Die deutschen Parteien, die über Koalitionsvereinbarungen zur Bildung einer neuen Regierung verhandeln, sollten sich verpflichten, das Gesetz zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts zu ändern, so dass es auf Selbstbestimmung und nicht auf sogenannten Gutachten basiert, sagte Human Rights Watch heute. Während die Parteien versuchen, Vereinbarungen zu Schlüsselthemen wie Klima- und Außenpolitik, Migration und Wirtschaft zu treffen, sollten sie auch das derzeitige, pathologisierende und belastende Verfahren für transsexuelle Menschen zu Änderung ihres eingetragenen Namens und Geschlechts ansprechen.
„Das derzeitige Verfahren zur Anerkennung des Geschlechts in Deutschland entspricht nicht den Entwicklungen des internationalen Rechts und der medizinischen Wissenschaft“, sagte Cristian González Cabrera, LGBT-Rechtsforscher bei Human Rights Watch. „Alle politischen Parteien sollten sich in der nächsten Legislaturperiode auf eine Änderung des Status quo einigen und das Verfahren für alle Trans-Menschen unkompliziert und leicht zugänglich gestalten, ohne dass ein Gericht involviert werden muss. Grundlage des Verfahrens sollte die Selbstbestimmung sein.“
Das deutsche Transsexuellengesetz sieht vor, dass transsexuelle Menschen dem zuständigen Amtsgericht zwei Gutachten vorlegen müssen, um den Namen und das Geschlecht, mit dem sie sich identifizieren, rechtlich anerkennen zu lassen. Die Gutachten müssen bescheinigen, dass die antragstellende Person mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ nicht in ihr früheres rechtliches Geschlecht zurückkehren will. Das Gesetz sieht kein Mindestalter vor, ab dem eine transsexuelle Person die rechtliche Anerkennung des Geschlechts beantragen kann. Dieser Aspekt des Gesetzes sollte beibehalten werden.
Einem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2017 zufolge empfinden Antragsteller*innen das Prüfungsverfahren als demütigend. Einige Betroffene gaben an, dass sie, um die erforderlichen Gutachten zu erhalten, irrelevante Details aus ihrer Kindheit und ihrer sexuellen Vergangenheit preisgeben und sich sogar körperlichen Untersuchungen unterziehen mussten. Dem Bericht zufolge kann das Verfahren bis zu 20 Monate dauern und kostet durchschnittlich 1.868 Euro.
Die Parteien, die nach den Bundestagswahlen im September am ehesten eine Koalitionsregierung bilden werden, sind die SPD, die FDP und die Grünen. Diese Parteien haben bereits in der Vergangenheit erfolglos versucht, das deutsche Verfahren zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit unter der aktuellen Regierung zu reformieren.
Die SPD, quasi die Juniorpartnerin in der derzeitigen Regierungskoalition, gab im Januar 2021 bekannt, dass die Verhandlungen gescheitert seien, da die Unionsparteien (CDU/CSU) ein ausschließlich auf Selbstbestimmung basierendes Verfahren ablehnten. Die Grünen und die FDP, beide in der letzten Legislaturperiode in der Opposition, legten jeweils einen Gesetzentwurf zur Reform des Transsexuellengesetzes vor, der aber vom Bundestag abgelehnt wurde.
Immer mehr Länder auf der ganzen Welt haben belastende Anforderungen für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts abgeschafft, darunter medizinische oder psychologische Gutachten. Länder wie Argentinien, Belgien, Dänemark, Irland, Luxemburg, Malta, Norwegen, Portugal und Uruguay stellen die individuelle Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität in den Mittelpunkt und sehen einfache Verwaltungsverfahren auf der Grundlage von Selbsterklärungen vor. Costa Rica und die Niederlande haben Schritte unternommen, um die Geschlechtskennzeichnung in Ausweisdokumenten ganz abzuschaffen.
Die Entwicklung hin zu einfachen Verwaltungsverfahren auf der Grundlage von Selbsterklärungen entspricht wissenschaftlichen und menschenrechtlichen Standards. Die World Professional Association for Transgender Health, ein interdisziplinärer Berufsverband mit über 700 Mitgliedern weltweit, hat festgestellt, dass medizinische und andere Hindernisse für die Anerkennung des Geschlechts von Transgender-Personen, darunter diagnostische Anforderungen, „der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden können“. Die jüngste Internationale Klassifikation der Krankheiten, die im Januar 2022 in Kraft treten wird, sieht die formelle Entpathologisierung von Transidentitäten vor.
Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), dem auch Deutschland beigetreten ist, sieht gleiche bürgerliche und politische Rechte für alle vor, ebenso wie das Recht auf Anerkennung vor dem Gesetz und das Recht auf Privatsphäre. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der für die Auslegung des ICCPR zuständig ist, hat die Regierungen aufgefordert, die Rechte von Transgender-Personen zu gewährleisten, darunter auch das Recht auf rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Zudem hat der UN-Menschenrechtsausschuss die Länder aufgefordert, menschenrechtsverletzende und unverhältnismäßige Anforderungen für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität aufzuheben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied in der Rechtssache Goodwin gegen das Vereinigte Königreich (2002), dass der „Konflikt zwischen sozialer Realität und dem Gesetz“, der entsteht, wenn die Regierung die Geschlechtsidentität einer Person nicht anerkennt, einen „gravierenden Eingriff in das Privatleben“ darstellt. Auch die LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie der Europäischen Union (2020-2025) sieht die „zugängliche rechtliche Anerkennung des Geschlechts auf der Grundlage der Selbstbestimmung und ohne Altersbeschränkung“ als Menschenrechtsstandard in der Europäischen Union vor.
Nummer drei der Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der internationalen Menschenrechtsnormen in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität bekräftigt, dass die selbst definierte Geschlechtsidentität eines jeden Menschen „integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit und einer der grundlegendsten Aspekte von Selbstbestimmung, Würde und Freiheit“ ist.
Als Mitglied der Equal Rights Coalition, des Global Equality Fund und der LGBTI Core Group der Vereinten Nationen spielt Deutschland international eine wichtige Rolle beim Einsatz für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen Menschen (LGBTI). Im März 2021 hat sich die Bundesregierung mit einer LGBTI-Inklusionsstrategie dazu verpflichtet, hier aktiver zu werden. Diese Strategie zielt unter anderem darauf ab, die Rolle Deutschlands bei der Förderung der Rechte von LGBTI-Personen in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstitutionen zu stärken.
„Während Deutschland bei der Förderung der Rechte von LGBTI-Personen im Ausland nach wie vor eine Vorreiterrolle einnimmt, schadet sein veralteter Ansatz bei der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts von Trans-Personen seiner eigenen, nationalen Menschenrechtsbilanz“, sagte González. „In den aktuellen Koalitionsverhandlungen sollten die Gesetzgeber die Gelegenheit nutzen, um sicherzustellen, dass die Rechte von Transgender-Personen in Deutschland in vollem Umfang gesetzlich respektiert werden und Deutschland zu einer Vorreiterrolle in Sachen Geschlechtervielfalt im In- und Ausland verhelfen.”