Am 18. Oktober 2022 schrieb Human Rights Watch an die türkischen Behörden, um unsere Erkenntnisse vorzustellen und eine Antwort bis zum 1. November zu erbitten. Am 17. November erhielten wir eine Antwort des Präsidenten der Migrationsbehörde, die hier eingesehen werden kann.
(Ankara, 18. November 2022) - Die Türkei drängt routinemäßig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 73-seitige Bericht mit dem Titel „No One Asked Me Why I Left Afghanistan“ dokumentiert, wie die Türkei seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 vermehrt Pushbacks und Abschiebungen nach Afghanistan vorgenommen hat. Menschen aus Afghanistan werden in der Türkei daran gehindert, internationalen Schutz zu beantragen. Wenn ihnen die Abschiebung droht, haben sie oft keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Am 20. Oktober 2022 meldete das Präsidium für Migrationsmanagement im türkischen Innenministerium für das Jahr 2022 insgesamt 238.448 „irreguläre Migranten, deren Einreise in unser Land verhindert wurde“. Die meisten von ihnen kamen aus Afghanistan. Die Türkei hat in den ersten acht Monaten dieses Jahres 44.768 Menschen aus Afghanistan auf dem Luftweg nach Kabul abgeschoben. Das entspricht einem Anstieg von 150 Prozent gegenüber den ersten acht Monaten des Jahres 2021.
„Obwohl die Türkei zu Recht internationale Anerkennung und Unterstützung für die Aufnahme der größten Anzahl von Geflüchteten aller Länder weltweit erhält, drängt sie gleichzeitig viele Afghanen an ihren Grenzen zurück oder schiebt sie nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen“, sagte Bill Frelick, Direktor der Abteilung für Flüchtlinge und Migranten bei Human Rights Watch. „Die Türkei sollte diese routinemäßigen Abschiebungen an ihren Grenzen sofort stoppen und allen Menschen aus Afghanistan, denen die Abschiebung droht, ermöglichen, Asyl zu beantragen.“
Die Türkei hat weltweit die meisten Geflüchteten aufgenommen, schätzungsweise 3,9 Millionen Menschen, davon 3,6 Millionen Syrer mit vorübergehendem Schutz. Weitere 320.000 kommen größtenteils aus Afghanistan.
Human Rights Watch sprach mit 68 Afghanen. 38 von ihnen beschrieben insgesamt 114 Pushback-Vorfälle zwischen Januar 2021 und April 2022. Alle Männer und Jungen, die ohne weibliche Familienangehörige reisten, erlebten selbst oder beobachteten, wie türkische Behörden sie und andere, die sie begleiteten, schlugen oder anderweitig misshandelten. Viele sagten auch, dass die türkischen Grenzbehörden in ihre Richtung schossen, manchmal sogar direkt auf sie, als sie sich der Grenze näherten oder versuchten, diese zu überqueren.
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich Journalist bin, dass mein Leben in Gefahr ist und dass ich nach Europa und nicht in der Türkei bleiben will, aber sie haben mir nicht zugehört“, sagte ein 25-jähriger Journalist aus der Provinz Paktia, als er am 30. August 2021, kurz nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban, zurückgedrängt wurde. „Sie schlugen uns mit Schlagstöcken und mit der Art von Eisenstangen, die man auf dem Bau verwendet.“ Der Journalist erinnerte sich daran, dass die türkischen Grenzsoldaten abwarteten, um zu sehen, wann keine iranischen Wachen auf der anderen Seite waren. Dann drängten sie ihn und 29 andere zurück über die Grenze.
Seit der Machtübernahme haben die Taliban in ganz Afghanistan strenge Restriktionen verhängt, Rachemorde verübt und ehemalige Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte gewaltsam verschwinden lassen. Journalisten wurden inhaftiert und geschlagen, mutmaßliche Kämpfer des sog. Islamischen Staates (IS) wurden kurzerhand hingerichtet. Zudem haben die Taliban es versäumt, vom IS verfolgte Gruppen zu schützen, wie z.B. ethnische Hazaras.
Keiner der befragten Männer aus Afghanistan, die seit der Machtübernahme durch die Taliban ohne ihre Familien in die Türkei gekommen waren, konnte bei den Büros der Provinzdirektion für Migration einen Antrag auf internationalen Schutz stellen. Männern, die sich nicht als Teil einer Familiengruppe mit Frauen oder Kindern auswiesen, wurde routinemäßig mitgeteilt, dass die Ämter geschlossen seien oder keine Anträge von afghanischen Männern entgegennähmen, oder sie erhielten erst Monate später einen Termin. Wenn sie dann zu diesem Termin wiederkamen, konnten sie sich immer noch nicht registrieren lassen.
Im Februar 2022 erklärte der stellvertretende Innenminister Ismail Çataklı, dass in Ankara, Istanbul und 14 anderen Provinzen keine Anträge auf internationalen Schutz angenommen würden. Er sagte auch, dass in allen Stadtvierteln, in denen 25 Prozent oder mehr der Bevölkerung Ausländer sind, keine Anträge von Ausländern auf eine Aufenthaltsgenehmigung angenommen würden. Im Juni kündigte Innenminister Süleyman Soylu an, dass der Anteil ab 1. Juli auf 20 Prozent gesenkt und 1.200 Stadtteile für die Registrierung komplett gesperrt würden.
In der Zwischenzeit haben Polizei und Gendarmerie zahlreiche Afghanen ohne Papiere festgenommen. Oft haben sie diese gezwungen oder durch Täuschung dazu gebracht, so genannte freiwillige Rückführungsformulare zu unterschreiben, um sie dann nach Afghanistan abzuschieben. Die türkische Regierung hingegen hält an ihrer Version fest, dass es sich um freiwillige Ausreisen handelt.
Viele Afghanen, denen eine Abschiebung droht, haben keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder ihre Abschiebung auf andere Weise anzufechten. Ihre Unterschriften oder Fingerabdrücke auf Formularen zur freiwilligen Rückkehr werden oft erzwungen, durch Täuschung erlangt oder gefälscht.
Pushbacks verstoßen gegen mehrere Menschenrechtsverpflichtungen, darunter das Verbot der Kollektivausweisung gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren gemäß dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Grundsatz der Nichtzurückweisung gemäß der Flüchtlingskonvention von 1951. Letzterer verbietet die Rückkehr von Geflüchteten an Orte, an denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist. Auch das nationale türkische Recht verbietet eine solche Zurückweisung.
Da die türkischen Behörden den Zugang zu Asyl verweigern, Menschen, die sich als Geflüchtete ausweisen, gewaltsam zurückdrängen, und andere Übergriffe gegen Migranten und internationalen Schutz suchende Menschen begehen, erfüllt die Türkei nicht die Kriterien eines sicheren Drittlandes, die das EU-Recht in Artikel 38 der Asylverfahrensrichtlinie vorsieht, so Human Rights Watch.
„Kein EU-Mitgliedstaat sollte Menschen aus Afghanistan oder anderen Staatsangehörigen den Zugang zu Asyl unter dem Vorwand verweigern, die Türkei sei ein sicheres Drittland für sie“, sagte Frelick. „Die Unterstützung der EU für das Migrationsmanagement in der Türkei sollte an den Nachweis geknüpft werden, dass diese Unterstützung nicht dazu beiträgt, Menschen ihr Recht auf Asyl zu verweigern oder sie an Orte zurückzuschicken, an denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht wären.“