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Video zeigt Hinrichtung armenischer Kriegsgefangener durch aserbaidschanische Truppen

Verantwortliche müssen zur Rechenschaft gezogen werden

Rauchschwaden und Brandspuren um den Berg Mets Ishkhanasar, Stand: 13. September 2022, 09:19 Uhr MEZ (11:19 Uhr Ortszeit). Satellitenbild     © 2022 Planet Labs PBC. Analysis and graphic © 2022 Human Rights Watch.

(Berlin) – Die Hinrichtung armenischer Kriegsgefangener durch mutmaßlich aserbaidschanische Truppen während der Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern im September 2022 stellt ein Kriegsverbrechen dar, für das die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Human Rights Watch hat ein Video untersucht, das Anfang Oktober in den sozialen Medien geteilt wurde. Darauf ist zu sehen, wie mutmaßlich aserbaidschanische Truppen mindestens sieben armenische Kriegsgefangene hinrichten.

Die aserbaidschanischen Behörden sollten sicherstellen, dass die von der aserbaidschanischen Staatsanwaltschaft eröffnete Untersuchung wirksam ist und dazu führt, dass die Verantwortlichen auf Truppen- und Führungsebene zur Rechenschaft gezogen werden.

„Soldaten, die sich bereits ergeben haben, zu töten, ist ein abscheuliches Kriegsverbrechen“, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Aserbaidschanische Behörden haben eine Untersuchung eingeleitet, die nicht nur dazu führen sollte, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt, sondern auch zentral dafür ist, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen.“

Die Hinrichtungen fanden während der Kämpfe zwischen armenischen und aserbaidschanischen Truppen statt, die Mitte September ausbrachen, als das aserbaidschanische Militär an der armenischen Grenze aufmarschierte und sie mehrmals überschritt. Die Kämpfe stellten einen weiteren Bruch der 2020 von Russland ausgehandelten Waffenruhe dar, die damals zu einem Ende der Feindseligkeiten rund um den ungelösten Bergkarabach-Konflikt geführt hatte.

Am 2. Oktober erklärte die aserbaidschanische Generalstaatsanwaltschaft, dass die Militärstaatsanwaltschaft eine „umfassende Untersuchung“ des Hinrichtungsvideos eingeleitet habe. Ziel sei es, zu klären, ob das Video echt sei, und falls ja, „die darauf zu sehenden Soldaten zu identifizieren […]. Im Zuge der Untersuchung werden auch rechtliche Schritte folgen.“

Human Rights Watch hat das 40 Sekunden lange Video mit unterschiedlichen Techniken geprüft, darunter Gesprächen mit Waffenexpert*innen und Mediziner*innen, einer Sprachanalyse sowie einer Rückwärtssuche von Bildern in geeigneten Suchmaschinen, um festzustellen, ob das Video bereits vor Mitte September im Internet veröffentlicht wurde.

Das Video wurde erstmals kurz vor Mitternacht (MEZ) des 1. Oktober auf Telegram veröffentlicht. Es zeigt mindestens 15 mutmaßlich aserbaidschanische Soldaten, die eine Gruppe von acht unbewaffneten Männern mit armenischer Militäruniform zusammentreiben. Das Tarnmuster auf den Uniformen der Soldaten passt zu dem der aserbaidschanischen Militärs, es sind jedoch keine Abzeichen zu erkennen. Ein Soldat in einer mutmaßlich aserbaidschanischen Uniform trägt eine Art Rucksack mit Funkausrüstung bei sich, was wiederum die Annahme bestätigt, dass es sich um aserbaidschanische Truppen handelt.

Nach 19 Sekunden ist auf dem Video zu sehen, wie ein Soldat mit einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow auf die Gruppe unbewaffneter Männer schießt, die auf dem Boden sitzen. Direkt nachdem die ersten Schüsse fallen, ist zu hören, wie jemand „Nicht schießen“ (vurma auf Aserbaidschanisch) ruft. Mindestens zwei weitere Soldaten eröffnen schließlich auch das Feuer. Die Schüsse finden aus nächster Nähe statt und dauern zunächst 12 Sekunden an. Bis zum Ende des Videos sind sporadisch weitere Schüsse zu hören.

Mindestens sieben der Männer werden offenbar tödlich getroffen. Rohini Haar, eine Notfallmedizinerin mit Expertise zum Thema Gesundheit und Menschenrechte, die als Lehrbeauftragte an der University of California-Berkeley School of Public Health tätig ist, erklärte Human Rights Watch gegenüber, dass die Überlebenschancen bei einem solchen, aus nächster Nähe erfolgenden Dauerbeschuss aus automatischen und halbautomatischen Waffen sehr gering seien.

Am 2. Oktober berichtete ein Twitter-Nutzer, dass sich der Ort der Hinrichtungen zwischen den Bergen Großer Ishkhanasar und Kleiner Ishkhanasar, in der Nähe des Sev-Sees befinde, an der südöstlichen Grenze von Armenien zu Aserbaidschan. Human Rights Watch kontaktierte den Nutzer, um mehr Informationen zu erhalten. Der Nutzer fragte zwar nach dem Grund der Nachfrage, gab jedoch keine Antworten. Einer am 5. Oktober veröffentlichten Analyse der französischen Tageszeitung Libération zufolge entstand das Video tatsächlich entlang der vom Twitter-Nutzer genannten Bergkette.

Human Rights Watch analysierte Satellitenbilder vom 13. und 14. September aus dieser Region und wandte eine Reihe von Techniken an, darunter 3D-Modellierung, Geolokalisierung sowie Fotogrammetrie. Bei dieser werden bei der Messungen mithilfe von Fotomaterial vorgenommen, um den Ort zu identifizieren, an dem das Video entstand. Human Rights Watch gelang es jedoch nicht, den exakten Ort der Aufnahmen unabhängig zu verifizieren.

Satellitenbilder vom 13. September um 9:19 Uhr vormittags zeigen Rauchwolken und Brandstellen im Bereich des Großen und Kleinen Ishkhanasar. 24 Stunden zuvor, am 12. September, sind auf den Satellitenbildern der Gegend weder Feuer noch Brandstellen zu erkennen. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Goris, einer Stadt im Süden von Armenien, die etwa 15 Kilometer vom Großen Ishkhanasar entfernt liegt, berichtete von Kampfhandlungen in der Region am Nachmittag des 13. September.

Die armenische Ombudsfrau berichtete gegenüber Human Rights Watch, dass der Vorfall sich am 13. September zwischen 6 und 7 Uhr morgens Lokalzeit ereignete. Der niedrige Sonnenstand im Video weist darauf hin, dass die Aufnahmen entweder im Morgengrauen oder bei Sonnenuntergang entstanden. Dass auf den Bergen kein Schnee zu sehen ist, spricht ebenfalls dafür, dass das Video im Spätsommer aufgenommen wurde.

Während des gesamten Videos ist eine männliche Stimme zu hören. Human Rights Watch konnte jedoch nicht feststellen, ob es sich dabei um die Person handelt, die das Video aufgenommen hat. Die männliche Stimme ruft wiederholt auf Aserbaidschanisch „Nicht schießen!“ (vurma) und „Stopp“ (saxla). Nach 30 Sekunden greift die Person, die augenscheinlich das Video aufnimmt, ebenfalls zu einer Waffe vom Typ Kalaschnikow und schießt mehrmals auf den Körper eines der am Boden liegenden Kriegsgefangenen.

Human Rights Watch untersuchte auch verschiedene Fotos, die am 13. September um 10:30 Uhr (MEZ) auf Telegram gepostet wurden, auf denen die mutmaßlichen Leichen von neun Männern in armenischer Militäruniform zu sehen sind. Human Rights Watch konnte zumindest zwei der Leichen den im Video zu sehenden Männern zuordnen. Die Umgebung auf allen Fotos und die im Video stimmen in hohem Maße überein.

Internationales Recht und das Kriegsrecht sehen vor, dass alle Parteien eines internationalen bewaffneten Konflikts ihre Kriegsgefangenen jederzeit human zu behandeln haben. Maßgeblich für die Behandlung von Kriegsgefangenen ab dem Moment ihrer Gefangennahme ist die dritte Genfer Konvention. Diese schützt Kriegsgefangene insbesondere „vor Gewalt oder Einschüchterung, Beleidigungen und der öffentlichen Neugier“. Es ist ein Kriegsverbrechen, Kriegsgefangene zu ermorden, zu foltern oder unmenschlich zu behandeln oder ihnen vorsätzlich großes Leid oder schwere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit zuzufügen.

Aserbaidschan ist abgesehen von seiner Bindung durch das Völkergewohnheitsrecht im Bereich der Menschenrechte und das humanitäre Recht auch Vertragspartei der Genfer Konvention, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die beiden letzten Abkommen verbieten ausdrücklich jegliche Form außergerichtlicher Hinrichtungen.

„Diese Soldaten waren gefangengenommen worden und hatten ihre Waffen niedergelegt“, sagte Williamson. „Diejenigen, in deren Gewahrsam sie sich befanden, hatten die Verpflichtung, sie human zu behandeln. Stattdessen scheint es so, als ob aserbaidschanische Truppen sie kaltblütig erschossen. Die Verantwortlichen müssen jetzt zur Rechenschaft gezogen werden.“

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