- Die Eingriffe der ungarischen Regierung in die Medienfreiheit hindern Journalist*innen daran, Behörden in die Pflicht zu nehmen und verwehren der Öffentlichkeit den Zugang zu Informationen.
- Die verstärkte Kontrolle der Regierung über die Medienlandschaft steht im Zusammenhang mit ihrem umfassenden Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, darunter auch die Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz.
- Die EU muss den Angriff auf die Medien als Teil der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die Regierung erkennen und Maßnahmen dagegen ergreifen, auch im Rahmen von Artikel 7 des EU-Vertrags.
(Berlin, 13. Februar 2024) - Die Eingriffe der ungarischen Regierung in die Medienfreiheit und den Medienpluralismus, die Teil ihres systematischen Angriffs auf die Rechtsstaatlichkeit sind, behindern die Arbeit unabhängiger Journalist*innen, welche die Behörden zur Rechenschaft ziehen, und verwehren der Öffentlichkeit den Zugang zu Informationen, so Human Rights Watch heute.
Der 29-seitige Bericht, „'I Can't Do My Job as a Journalist': The Systematic Undermining of Media Freedom in Hungary“ dokumentiert die zunehmenden Hindernisse und Einschränkungen für unabhängige Journalist*innen und Medien unter der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban.
„Das klare Ziel der Aushöhlung der Medienfreiheit ist es, zu verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, was die Regierung tut oder sie zur Rechenschaft zieht“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Europäische Union muss den Angriff auf die Medien als Teil der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die ungarische Regierung erkennen und Maßnahmen ergreifen, um dagegen vorzugehen, etwa indem sie das Verfahren nach Artikel 7 entschieden vorantreibt.“
Seit 2010 hat das regierende Fidesz-KDNP-Bündnis seine Macht genutzt, um die Medienfreiheit und -vielfalt gezielt zu untergraben. So übernahm es etwa die Kontrolle über die Medienaufsichtsbehörde. Regierungsfreundliche Sender können die Medienlandschaft dominieren, da die Aufsichtsbehörde die politische Kontrolle über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausübt und regierungsfreundliche Sender finanziell besserstellt.
Unabhängige und investigative Journalist*innen werden in ihrer Arbeit stark beeinträchtigt. So werden sie u.a. überwacht, bedroht und haben nur einen eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu Entscheidungsträger*innen und relevanten Informationen. Zudem werden sie Opfer von Verleumdungskampagnen durch regierungsnahe Medien. Im Bericht von Reporter ohne Grenzen 2023 über die weltweite Pressefreiheit steht Ungarn auf Platz 72 von 180 Ländern.
Human Rights Watch befragte Vertreter*innen von Medienorganisationen, Journalist*innen und Redakteur*innen sowie einen Medieninhaber, die von den Auswirkungen der Repressalien betroffen sind. Die Angriffe auf die freie Presse finden vor dem Hintergrund der anhaltenden Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit durch die Regierung, der Vereinnahmung öffentlicher Institutionen und der Unterdrückung von Gruppen der Zivilgesellschaft und regierungskritischen Stimmen statt.
Die Regierung reagierte nicht auf die Kommentare zu den Rechercheergebnissen. Die Medienaufsichtsbehörde gab jedoch in einem Schreiben vom Dezember an, die Behörde sei unabhängig und es gebe einen Ernennungsprozess, der im nationalen Recht verankert ist. Ferner gab die Behörde an, es sei die Aufgabe der Rundfunkanstalt öffentlich-rechtliche Medien- und Nachrichtensendungen anzubieten und die Unabhängigkeit dieser Sendungen sicherzustellen.
Human Rights Watch stellte fest, dass die Regierung ihr Quasi-Medienmonopol nutzt, um ihren Einfluss auf die demokratischen Institutionen zu stärken. Diese Verzerrung der Medienlandschaft behindert die Arbeit unabhängiger und investigativer Journalist*innen und hindert die ungarische Öffentlichkeit am Zugang zu verlässlichen und sachlichen Informationen, die nötig sind, um fundierte politische Entscheidungen zu treffen.
Nachdem die Fidesz-Partei die Wahlen von 2010 gewonnen hatte, begann die Regierung, die Kontrolle über die Medien zu übernehmen. Sie nutzte ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament, um das Mediengesetz zu überarbeiten, und besetzte die Medienaufsichtsbehörde und ihren Medienrat mit loyalen Fidesz-Anhänger*innen. Die Regierung entließ über 1.600 Journalist*innen und Medienmitarbeitende der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt (MTVA) und ersetzte sie durch regierungsnahe Sprecher*innen, wodurch die MTVA faktisch zu einem staatlich kontrollierten Sender wurde. Aktuelle und ehemalige MTVA-Mitarbeitende berichteten Human Rights Watch, dass den Reporter*innen von ihren Redakteur*innen vorgeschrieben wird, was und wie sie zu berichten haben und welche Begriffe sie zu verwenden oder zu vermeiden haben. Wenn ihnen das nicht gefällt, können sie ihre Sachen packen und gehen.
Das systematische Vorgehen der Regierung gegen unabhängige Medien verschärfte sich mit der Gründung der Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung im Jahr 2018, als der Orban-Regierung nahestehende Medieninhaber rund 500 Medien an die Stiftung übertrugen. Die Regierung umging die nationalen Wettbewerbsregeln, als Orban einen Erlass unterzeichnete, in dem es hieß, dass die Schenkungen der Medienunternehmen eine Angelegenheit von „nationaler strategischer Bedeutung und im Sinne der Öffentlichkeit“ seien.
Unabhängige Journalist*innen sagen, dass sie praktisch keinen Zugang zu öffentlichen Daten von staatlichen Institutionen oder Regierungsmitarbeitenden und Fidesz-Politiker*innen haben. Die Teilnahme an Pressekonferenzen der Regierung ist für unabhängige Journalist*innen und Presseorgane nur eingeschränkt oder gar nicht möglich.
Einige unabhängige Journalist*innen und Medien werden mittels Pegasus-Spionageprogrammen überwacht, andere sind regelmäßig mit Verleumdungskampagnen regierungsnaher Medien konfrontiert, wodurch ein Klima der Angst und Einschüchterung entsteht. Unabhängige Medien wurden geschlossen oder wechselten über Nacht den Besitzer und wurden regierungsfreundlich, darunter die Internetportale Origo und Index, wodurch der Zugang der Öffentlichkeit zu unabhängigen und sachlichen Informationen weiter eingeschränkt wurde.
Die zunehmende Kontrolle der Regierung über die Medienlandschaft steht im Zusammenhang mit ihrem umfassenden Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, darunter die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz und die staatliche Vereinnahmung öffentlicher Einrichtungen, so Human Rights Watch.
Das Europäische Parlament äußerte 2018 seine Besorgnis über den mangelnden Medienpluralismus in Ungarn, als es ein Verfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn einleitete, dem auf dem EU-Vertrag basierenden Mechanismus für den Umgang mit EU-Staaten, welche die Demokratie und Grundrechtsprinzipien gefährden. Im Mai 2023 verurteilte ein Ausschuss des Europäischen Parlaments den unrechtmäßigen Einsatz von Spionageprogrammen durch EU-Regierungen, darunter auch die ungarische, scharf.
Die Europäische Kommission sollte dringend erwägen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn auf der Grundlage des Medienfreiheitsgesetzes einzuleiten.
Der EU-Rat sollte seine Prüfung gemäß Artikel 7 über die Bedrohung der EU-Werte durch das Vorgehen der ungarischen Regierung vorantreiben, indem er spezifische und fristgebundene Empfehlungen zur Rechtsstaatlichkeit annimmt und eine Abstimmung durchführt, um festzustellen, dass ein eindeutiges Risiko einer ernsthaften Verletzung der EU-Werte in Ungarn besteht. Da Ungarn im Juli 2024 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird, ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Rat sofort handelt, um den demokratischen Rückschritt aufzuhalten, so Human Rights Watch.
„Die EU-Institutionen sollten das Verfahren nach Artikel 7 vorantreiben und ihre rechtlichen Durchsetzungsbefugnisse nutzen, um unabhängige Medien und die Informationsfreiheit zu schützen, die derzeit als Folge von Ungarns Abbau der Rechtsstaatlichkeit angegriffen werden“, sagte Williamson. „Unabhängiger Journalismus ist ein Eckpfeiler der Demokratie und entscheidend, um Regierungen für Machtmissbrauch zur Rechenschaft zu ziehen.“