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Katar: Männliche Vormundschaft schränkt Frauenrechte stark ein

Diskriminierende Regeln für Frauen beim Heiraten, Studieren, Arbeiten und Reisen

Ein Mädchen und eine Frau lassen auf der Promenade in der katarischen Hauptstadt Doha einen Drachen steigen, am 16. März 2020. © 2020 AFP via Getty Images

(Beirut, 29. März 2021) - Das diskriminierende System der männlichen Vormundschaft in Katar verwehrt Frauen das Recht, zahlreiche wichtige Entscheidungen über ihr Leben zu treffen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 94-seitige Bericht, „Everything I Have to Do is Tied to a Man“: Women and Qatar’s Male Guardianship Rules analysiert die offiziellen Regeln zur männlichen Vormundschaft und wie diese in der Praxis umgesetzt werden. Human Rights Watch fand heraus, dass Frauen in Katar die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds einholen müssen, um zu heiraten, mit staatlichen Stipendien im Ausland zu studieren, in vielen öffentlichen Jobs zu arbeiten, bis zu einem bestimmten Alter ins Ausland zu reisen und einige Formen der reproduktiven Gesundheitsversorgung zu erhalten. Das diskriminierende System verweigert Frauen auch das Recht, als primärer Vormund ihrer Kinder zu handeln, selbst wenn sie geschieden sind und das Sorgerecht für die Kinder haben. Diese Einschränkungen verstoßen gegen die Verfassung Katars und gegen internationales Recht.

„Frauen in Katar haben schon einige Hürden überwunden und bedeutende Fortschritte in Bereichen wie Bildung erzielt, aber sie müssen sich noch immer mit staatlichen Regeln zur männlichen Vormundschaft  herumschlagen, die sie darin einschränken, ein erfülltes, produktives und unabhängiges Leben zu führen“, sagte Rothna Begum, leitende Frauenrechtsforscherin bei Human Rights Watch. „Die männliche Vormundschaft stärkt die Macht und Kontrolle, die Männer über das Leben und die Entscheidungen von Frauen haben. Sie kann Gewalt fördern oder schüren und lässt Frauen nur wenige Möglichkeiten, dem Missbrauch durch ihre eigenen Familien und Ehemänner zu entkommen.“

Die Ergebnisse von Human Rights Watch basieren auf einer Prüfung von 27 Gesetzen sowie von diversen Verordnungen, Richtlinien, Formularen, schriftlicher Kommunikation mit der Regierung und 73 Interviews, darunter 50 ausführliche Gespräche mit vom Vormundschaftssystem betroffenen Frauen. In schriftlichen Mitteilungen, die im Februar und März 2021 verschickt wurden, bestätigten Regierungsvertreter zahlreiche der Feststellungen. Andere wurden von der Regierung bestritten, obwohl sie von Human Rights Watch eindeutig belegt wurden.


Katars Gesetze verlangen, dass Frauen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen müssen, um zu heiraten, und zwar unabhängig von ihrem Alter oder ihrem früheren Familienstand. Sobald eine Frau verheiratet ist, kann sie als „ungehorsam“ betrachtet werden, wenn sie nicht die Erlaubnis ihres Mannes einholt, bevor sie eine Arbeit aufnimmt, verreist oder das Haus verlässt, oder wenn sie sich weigert, mit ihm Sex zu haben, ohne hierfür einen „legitimen“ Grund zu nennen. Männer können mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet sein, ohne dass sie hierfür die Erlaubnis eines Vormunds oder ihrer aktuellen Ehefrauen benötigen.

Frauen können zu keiner Zeit als primärer Vormund ihrer eigenen Kinder auftreten. Sie haben keine Befugnis, unabhängige Entscheidungen in Bezug auf die Dokumente, Finanzen, Reisen und bisweilen auch die Schulbildung und medizinische Versorgung ihrer Kinder zu treffen. Dies gilt auch, wenn die betroffene Frau geschieden ist und ein Gericht ihr das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen hat, oder wenn der leibliche Vater verstorben ist. Hat das Kind keinen männlichen Verwandten, der als Vormund fungiert, so übernimmt der Staat diese Rolle.

Die gesetzliche Diskriminierung in Bezug auf Ehescheidungen und Entscheidungen bezüglich der Kinder führt dazu, dass viele Frauen in Beziehungen mit gewalttätigen Partnern gefangen sind und oft jahrelang auf eine Scheidung warten. Lässt eine Frau sich scheiden, kann sie eventuell nicht wieder heiraten, aus Angst, das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren. So ist sie weiterhin von ihrem ehemaligen Ehemann abhängig, welcher der gesetzliche Vormund der Kinder bleibt.

Die befragten Frauen gaben an, dass ihre männlichen Vormunde ihnen verboten haben, im Ausland zu studieren oder gemischtgeschlechtliche Universitäten in Katar zu besuchen, was ihre Studienmöglichkeiten und ihre berufliche Zukunft einschränkt. Frauen benötigen indirekt die Erlaubnis des männlichen Vormunds, um staatliche Stipendien für eine höhere Ausbildung zu erhalten. Frauen berichteten, dass sie an der staatlichen, nach Geschlechtern getrennten Universität von Katar mit Einschränkungen konfrontiert waren. Sie brauchten unter anderem die Erlaubnis ihres Vormunds, um mit einem Taxi auf den Campus zu kommen oder ihn zu verlassen, um im Studentenwohnheim zu leben und um an Exkursionen im Rahmen ihres Studiums teilzunehmen.

Die Regierung erklärte in ihrer schriftlichen Antwort an Human Rights Watch, dass Frauen als Erziehungsberechtigte auftreten können, um Pässe oder Personalausweise für ihre Kinder zu erhalten und dass Frauen keine Erlaubnis ihres Vormunds benötigen, um ein Stipendium anzunehmen oder in Ministerien, Regierungsinstitutionen oder Schulen zu arbeiten. Auch sei keine Erlaubnis des Vormunds nötig, um an Exkursionen der Universität von Katar teilzunehmen, die Teil des akademischen Programms sind. Die Recherchen von Human Rights Watch, darunter Interviews und die Sichtung von Dokumenten, wie etwa Anträge von Schulen und Arbeitgebern auf eine entsprechende Erlaubnis des Vormunds, widersprechen jedoch diesen Behauptungen der Regierung.

Frauen in Katar berichteten Human Rights Watch, dass sie die Erlaubnis eines männlichen Vormunds benötigen, um in vielen staatlichen Stellen, einschließlich Ministerien und staatlichen Schulen, arbeiten zu können. Zwar schreibt kein Gesetz vor, dass Frauen eine Erlaubnis ihres Vormunds benötigen, um zu arbeiten, es gibt allerdings auch kein Gesetz, das die Diskriminierung von Frauen im Rahmen einer Einstellung verbietet.

Human Rights Watch fand heraus, dass unverheiratete katarische Frauen unter 25 Jahren eine Erlaubnis ihres Vormunds benötigen, um ins Ausland zu reisen, und dass Frauen jeden Alters von ihren Ehemännern oder Vätern ein Reiseverbot auferlegt bekommen können. Ein Mangel an Transparenz über die Regeln und mögliche Änderungen für Frauen in Bezug auf Reisen und andere Themen macht es schwierig, diese anzufechten. Im Jahr 2020 hielten Flughafenbeamte mehrere Frauen auf, die ohne einen männlichen Angehörigen reisten, und bestanden darauf, den jeweiligen männlichen Vormund anzurufen. Die Frauen sollten so beweisen, dass sie nicht „auf der Flucht“ waren. Die Behörden hielten sowohl unverheiratete Katarerinnen unter 25 Jahren mit gültigen Ausreisegenehmigungen als auch Frauen über 25 Jahren auf, für die offiziell keine solchen Genehmigungen vorgesehen sind.

Die Frauen sagten zudem, dass sie einen Heiratsnachweis vorlegen mussten, um Zugang zu diversen sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen zu erhalten, z. B. Schwangerschaftsvorsorge, vaginale Ultraschalluntersuchungen, Pap-Test und andere gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen. Sie brauchten zudem die Zustimmung ihres Ehemannes für einige Formen der reproduktiven Gesundheitsfürsorge z.B. eine Sterilisation oder eine Abtreibung.

Einige Hotels lassen keine unverheirateten katarischen Frauen unter 30 Jahren in ihren Zimmern übernachten, wenn sie nicht in Begleitung eines männlichen Angehörigen reisen. Zudem ist katarischen Frauen die Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen sowie das Betreten von Orten, an denen Alkohol ausgeschenkt wird, untersagt.

Ausländische Frauen in Katar, deren Visum von ihrem Ehemann oder Vater abhängt, unterliegen ebenfalls Kontrollen, die mit der männlichen Vormundschaft vergleichbar sind. Frauen brauchen die Erlaubnis des jeweiligen Mannes, um ihren Führerschein zu machen, zu arbeiten oder ein Regierungsstipendium für ein Studium in Katar zu erhalten.

Die meisten der befragten Frauen sagten, dass die Regeln sie stark dabei einschränken, ein unabhängiges Leben zu führen. Einige sagten, das System schade ihrer psychischen Gesundheit und führe u.a. zu Selbstverletzungen, Depressionen, Stress und Suizidgedanken.

Frauen in Katar setzen sich immer stärker für ihre Rechte ein, vor allem im Internet. Aber Gesetze, die die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken, Einschüchterungen durch die Regierung und Belästigungen im Internet sind hierbei nach wie vor ein großes Problem, wie Human Rights Watch herausfand. Auch gibt es keine unabhängigen Frauenrechtsorganisationen im Land.

Die Regeln zur männlichen Vormundschaft widersprechen einigen von Katars eigenen Gesetzen, die das Ende der Vormundschaft auf 18 Jahre festlegen. Zudem verletzen diese Regeln die Verfassung und die Verpflichtungen des Landes gemäß internationaler Menschenrechtsnormen. Sie erschweren Katar auch die Verwirklichung seiner Nationalen Vision 2030, welche die langfristigen Ziele des Landes festlegt, darunter eine diversifizierte arbeitende Bevölkerung mit Karrieremöglichkeiten für katarische Frauen.

„Durch die Umsetzung der Regeln zur männlichen Vormundschaft lässt Katar die Frauen im Stich und fällt hinter seine Nachbarländer zurück, obwohl es einst in einigen Aspekten Vorreiter war“, sagte Begum. „Katar sollte alle Regeln, die Frauen diskriminieren, aufheben, diese Änderungen öffentlich machen, ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden und sicherstellen, dass Frauen die Möglichkeit haben, ihre Rechte einzufordern.“

Einzelne Schilderungen aus dem Bericht

„Nawal“, eine 32-jährige Katarerin, berichtete, dass sie, eine katarische Staatsbürgerin, beim staatlichen Heiratskommitee beantragt hatte, einen Ausländer nach katarischem Recht zu heiraten. Ihr Bruder weigerte sich jedoch als ihr Vormund, hierfür seine Erlaubnis zu erteilen. „Ich brauchte sein schriftliches Einverständnis und seine Unterschrift. Er fühlte sich irgendwie mächtig und weigerte sich“, sagte sie. „Wir hatten Streit miteinander, und er sagte: ‚Ich werde dir nicht helfen.‘“

Um Qahtan, eine 44-jährige Frau aus Katar, sagte, dass ihr Mann ihr gedroht hatte, ihre vier Kinder daran zu hindern, mit ihr zu reisen, und die Kinder von internationalen Schulen auf staatliche Schulen versetzen zu lassen, sollte sie sich von ihm trennen. Sie sagte, nachdem sie ihn verlassen hatte, „hat er beides getan“.

In einer Anhörung im Februar 2021 sagte sie, dass ein Richter ihren Antrag, ihren Sohn an eine andere Schule versetzen zu lassen, ablehnte. Seine Begründung war, dass er sich nicht in das „gottgegebene Recht des Vaters einmischen könne, zu entscheiden, wo sein Kind zur Schule geht.“

Sanaa“, eine 31-jährige Frau aus Katar, sagte: „Um ein Stipendium für ein Auslandsstudium zu bekommen, brauchst du die Erlaubnis deines Vormunds ... Sogar an der Universität von Katar brauchst du als Lehrassistentin die Erlaubnis deines Vormunds, die besagt, dass er nichts dagegen hat, dass du ins Ausland gehst und dein Studium dort weiterführst.“

Nayla“, eine 24-jährige katarische Lehrerin, beschrieb einen Teil ihres Einstellungsprozess im Jahr 2019 so: „Ich musste den Ausweis meines Vaters besorgen und eine Einverständniserklärung, dass er nichts dagegen hat, dass ich diesen Job annehme und dort arbeite… für das Bildungsministerium.“

Muna“, eine 32-jährige Frau aus Katar, sagte, dass die Behörden sie 2020 am Flughafen aufhielten und sagten: „Es gibt neue interne staatliche Vorschriften.“ Sie sagte, sie habe sich zunächst geweigert, die Nummer ihres Vaters anzugeben und argumentierte: „Was Sie tun, ist illegal, laut Gesetz darf ich reisen, wenn ich über 25 bin. Aber sie sagten, es sei im besten Interesse der inneren Staatssicherheit von Katar und im besten Interesse der Familien von Katar ... Dann gab ich ihnen die Nummer und hoffte, dass mein Vater wach ist, es war Mitternacht, und er ist 67... Wir sind Bürgerinnen dieses Landes und haben das Recht zu wissen, aufgrund welcher Gesetze man uns aufhält.”

Dana“, eine 20-jährige Frau aus Katar, sagte, sie war gezwungen zu lügen, als sie 18 Jahre alt war. Sie gab an, mit ihrem Freund verheiratet zu sein und hinterließ seinen Namen und seine Nummer, da sie nur so eine dringende medizinische Versorgung erhalten konnte, obwohl es nicht um sexuelle Aktivitäten ging. „Einmal hat mich ein Notarzt für einen Ultraschall in die Frauenklinik überwiesen“, sagte sie. „Ich hatte so starke Schmerzen, dass er dachte, mein Eierstock sei geplatzt. Aber ohne Trauschein wollten sie bei mir keinen vaginalen Ultraschall machen. Sie weigerten sich sogar, mich regulär zu untersuchen, weil ich nicht verheiratet war.“

„Nadine“, eine 33-jährige Britin mit Wohnsitz in Katar, sagte, dass sie seit ihrem 13. Lebensjahr an Endometriose leidet, diese aber in Katar erst ein paar Jahre nach ihrer Heirat diagnostiziert wurde. Sie gab an, dass das Gesundheitspersonal ihr nicht erlaubt hätte, sich ohne Heiratsurkunde bestimmten Untersuchungen zu unterziehen, wie etwa einem vaginalen Ultraschall, einem Pap-Test oder einer Gebärmutter-Biopsie. Sie sagte: „Man leidet im Stillen. Ich hatte furchtbare Schmerzen.“

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