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Nach nur drei Monaten scheint „Populismus“ bereits ein sicherer Kandidat für das Wort des Jahres 2017 zu sein. Schlagzeilen warnen davor, dass er Europa bedrohe, womöglich in ihren Grundfesten. Weiter heißt es, Brexit und Donald Trumps Wahlsieg in den USA hätten populistischen, rechtsradikalen Parteien Auftrieb verschafft. Aber wie bedrohlich sind die radikalen Populisten wirklich?

Beim ersten großen Test des Jahres 2017, den Wahlen in den Niederlanden, erlangte die fremdenfeindliche Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders nach Auszählung von 95 Prozent der Stimmen 20 Sitze und 13 Prozent. Das ist viel, allerdings sollte man nicht vergessen, dass die Partei im Jahr 2010 – als kaum jemand über Populismus sprach – 24 Parlamentssitze und fast 16 Prozent der Stimmen erlangte. Und vor der diesjährigen Wahl hatten alle anderen Parteien eine Koalition mit der PVV kategorisch ausgeschlossen.

Als nächstes steht im April der erste Urnengang für die Präsidentschaftswahl in Frankreich an. Umfragen deuten darauf hin, dass sich Marine Le Pen für die Stichwahl im Mai qualifizieren, aus der ersten Runde möglicherweise sogar als stärkste Kandidatin hervorgehen wird. Aber die gleichen Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass sie bei der Stichwahl deutlich unterliegen wird, unabhängig davon, gegen wen sie antritt. Und das, obwohl ihre Wahlkampfstrategie deutlich besser durchdacht ist als die ihres Vaters, als er es im Jahr 2002 in die Stichwahl schaffte – Marine Le Pen weist alle Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfe entschieden von sich.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass rechtsradikale, populistische Parteien in Europa an Unterstützung gewinnen. Das betrifft insbesondere das Europäische Parlament. Bei den Wahlen im Jahr 2014 erhielten Populisten in Frankreich, Großbritannien und Dänemark die meisten Stimmen und ein Viertel aller Parlamentssitze insgesamt.

Frauke Petry, Parteivorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), Marine Le Pen, Parteivorsitzende der französischen Partei Front National (FN), Matteo Salvini, Mitglied der italienischen Partei Lega Nord, Parteivorsitzender der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV) Geert Wilders, Harald Vilimsky, Mitglied der österreichischen Freiheitlichen Partei und Marcus Pretzel, Mitglied der Europäischen Nationalen Front (ENF) im Europäischen Parlament posieren im Anschluss an ein Gipfelreffen der „Europäischen Rechte“, welches am 21. Januar 2017 in Koblenz stattfand, gemeinsam auf der Bühne.  © 2017 Reuters

Ungarn und Polen sind gute Beispiele dafür, wie gefährlich eine populistische Regierungsführung ist, die den „Willen des Volkes“, bzw. einer Bevölkerungsmehrheit, über demokratische Institutionen stellt. Diese Regierungen verfolgen eine menschenrechtsfeindliche und ausgrenzende Politik gegenüber Migranten, Obdachlosen und Frauen – vor allem mit Blick auf deren reproduktive Rechte – und äußern sich verächtlich über demokratische Kontrollmechanismen, die Rechtsstaatlichkeit und supranationale Institutionen.

Viel gefährlichers als die Populisten sind die Parteien der Mitte

Aber die größte Gefahr für Europa sind wohl nicht rechtsradikale Populisten in Machtpositionen, von denen es bislang nur wenige gibt. Viel gefährlicher ist ihr unverhältnismäßig großer Einfluss auf Politiker der Mitte. Statt die falschen Argumente populistischer Parteien mutig zu entlarven und für eine rechtebasierte Politik einzutreten, haben Parteien der Mitte oft ihre eigenen Programme verraten, aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren.

Diese Angst liegt heute anscheinend vielen Richtungsentscheidungen europäischer Regierungen zugrunde. Bei unseren Reisen nach Brüssel, wo wir dafür warben, dass die EU Flüchtlinge und Asylsuchende besser schützt, wurde uns in den vergangenen Monaten wiederholt gesagt, dass die Gefahr, Populisten könnten an Boden gewinnen, einer Politik entgegen stünde, die die Menschenrechte achtet.

Ratspräsident Donald Tusk sprach sich im Wesentlichen dafür aus, dass die EU ihre Grundwerte hintenan stellen solle, um Migration und Terrorismus zu bekämpfen – und die EU und ihre Werte langfristig zu verteidigen.

Diese Einstellungen und Positionen von führenden Politikern der Mitte fordern die Menschenrechte ebenso heraus und bedrohen sie wie die Populisten selbst. Mit ihnen werden die hassgetriebenen Programme fremden-, islam- und flüchtlingsfeindlicher Populisten legitimiert und normalisiert, ohne dass diese sich im Parlament bewähren und zur Verantwortung ziehen lassen müssten. Das bedeutet, dass die Populisten auch dann gewinnen, wenn sie an der Wahlurne verlieren.

Werte dürfen nicht verraten werden

Die Wahlen in den Niederlanden illustrieren das eindrücklich. Im Januar wandte sich Ministerpräsident Mark Rutte, Führer der Volkspartei für Freiheit und Demokratie, mit einer ganzseitigen Anzeige in niederländischen Zeitungen an die Bevölkerung und forderte diejenigen, „die sich weigern, sich anzupassen, und unsere Werte kritisieren“ auf, „sich normal zu verhalten oder zu gehen“.

Selbstverständlich kann über Toleranz und Integration diskutiert werden. Aber Ruttes Botschaft sollte eindeutig diejenigen ansprechen, die glauben, dass es die beste Lösung sei, Menschen abzuschieben, selbst wenn diese ihr ganzes Leben in den Niederlanden verbracht haben. Ruttes Botschaft hat keine Werte verteidigt, sondern sie verraten.

Aber es muss nicht so sein. Anders als die Regierung weigerte sich der Sieger der österreichischen Präsidentschaftswahlen, die fremden- und flüchtlingsfeindliche Programmatik seines Kontrahenten zu übernehmen. Stattdessen bot er den Wählern ein positives Programm an und gewann mit großem Abstand.

Populismus spielt eine Rolle. Aber die Art, wie die europäischen Parteien der Mitte auf ihn reagieren, spielt eine größere.

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