Schon mit der Bombardierung der Geburtsklinik in Mariupol, beging Russland ein Kriegsverbrechen. Nun gehen Bilder von ukrainischen Straßen um die Welt, gesäumt mit den toten Körpern von Zivilisten. Sie deuten auf weitere russische Kriegsverbrechen hin. Ein neuer Report sammelt nun Beweise. Am vergangenen Sonntag veröffentlichte Human Rights Watch, eine NGO, die sich für Menschenrechte einsetzt, einen Report zu mutmaßlich von russischen Soldaten verübten Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten Tschernihiw, Charkiw und Kiew.
Der Report deckt Verbrechen auf, die sich im Zeitraum zwischen dem 27. Februar und 14. März zugetragen haben. Darunter sind eine wiederholte Vergewaltigung in der Region von Kharkiv, die Hinrichtung eines Zivilisten in Butscha sowie die Hinrichtung von sechs weiteren Zivilisten in der Region von Tschernihiw. In Worsel, einem Dorf außerhalb von Kiew, warfen Soldaten eine Rauchgranate in einen Keller und erschossen eine Frau und ein Kind, die aus dem Keller flüchteten.
Sind das Einzelfälle oder ist das nur die Spitze des Eisbergs an Grausamkeiten der russischen Armee? Hugh Williamson, zuständig für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch, erklärt, ob es sich bei diesen mutmaßlichen Kriegsverbrechen um eine Strategie handelt und welche Konsequenzen auf die Verantwortlichen zukommen könnten.
VICE: Was ist ein Kriegsverbrechen?
Hugh Williamson: Das Kriegsrecht ist Teil des internationalen Völkerrechts. Es definiert die Regeln für alle Beteiligten eines militärischen Konflikts. Ziviles Eigentum, oder Infrastruktur, die von Zivilisten genutzt wird, wie zum Beispiel Schulen und Krankenhäuser, darf nicht zur Zielscheibe werden. Kriegsgefangene sollen geschützt werden und Soldaten müssen Zivilisten menschlich behandeln. Verstöße sollen dokumentiert werden. Zu den Verstößen gehören zum Beispiel Vergewaltigungen oder Hinrichtungen. Ein Kriegsverbrechen besteht, wenn solche Verstöße mit klaren, faktischen Beweisen belegt werden können.
Wie haben Sie die Informationen für den Report recherchiert?
Human Rights Watch beschäftigt sich schon seit dreißig Jahren mit der Ukraine und hat deshalb Zugang zu vielen Experten: Experten, die sich mit Konfliktsituationen auskennen und Open-Source-Experten, die Video- und Fotomaterial verifizieren. Wir haben Experten, die sich mit Waffen und illegalen Waffen der Kriegsführung befassen. In diesem Fall haben wir mit Menschen gesprochen und die Informationen zwischen den verschiedenen Quellen abgeglichen. In einem Fall haben wir fotografische Beweismittel genutzt.
Wie viele Betroffene haben Sie zu den Verbrechen befragt?
Die Geschichten von zehn Leuten haben wir im Report aufgeführt. Darüber hinaus sprachen wir aber mit einer Menge mehr Leute. Informationen zu vielen weiteren Fällen konnten wir nicht abgleichen und deshalb nicht vollends überprüfen. Dazu gehören drei weitere Fälle von sexualisierter Gewalt. Wir wollen natürlich nur Informationen in den Bericht aufnehmen, die wir vollständig verifizieren können. Dieser Report ist also das erste Resultat eines andauernden Interviewprozesses mit Menschen in den betroffenen Gebieten der Ukraine.
Sind die mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die der Report aufdeckt, Einzelfälle oder Teil der russischen Strategie?
Zu diesem Zeitpunkt können wir nur von Einzelfällen ausgehen. Wir sprechen von keinem Muster. Es ist jedoch möglich, dass solche Fälle allgemein verbreitet sind. Regierungsbeamte in Butscha berichten von zwei- bis dreihundert Leichen in der Stadt. Wir wissen nicht wie diese Leute getötet wurden. Aber wir als Organisation wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir wollen authentische Beweise liefern.
In Mariupol sind derzeit keine Journalisten mehr vor Ort. Könnte die Lage dort noch schwerwiegender sein?
Wir haben die Sorge, dass in größeren Städten, die wie Mariopol von Russland kontrolliert werden, sich ähnliche Verbrechen zugetragen haben könnten. Es kann sein, dass wir sie aufdecken, sobald wir Zugang zu dieser Region haben.
Russland behauptet nun diese Kriegsverbrechen seien gestellt. Wie schätzen Sie die russische Reaktion auf die Anschuldigungen ein?
Für mich bedeutet das, dass es wichtig ist für Organisationen wie die unsere, die Desinformation zu durchdringen, die Russland in Bezug auf den Krieg verbreitet. Unsere Aufgabe ist es, Fakten zu liefern. Die Videobeweise aus Butscha, auf die sich das russische Verteidigungsministerium bezieht, sind echt, soweit wir wissen. Aber bisher ist noch nicht klar, wie diese Menschen getötet wurden. Deshalb ist es wichtig, dass verbindliche Beweise gesammelt werden, die dann den offiziellen Ermittlern der Ukraine oder des internationalen Strafgerichtshofs präsentiert werden können. Für uns ist es wichtig, diese Fakten liefern zu können.
Wer trägt die Verantwortung, Kriegsverbrechen zu bestrafen?
Primär ist die Regierung, deren Soldaten die Verbrechen begehen, verantwortlich, Konsequenzen zu ziehen, zu ermitteln und falls nötig die Soldaten und deren Vorgesetzte zu verurteilen. Wir können leider nicht darauf vertrauen, dass Russland diese Schritte gehen wird. Deshalb müssen andere Instanzen aktiv werden. Die Ukraine ist gerade aktiv dabei, zu ermitteln und Beweise zu sammeln. Auch der internationale Strafgerichtshof ist unter diesen Instanzen, die Konsequenzen ziehen können. Deshalb ist es wichtig, dass die Beweismittel erhalten bleiben. In Butscha müssen die Leichen beispielsweise instand gehalten werden, damit forensische Ermittler Zugang zu den Beweismitteln haben.
Der Befehlshaber Ratko Mladić wurde für das 1995 in Srebrenica begangene Massaker vor fünf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt. Wie wahrscheinlich ist in den von Ihnen aufgedeckten Fällen eine Verurteilung der Verantwortlichen?
Es ist schwierig zu sagen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich das ist. Es ist einfach wichtig, mit der Beweisaufnahme weiterzumachen, um eine stichfeste Beweislage zu schaffen. Für den internationalen Strafgerichtshof verjähren diese Beweise nicht. Es könnte fünf oder zehn Jahre dauern. Ich hoffe, dass es nicht so lange dauert. Aber das wichtigste ist gerade, die Beweise zu sammeln. Dann werden die Verantwortlichen irgendwann zur Rechenschaft gezogen.