Vor einem Jahr wimmelte es im Zentrum von Minsk von Menschen, die gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen protestierten und ihrer Stimme Gehör verschafften. An jenem ersten Abend herrschte eine festliche Stimmung: Frauen in hellen Sommerkleidern, einige in Stöckelschuhen, als wären sie auf dem Weg ins Theater. Student*innen, die in weiß-rot-weiße belarussische Nationalflaggen gehüllt waren und „Veränderung, wir wollen Veränderung!“ sangen. Hipster, die an kalten Getränken nippen. Eine Gruppe von Männern, die geduldig auf grünes Licht warten, um die Straße zu überqueren und sich Freunden auf der anderen Seite anzuschließen. Tausende klatschen und skandieren: „Freiheit! Lang lebe Belarus“.
Dann rückte die Polizei mit Blendgranaten, Gummigeschossen und Schlagstöcken an. Ich erinnere mich, dass ich das alles mit Entsetzen beobachtete und erschauderte angesichts der Gewalt und Brutalität gegen Menschen, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, sich friedlich zu versammeln und es zu wagen, ihre Meinung zu sagen.
In den folgenden vier Tagen wurden fast 7.000 Menschen willkürlich verhaftet, in Polizeifahrzeuge geworfen, auf Polizeirevieren misshandelt, ihnen wurde Essen und Wasser verweigert, sie wurden tagelang in erdrückend überfüllten Zellen festgehalten. Hunderte wurden geschlagen, gefoltert und anderen erniedrigenden Strafen unterworfen. Empört setzten die Menschen ihre Massenproteste bis in den Herbst hinein fort.
Um diese Proteste zu unterdrücken, hat die Regierung einen Krieg gegen die Zivilgesellschaft entfesselt. Heute sitzen mindestens 608 Menschen wegen falscher Anschuldigungen der Steuerhinterziehung, Massenunruhen und anderen Vergehen hinter Gittern. Viele weitere saßen 10 bis 15 Tage in Haft oder waren bösartigen Schikanen und Drohungen ausgesetzt, nur weil sie das weiß-rot-weiße Streifenmuster trugen oder verwendeten, Protestlieder sangen oder oppositionelle Medien auf ihren Handys anschauten.
Die Behörden warfen mindestens 27 Medienschaffende wegen ihrer Berichterstattung ins Gefängnis und änderten das Mediengesetz des Landes, um es Journalist*innen praktisch unmöglich zu machen, über öffentliche Proteste zu berichten. Mindestens 17 Anwält*innen wurde die Zulassung entzogen, weil sie ihre Meinung geäußert oder Mandant*innen in politisch motivierten Fällen unterstützt hatten. Im Juli ging die Regierung dazu über, das Land von führenden zivilgesellschaftlichen Gruppen zu „säubern“. Mindestens 53 unabhängige Organisationen befinden sich bereits im „Liquidationsverfahren“, und einige der prominentesten belarussischen Menschenrechtsaktivist*innen sitzen im Gefängnis und warten auf ihren Prozess wegen unklarer Anschuldigungen.
Belarussische Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen, Anwält*innen usw. setzen ihre Arbeit in unterschiedlicher Form im Land und im Exil fort. Die internationale Gemeinschaft muss sich mit ihnen solidarisieren, den Versuchen der Regierung, die Zivilgesellschaft auszuhöhlen, entgegentreten, belarussische Gruppen und Aktivist*innen dauerhaft unterstützen und dafür sorgen, dass die Behörden für die ungeheuerlichen Verstöße zur Rechenschaft gezogen werden.