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Kasachstan: Schießbefehl ohne Vorwarnung zurücknehmen

Einhaltung von Rechten durch einheimische und ausländische Sicherheitskräfte sicherstellen; Tötungen untersuchen

Kasachische Bereitschaftspolizei blockiert Demonstranten, die sich während einer Demonstration in Almaty, Kasachstan, versammeln, 5. Januar 2022. © AP Photo/Vladimir Tretyakov

(New York) – Kasachstan sollte unverzüglich jeglichen Befehl außer Kraft setzen, der es Sicherheitskräften erlaubt, ohne vorherige Warnung tödliche Schüsse abzugeben, so Human Rights Watch. Mit einem solchen Befehl verletzt Kasachstan seine internationalen Verpflichtungen zur Achtung und zum Schutz des Rechts auf Leben.

Der Befehl erging, als einheimische Sicherheitskräfte und von Russland geführte Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) gegen Proteste im Land eingesetzt wurden. Im ganzen Land fanden tagelange, regierungsfeindliche Proteste statt und in Almaty, der größten Stadt des Landes, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Polizei und Sicherheitskräfte sollten jedoch ihr Möglichstes tun, um menschliches Leben zu schützen, und Gewalt, insbesondere tödliche Gewalt, nur als letztes Mittel einsetzen. Die verantwortlichen Behörden sollten dafür sorgen, dass jegliche Vorwürfe zu Übergriffen und unrechtmäßigen Tötungen zeitnah, unabhängig und eingehend untersucht werden.

„Kasachstan steckt mitten in der gewaltsamsten Krise seit der Unabhängigkeit, und die Welt schaut genau hin, ob die Regierung die grundlegenden Menschenrechte ihrer Bevölkerung achten wird“, sagte Letta Tayler, stellvertretende Direktorin für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Kasachische Behörden sind aufgerufen, sicherzustellen, dass alle eingesetzten Sicherheitskräfte bei ihren Handlungen auf den Schutz des menschlichen Lebens achten und zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie es nicht tun. Als allererstes sollte der ‚Schießbefehl ohne Vorwarnung‘ zurückgenommen werden.“

Präsident Qassym Schomart-Toqajew sagte in einer Fernsehansprache am 7. Januar 2022, dass er „einen Befehl zum Abgeben tödlicher Schüsse ohne Vorwarnung gegeben“ habe. Am 6. Januar, einen Tag nachdem kasachische Sicherheitskräfte im Rahmen einer Polizeioperation versuchten, die Ordnung in Almaty wiederherzustellen, berichteten offizielle Quellen, dass „Dutzende“ Protestierende und mindestens 18 Polizeibeamte getötet und mehr als 1.000 Personen verletzt worden seien. Videomaterial, das Human Rights Watch begutachten konnte, zeigt Sicherheitskräfte, die mit scharfer Munition schießen, sowie Bilder von Menschen in ziviler Kleidung, denen in den Kopf geschossen wurde und die tot zu sein scheinen.

Die Proteste begannen am 2. Januar dieses Jahres in Schangaösen, einer von der Ölindustrie geprägten Stadt im Westen Kasachstans, anlässlich der stark gestiegenen Gaspreise. Bis zum 4. Januar hatten sich die Proteste auf große Teile des Landes ausgeweitet. Tausende Demonstrierende forderten mit friedlichen Aktionen längst überfällige sozioökonomische und politische Reformen. Staatliche Stellen in Kasachstan schränken seit Langem die Grundrechte der Bevölkerung ein und lehnten Forderungen nach echten Reformen ab, etwa hinsichtlich der Einschränkungen bei der Ausübung des Rechts auf friedlichen Protest, auf freie Meinungsäußerung oder bei der Gründung oppositioneller Gruppen. Nicht zuletzt geht es auch um ein Ende der politisch motivierten Verfolgung von Regierungskritiker*innen.

Am 5. Januar nahm Präsident Toqajew den Rücktritt seiner Regierung an und deckelte aufgrund der Proteste erneut die Gaspreise. Neben diesen Maßnahmen reagierte er jedoch auch mit der Ausrufung eines landesweiten Ausnahmezustands, der ein Verbot großer Versammlungen und wiederholte Sperrungen des Internets vorsah. Die Folge war ein Informationsvakuum in weiten Teilen des Landes. Jegliche Einschränkungen der internationalen Verbindungen über das Internet oder auf anderem Wege – Maßnahmen also, die bereits 2016 durch den UN-Menschenrechtsrat verurteilt wurden – sollten unverzüglich aufgehoben werden, so Human Rights Watch. Neben den Verletzungen der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit erschweren solche Einschränkungen auch den Zugang zu Gesundheits-, Bildungs- und Sozialdiensten.

Als die Polizei am Nachmittag des 5. Januar versuchte, friedliche Demonstrationen in Almaty mit Tränengas, Blendgranaten und mindestens in einem Ort, Aktobe, mit einem Wasserwerfer aufzulösen, wehrten sich zahlreiche Demonstrierende in beiden Städten. Sie bewarfen die Beamt*innen mit Steinen und brachten einige Einsatzfahrzeuge in ihre Gewalt. Einige Einheiten gaben daraufhin auf oder zogen sich zurück. Das geht aus den Videos und Informationen aus sozialen Medien hervor, die Human Rights Watch begutachtete.

An diesem Abend griffen Personen in zivil Polizeibeamt*innen an und besetzten zahlreiche staatliche und öffentliche Gebäude in Almaty, wie das Rathaus und den internationalen Flughafen, wobei sie großen Schaden anrichteten. Zahlreiche Gebäude und Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt. Videos und Fotos aus sozialen Medien ebenso wie offizielle Verlautbarungen deuten darauf hin, dass es in verschiedenen Teilen der Stadt zu Plünderungen durch nicht identifizierte Personen kam. In einem Fall ist ein Mann zu sehen, der anscheinend an einer Plünderung teilnimmt und mit einer habautomatischen Waffe in die Luft schießt.

In den frühen Morgenstunden des 6. Januar bezeichnete Präsident Toqajew die Proteste und Ausschreitungen als „Akt der Aggression“ und rief die OVKS um Hilfe, ein Sicherheitsbündnis, dem sechs Staaten aus der Region angehören, im Kampf gegen „terroristische Banden […], die im Ausland ausgebildet wurden“. Weder führte er weitere Einzelheiten auf, noch legte er Beweise für seine Behauptungen vor. Innerhalb weniger Stunden kündigte der armenische Premierminister Nikol Paschinjan, der dem Bündnis aktuell vorsteht, den Einsatz von Friedenstruppen an. Späteren Berichten zufolge besteht diese Truppe aus mindestens 3.000 russischen Fallschirmjäger*innen sowie Truppen aus Belarus, Tadschikistan, Kirgistan und Armenien.

Nach einem Polizeieinsatz in Almaty später am Abend desselben Tages erklärte Polizeisprecher Saltanat Azirbek gegenüber Journalist*innen, dass „Dutzende von Angreifern eliminiert wurden und zurzeit identifiziert werden“.

Ein von Human Rights Watch begutachtetes Video von den Ereignissen des 6. Januar zeigt kasachische Sicherheitskräfte, die in den Straßen von Almaty mit scharfer Munition schossen. Ein lokales Medium, Orda.kz, berichtete, dass von einem auf einem Militärfahrzeug auf dem Platz der Republik in Almaty angebrachten Lautsprecher aus Umstehende gewarnt wurden: „Verlassen Sie den Platz, wir werden schießen!“ Korrespondent*innen verschiedener anderer lokaler Medien berichteten, dass kasachische Sicherheitskräfte auf unbewaffnete Demonstrierende schossen.

Der kasachische Innenminister gab am 7. Januar bekannt, dass 3.811 Personen verhaftet worden seien. Stunden zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft angekündigt, dass sie Voruntersuchungen zu den Vorwürfen des „Terrorismus“ und der „Organisierung und Teilnahme an Massenausschreitungen“ eingeleitet habe, und sie fügte hinzu, dass die Strafen für diese Verbrechen von 8 Jahren Gefängnis bis zu lebenslanger Haft reichen würden, einschließlich des Verlustes der Bürgerrechte.

Es ist unklar, wo oder unter welchen Bedingungen die Verhafteten festgehalten werden und ob sie Zugang zu einem Rechtsbeistand haben. Die Behörden sollten sicherstellen, dass alle in den letzten Tagen verhafteten Personen ihr Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in Anspruch nehmen können, wozu auch die Wahl eines Rechtsbeistands gehört, so Human Rights Watch.

Bereits seit Jahren greifen kasachische Behörden auf vage gehaltene und übermäßig weitreichende „Terrorismus“- und „Extremismus“-Gesetze zurück, um das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest willkürlich einzuschränken. Im Jahr 2019 schrieb die UN-Sonderberichterstatterin zu Menschenrechten und Terrorismusbekämpfung, Fionnuala Ní Aoláin, nach einem Besuch in Kasachstan, dass sie „zutiefst besorgt“ sei, wie diese Vorgaben gegen Kritiker*innen der Regierung und religiöse Minderheiten angewandt würden sowie auch darüber, dass sie genützt würden, um „die Arbeit der Zivilgesellschaft zu bekämpfen, zu marginalisieren und zu kriminalisieren“.

Am Abend des 6. Januar verkündete der Generalsekretär der OVKS, Stanislav Zas, dass ausländische Truppen, die nach Kasachstan verlegt wurden, „das Recht haben, Waffen einzusetzen, sollten sie durch bewaffnete Banden angegriffen werden“. Internationale Menschenrechtsnormen sehen vor, dass Sicherheitskräfte nur solche Maßnahmen anzuwenden, die zum Schutz der eigenen Person oder anderer Personen vor ernsten Bedrohungen erforderlich und angemessen sind. Tödliche Gewalt darf nur eingesetzt werden, wenn andere Maßnahmen, wie etwa eine Verhaftung, nicht möglich sind, um eine unmittelbare Gefährdung menschlichen Lebens abzuwehren.

Berichte über eine große Zahl an Todesopfern und Verletzten sowie die Bezeichnung der Protestierenden als „Terroristen“ durch die kasachische Regierung geben Anlass zur Sorge, dass Polizei und Militär übermäßig Gewalt anwenden, sogar gegen unbewaffnete Personen, sagte Human Rights Watch. Die Ankündigung des russischen Verteidigungsministeriums vom 7. Januar, wonach die OVKS-Truppen in Kasachstan dem Kommando von Generaloberst Andrei Serdjukow unterstellt würden, gab ebenfalls großen Anlass zur Sorge, so Human Rights Watch. Zwischen April und September 2019 war er Kommandeur in Syrien. Zu jener Zeit fand ein verheerender und rücksichtsloser Übergriff durch russische und syrische Truppen auf das Idlib-Gouvernement und umgebende Regionen statt, bei dem beinahe eine halbe Million Menschen vertrieben wurde.

Die kasachische Regierung sollte sicherstellen, dass sich die eigenen Polizeikräfte und das Militär sowie die OVKS-Truppen beim Einsatz von Gewalt strikt an internationale Rechtsnormen halten und die Öffentlichkeit schützen. Im Fall von Verbrechen sollten die Behörden sie zur Rechenschaft ziehen. Der Befehl zum „Schießen ohne Vorwarnung“ muss unverzüglich außer Kraft gesetzt werden, und die Einsatzregeln für einheimische und ausländische Sicherheitskräfte sowie deren Befugnisse zur Festnahme sollten klar definiert sein. Alle willkürlich verhafteten Personen, denen keine Gewalthandlungen vorgeworfen werden, sollten freigelassen und jeder willkürliche Vorwurf des „Terrorismus“ gegen sie fallen gelassen werden.

Die Regierung sollte zudem sicherstellen, dass OVKS-Truppen in Kasachstan Deeskalationstechniken einsetzen, nur auf verhältnismäßige und erforderliche Gewalt zurückgreifen sowie mit „weniger tödlichen“ Waffen ausgestattet und in ihrer Handhabung geschult sind. Blendgranaten sollten nicht gegen große Menschenmengen zum Einsatz kommen, und angesichts des winterlichen Wetters in Kasachstan sollten keine Wasserwerfer eingesetzt werden. Tränengas sollte nicht in geschlossenen Räumen zum Einsatz kommen. Internationale Standards beschränken den Einsatz weniger tödlicher Waffen auf die Verwendung als letztes Mittel zum Auflösen gewalttätiger Versammlungen, und selbst dann nur, falls dies erforderlich ist und entsprechend der Gefahrenlage als angemessen erachtet wird.

Truppen, die vor Ort im Einsatz sind, sollten immer annehmen, dass Versammlungen friedlich sind, selbst wenn die Behörden sie als unrechtmäßig bezeichnen, wenn es vereinzelt Ausbrüche von Gewalt gibt oder wenn externe Akteur*innen – etwa Gegendemonstrant*innen oder Provokateur*innen – Gewalt anwenden. Versammlungen sind häufig sehr divers aufgestellte Veranstaltungen, und Teilnehmer*innen verlieren nicht ihre Rechte, bloß weil einzelne Personen gewaltsam sind. Aufgrund des erhöhten Risikos einer Ansteckung mit dem Corona-Virus für Verhaftete und das Gefängnispersonal sollten Behörden davon absehen, Menschen festzuhalten, die schwere Körperverletzungen weder verursacht noch angedroht haben beziehungsweise nicht für solche Taten bekannt sind.

„Die Häufung von Berichten und Bildern aus Kasachstan, auf denen tote Demonstrant*innen sowie Truppen zu sehen sind, die wahllos mit scharfer Munition schießen, lässt darauf schließen, dass Polizei und Soldaten die Normen zur Anwendung von Gewalt missachten, die unter anderem den Schutz des Lebens zum Ziel haben“, so Tayler. „Die kasachische Regierung sollte keine Toleranz für den übermäßigen Gebrauch von Gewalt durch ihre Sicherheitskräfte oder durch ausländische Truppen im Land zeigen und für die Achtung internationaler Rechtsnormen sorgen.“

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