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Interview: Erste Rassismus-Forscherin für Europa bei Human Rights Watch

Almaz Teffera befasst sich mit systemischem Rassismus in Deutschland, Frankreich und Großbritannien

Nach vielen Jahren Arbeit im Bereich Rassismus und Menschenrechte hat Human Rights Watch im Oktober 2022 mit Almaz Teffera die erste Forscherin speziell für diesen Bereich in Europa eingestellt. Almaz‘ Arbeit wird sich auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien konzentrieren. Amy Braunschweiger spricht mit Almaz über ihre Leidenschaft für diese Arbeit, den Anstieg von Rassismus und rechtsextremer Politik in Europa und darüber, was diese neue Aufgabe für sie und die Organisation bedeutet.

Almaz Teffera, Forscherin zu Rassismus in Europa bei Human Rights Watch. © Human Rights Watch

Erzähl uns von Deiner neuen Aufgabe als unsere Rassismusforscherin für Europa.

Ich werde mich mit Diskriminierung aufgrund von Race, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit befassen und dabei auf unserer bisherigen Arbeit aufbauen. Menschen sind tagtäglich mit Rassismus konfrontiert, sei es durch Lehrkräfte in der Schule, bei der Arbeits- oder Wohnungssuche, durch rassistische Übergriffe der Polizei, durch Hürden bei der Gesundheitsversorgung oder durch die Art und Weise, wie sie am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft behandelt werden.

Weil sie mit Diskriminierung und vielleicht sogar Gewalt konfrontiert sind, haben viele Menschen Angst davor, in einem europäischen Land sie selbst zu sein, sei es als Schwarze*r, Jude oder Jüdin oder als Roma. Es gibt etwa jüdische Menschen hier in Deutschland, die Angst haben, ihren Glauben durch das Tragen einer Kippa oder den Besuch einer Synagoge zu zeigen.

Dies hängt mit der Normalisierung und dem Wiedererstarken der rechtsextremen Politik in Europa zusammen, die den bereits bestehenden Rassismus, Antisemitismus und die Diskriminierung noch verschärft. Wir hatten gerade Wahlen in Italien, wo eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft wurde und die neue Ministerpräsidentin gestellt hat.

Und dann ist da noch die Frage, wie sich der Kolonialismus und das Versäumnis, die daraus resultierenden Schäden zu beseitigen, auch heute noch auf politische Strukturen, Praktiken und die Rechte der Menschen auswirken.  

 

Was reizt dich an dieser Arbeit?

Das ist etwas sehr Persönliches. Ich bin eine schwarze Frau, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Ich habe eine Vielzahl von Rassismuserfahrungen gemacht, in der Schule, durch Fremde auf der Straße. Ich sehe, wie mein Vater in Deutschland behandelt wird. Meine Mutter ist weiß, mein Vater ist ein Geflüchteter aus Äthiopien, der schon länger in Deutschland lebt als Äthiopien. Trotzdem wird er behandelt, als gehöre er nicht in die deutsche Gesellschaft. Die Leute stellen uns Fragen wie: Wo kommt Ihr wirklich her? Wie kommt es, dass Ihr akzentfrei Deutsch sprecht? Am Flughafen wurde mein Vater von Grenzbeamt*innen aus der Schlange herausgeholt, um seine Papiere vorzuzeigen, bevor er überhaupt die Einreisekontrolle erreicht hatte.

Als Kind wusste ich, dass ich immer beweisen musste, dass ich in eine mehrheitlich weiße Gesellschaft gehöre. Ich wurde in eine Schublade gesteckt, ob ich das wollte oder nicht. Ich bin ein Mensch mit „Migrationshintergrund“. Das ist ein sehr hässlicher Begriff, finde ich. Fragen Sie jede Schwarze oder jeden Muslim hier. Er nimmt den Menschen ihre Herkunft und ihre Identität. Man ist nur noch ein Mischmasch von einem Menschen, der nicht weiß ist.

Ich bin mir natürlich sehr bewusst, dass ich eine weiße Mutter hatte. Für mich war klar, dass ich studieren würde. Andere Persons of Color in Deutschland und in anderen EU-Ländern haben dieses Privileg vielleicht nicht, da manche Eltern nicht wissen, wie sie Zugang zu Bildung oder zu bestimmten Jobs bekommen. Ich möchte dieses Privileg nutzen, um die Antirassismus-Bewegung zu stärken.

 

Mit welchen Rassismus-Problemen hat Europa zu kämpfen?

Ich habe mit Freund*innen und Familienmitgliedern immer privat über Rassismus gesprochen. Ich habe sogar einen Blog mit Gedichten über Rassismus gestartet. In Deutschland ist Rassismus ein Tabuthema. Wenn man sagt, dass es Alltagsrassismus gibt, stimmen die Leute zu. Aber wenn man sagt, es gibt strukturellen Rassismus in Deutschland, in Institutionen, dann klingt es schon ganz anders und die Leute sagen: „Nein, das stimmt nicht.“ Es ist, als würde man ihre Gesellschaft oder ihre Identität als rassistisch bezeichnen, und die Leute fühlen sich schnell angegriffen.

Aber man kann kaum erwarten, dass sich etwas ändert, wenn man nicht einmal über etwas reden oder sagen kann, dass es existiert, oder wenn der Schwerpunkt nur auf privaten Vorurteilen oder Hass liegt und nicht auf den strukturellen Problemen, die Menschen aus Minderheitengemeinschaften daran hindern, in den Genuss ihrer Rechte zu kommen.

Ich bin Deutsche, also spreche ich aus diesem Kontext. Unser ehemaliger Innenminister Seehofer sagte, es gebe „kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden“. Aber geleakte Mitteilungen und Chatgruppen von Polizeibeamt*innen zeigen, dass einige in rechtsextremen Gruppen aktiv sind.

In Frankreich führt HRW eine Sammelklage gegen den französischen Staat, der es versäumt hat, ethnisches Profiling durch die Polizei bei Identitätskontrollen zu verhindern. In Großbritannien gibt es den Windrush-Skandal, ein Beispiel für tiefgreifenden strukturellen und systemischen Rassismus, bei dem die Behörden schwarzen Brit*innen faktisch die Staatsbürgerschaft verweigerten, was dazu führte, dass sie ihre Arbeitsplätze, ihre Gesundheitsversorgung und Wohnungen verloren und von ihren Familien getrennt wurden.  

Außerdem erheben die Regierungen oft keine Daten zu ethnischer Herkunft und Race. Wie soll man Probleme angehen, ohne die Daten zu kennen?

 

Wie willst du deine neue Rolle angehen?

HRW hat zwar schon früher in Europa zum Thema Rassismus gearbeitet, aber es gibt andere, die sich in diesem Bereich viel besser auskennen als wir, darunter zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich ausschließlich mit der Bekämpfung von Rassismus befassen. Es ist wichtig, ihr Fachwissen zu respektieren und anzuerkennen und herauszufinden, mit welchen Themen sich HRW ihrer Meinung nach befassen sollte und wie wir am besten eine Menschenrechtsperspektive in die Arbeit zu Rassismus und Diskriminierung einbringen können. Ich möchte aufgeschlossen sein. Ich möchte zuerst zuhören.

Außerdem hat Human Rights Watch Erfahrung darin, Regierungen und mächtige Akteur*innen auf schwerwiegende Rechtsverletzungen aufmerksam zu machen, und unsere Recherchen werden von den Regierungen respektiert - selbst, wenn ihnen unsere Kritik nicht gefällt. Viele zivilgesellschaftliche Gruppen sind darin bereits versiert, während andere nicht denselben Status haben wie wir. Ich möchte sicherstellen, dass wir die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Gruppen stärken und ihnen mehr Raum am Tisch der politischen Entscheidungsträger*innen verschaffen.

Ich sehe durchaus Möglichkeiten für uns, mit den Gleichstellungsstellen zusammenzuarbeiten und sie zu stärken. Sie unterstützen Menschen, die von Diskriminierung oder Rassismus betroffen sind, und setzen sich für sie ein, indem sie Diskriminierungsfälle untersuchen und darüber berichten. Aber oft arbeiten diese Stellen nicht effizient, häufig mangelt es an Ressourcen, und die Menschen wissen nicht, wie sie sie erreichen können. Diese Stellen sind ein Ort, an dem wir Statistiken sammeln könnten, denn wie gesagt, es fehlen Zahlen.

Ebenso zeigen die Menschen rassistische Handlungen nicht bei der Polizei an, weil sie das Vertrauen in die Polizei verloren haben, da die Fälle von Rassismus bei den Strafverfolgungsbehörden zunehmen. Wir müssen das Ausmaß des strukturellen Rassismus in der Justiz und in öffentlichen Einrichtungen untersuchen, um Systeme zu schaffen, die alle Menschen schützen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder anderen Merkmalen.

Wir werden eng mit unseren Partner*innen zusammenarbeiten, um kurz- und langfristige Lösungen zu finden, die sicherstellen, dass die Rechte der Menschen im Hinblick auf Race, ethnische Herkunft und Religion geachtet werden und dass die betroffenen Menschen sich in Europa wieder sicher fühlen und dass sie Zugang zu Rechtsmitteln haben, wenn ihre Rechte verletzt werden.

 

Hast du bereits berufliche Erfahrungen Bereich Rassismus?

Als ich sah, wie mein Vater als Schwarzer Mann behandelt wurde, mit dem Wissen, dass er ein Geflüchteter war, wollte ich im Bereich Menschenrechte arbeiten. Meine beiden Masterabschlüsse habe ich in den Bereichen Menschenrechte, humanitäres Recht, Flüchtlingsrecht und internationales Strafrecht gemacht.

Ich habe an internationalen Strafprozessen in Kambodscha gearbeitet, die die verantwortlichsten Mitglieder des Regimes der Roten Khmer strafrechtlich verfolgt, die in den 1970er Jahren einen Völkermord in Kambodscha verübt hatten. Danach ging ich zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wo ich in der Anklagebehörde arbeitete.

Dann wechselte ich vom Strafrecht in den Bereich des Asylrechts in Großbritannien, was ich als einen Schritt in Richtung Antirassismusarbeit sah. Ich arbeitete als Sachbearbeiterin und, unterstützte Menschen in Großbritannien, die keine britische Staatsbürgerschaft hatten. Einige von ihnen waren von Obdachlosigkeit bedroht. Ich habe sie rechtlich beraten und ihnen beim Zugang zu Wohnraum, Sozialleistungen und Sozialhilfe geholfen. Ich habe auch an einem Geflüchtetenfall gearbeitet, der vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging. Danach arbeitete ich bei einer europäischen Dachorganisation von Nichtregierungsorganisationen, dem European Council of Refugees and Exiles in Brüssel, und setzte mich für den Schutz von Geflüchteten in der EU ein.

Es war jedoch immer mein Traum, bei einer internationalen Menschenrechts-NGO wie Human Rights Watch in Europa Antirassismusarbeit zu leisten.

 

Warum hat Human Rights Watch der Besetzung der Stelle in Europa Priorität eingeräumt?

HRW befasst sich seit langem mit Rassismus und Diskriminierung auf der ganzen Welt, unter anderem in den USA, Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika.

In Europa haben wir uns intensiv mit rassistisch motivierten Straftaten, diskriminierender Polizeiarbeit und Anti-Terror-Gesetzen sowie mit fremdenfeindlicher und rassistischer Migrationspolitik befasst. Meine Kolleg*innen, die in Europa arbeiten, haben erkannt, dass unsere Arbeit Lücken aufwies. Sie verfügten nur über begrenzte Kapazitäten, wenn es darum ging, sich mit dem Erbe des Kolonialismus und der Art und Weise, wie dieser den Rassismus in Europa prägt, zu befassen, und es brauchte dringend Kapazitäten für tiefere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Wir brauchten deshalb eine*n Forscher*in, der/die sich nur dem Rassismus widmet.

 

Worauf freust du dich besonders?

Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit einer Geflüchteten hier in Deutschland. Sie kommt aus Ostafrika und ist eine Grassroots-Aktivistin, die mit vielen Problemen des Rassismus konfrontiert ist. Ich sagte zu ihr: „Hey, ich werde diese Rolle übernehmen, ich bin total aufgeregt, ich kann es kaum erwarten, mit dir zusammenzuarbeiten, und ich kann es kaum erwarten, deine Arbeit unterstützen. Und sie sagte: „Wieso unterstützen? Es ist doch auch dein Kampf.“

Und sie erinnerte mich daran, dass es nicht nur darum geht, dass wir andere unterstützen. Es geht darum, dass wir alle Teil des Kampfes gegen Rassismus sein müssen.

 

*Bearbeitete und gekürzte Fassung.

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