(Berlin) – Das Verfahren in Deutschland gegen zwei frühere Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist für die Opfer ein wichtiger Schritt zu Gerechtigkeit, so Human Rights Watch. Am 23. April werden die Richter am Oberlandesgericht Koblenz im ersten Verfahren zu Staatsfolter während des nun zehnjährigen brutalen Konflikts in Syrien mit der Beweisaufnahme beginnen.
„Dieser Prozess setzt ein Zeichen für die Betroffenen, die endlich Gerechtigkeit für die Verbrechen sehen wollen, unter denen sie gelitten haben”, sagt Balkees Jarrah, Associate Director in der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das Verfahren erinnert aber auch daran, dass noch mehr getan werden muss, um die Straflosigkeit für schreckliche Gräuel in diesem Konflikt endlich zu beenden.”
Bei den zwei Angeklagten handelt es sich um Anwar R. und Eyad A., zwei niederrangige Ex-Mitarbeiter beim Allgemeinen Geheimdienst, einer von vier Armen des als Mukhabarat bekannten syrischen Sicherheitsdienstes. Die vollständigen Namen der Angeklagten werden von den deutschen Behörden aus Datenschutzgründen nicht genannt. Das Verfahren ist möglich, weil in Deutschland das Weltrechtsprinzip angewandt wird. Es erlaubt die Untersuchung und Strafverfolgung von schwersten Verbrechen, unabhängig davon, wo diese begangen wurden und welche Staatsangehörigkeit die Angeklagten oder die Kläger besitzen.
Das Weltrechtsprinzip wird international immer öfter eingesetzt, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für Gräueltaten verantwortlich sind, und um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zudem dient es als Abschreckung gegen schwerste Verbrechen, und es soll verhindern, dass Verbrecher in anderen Ländern Schutz finden.
Die beiden Angeklagten wurden im Februar 2019 in Deutschland in Zusammenarbeit mit der französischen Justiz verhaftet. Strafanzeigen, die vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gemeinsam mit syrischen Anwälten, Aktivisten, Folterüberlebenden sowie Angehörigen erstattet wurden, haben wesentlich dazu beigetragen. Zeugenaussagen, die vom ECCHR unterstützt wurden, waren auch eine wichtige Voraussetzung für die Haftbefehle. Darüber hinaus haben auch andere Gruppen den Behörden Material zur Verfügung gestellt.
Anwar R. ist der bislang bedeutendste frühere Mitarbeiter der syrischen Regierung, der in Europa wegen schwerster Verbrechen vor Gericht gestellt wird. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, für die Folter von Gefangenen zwischen April 2011 und September 2012 in seiner Rolle als Leiter der Ermittlungsabteilung beim Allgemeinen Geheimdienst im Gefängnis al-Khatib in Damaskus, auch bekannt als „Einheit 215”, verantwortlich gewesen zu sein. Die Anklage geht davon aus, dass dort mindestens 4.000 Personen bei Verhören gefoltert wurden, etwa durch Prügel und Stromschläge. Anwar R. wird zudem Mord in 58 Fällen, Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung zur Last gelegt.
Eyad A., der zweite Angeklagte, war ein niederrangiger Mitarbeiter desselben Geheimdienstes. Ihm wird vorgeworfen, Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit geleistet zu haben. Er habe Demonstranten im Jahr 2011 verhaftet und sie in das Gefängnis al-Khatib gebracht, wo sie später gefoltert wurden.
Beide Angeklagten sind offensichtlich 2012 desertiert. Nach Angaben der Behörden haben Anwar R. und Eyad A. im Juli 2014 bzw. im April 2018 in Deutschland Asyl beantragt. Im Falle einer Verurteilung droht Anwar R. lebenslange Haft; Eyad A. drohen zwischen 3 und 15 Jahren Haft.
Nach dem Weltrechtsprinzip werden in Deutschland Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfolgt. Da viele syrische Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland leben, haben die Justizbehörden Zugang zu Opfern, Zeugen, Beweismaterial und sogar zu den Verantwortlichen. Auch in anderen europäischen Ländern, etwa in Schweden und Frankreich, ermitteln die Strafverfolgungsbehörden gegen Personen, die möglicherweise für schwere Verbrechen in Syrien verantwortlich sind.
Das Verfahren in Koblenz ist ein klares Zeichen für diejenigen in Syrien, die weiter schwerste Verbrechen begehen: Niemand ist vor den Ermittlungen der Justiz geschützt. Zehntausende Menschen sind seit 2011 in Syrien verhaftet worden oder gelten als vermisst. Die meisten sind in die Fänge der Sicherheitskräfte geraten, die ein krakenartiges Netzwerk von Hafteinrichtungen im ganzen Land aufrecht erhalten. Tausende sind in den Gefängnissen gestorben – wegen Folter und der schrecklichen Haftbedingungen.
Die syrische Regierung ist weiter für Verhaftungen und Misshandlungen in den von ihr kontrollierten Gebieten verantwortlich. In kürzlich zurückeroberten Gebieten haben die Sicherheitskräfte Hunderte Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und deren Familienmitglieder verhaftet. Alle hatten Abkommen unterzeichnet, in denen ihnen zugesichert worden war, dass sie nicht im Gefängnis landen würden.
Eine umfassende Strafverfolgung für diese und andere Gewalttaten in Syrien gibt es nicht. Im Jahr 2014 haben Russland und China eine Initiative im UN-Sicherheitsrat blockiert, durch die der Internationale Strafgerichtshof ein Mandat für diese Verbrechen erhalten hätte. Zwei Jahre später haben UN-Mitgliedstaaten einen neuen internationalen Mechanismus ins Leben gerufen, um Beweismittel für die schweren Verbrechen und deren spätere Strafverfolgung zu sammeln, zu analysieren und zu sichern. Dessen Arbeit, neben weiteren Bemühungen, wird in Zukunft wichtig für die nationale Strafverfolgung in Deutschland und anderen Ländern sein. Regierungen weltweit sollen diese Maßnahmen stützen.
In den letzten 20 Jahren haben immer mehr nationale Gerichte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen in den verschiedensten Ländern verfolgt. Berichte von Human Rights Watch zeigen, dass eine faire und wirksame Umsetzung des Weltrechtsprinzips möglich ist. Dafür müssen allerdings die gesetzlichen Grundlagen vorhanden sein, ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, eine institutionelle Verankerung etwa durch spezialisierte Abteilung gewährleistet und politische Unterstützung garantiert sein.
„Da es zurzeit keine anderen Wege für die Strafverfolgung gibt, sind Verfahren in Europa eine große Hoffnung für diejenigen, die unter den Verbrechen in Syrien gelitten haben und keinen anderen Ausweg sehen“, so Jarrah. „Der Prozess in Koblenz macht deutlich, dass Gerichte – Tausende Kilometer vom Tatort entfernt – eine wichtige Rolle im Kampf gegen Straflosigkeit spielen können.“