die am Beispiel dieser unbeugsamen schwangeren Menschenrechtlerin deutlich wird.

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