„Entweder sterben wir. Oder wir leben.“
Vor dieser Wahl standen Samira und Omar, ein Ehepaar aus Kobane in Syrien. Also nahmen sie ihre Kinder - im Alter von 9, 8, 3 Jahren und 10 Monaten - und machten sich gemeinsam mit einem 18-jährigen Cousin auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa. „Die Straße des Todes“, so nannten sie die geflüchteten Menschen, die wir in der vergangenen Woche getroffen haben. Samira und Omar wurden zuerst von einem Schlepper betrogen, der ihnen über 2.500 € abnahm und verschwand. Dann zahlten sie 5.600 € für die Überfahrt auf eine griechische Insel, die unzähligen Menschen das Leben gekostet hat.
Wir trafen sie in der Nacht, als sie am Ende einer langen Schlange standen und darauf warteten, in das düstere Durchgangslager Opatovac in Kroatien aufgenommen zu werden. Als wir diese Familie sahen, schämten wir Europäerinnen uns dafür, dass Menschen, die vor so großen Gefahren geflohen sind, ihr Leben und das ihrer Kinder immer wieder riskieren müssen, um Schutz zu suchen. Bestimmt ist Europa besser als das.
Schlimm genug, dass schutzsuchende Menschen sich in Lebensgefahr begeben müssen, um Europa zu erreichen. Aber wie sie an den Grenzen behandelt werden, ist eine Beleidigung nach all ihrem Leid.
An jeder Grenze, die wir in den vergangenen Wochen besuchten - in Ungarn, Serbien, Kroatien und Mazedonien - begegneten uns erschöpfte Menschen, die von den Behörden in einer Art Vorhölle festgehalten wurden, oft unter chaotischen und menschenunwürdigen Bedingungen. Benachbarte Staaten arbeiten schlecht zusammen und übernehmen nur widerstrebend Verantwortung für Asylsuchende. Eher schließen sie ihre Grenzen. So ist aus einem eigentlich zu bewältigenden Zustrom ein zeitweise überwältigender geworden, vor allem, wenn Tausende Neuankömmlinge innerhalb weniger Stunden den gleichen Grenzübergang passierten.
Die menschlichen Folgen sind unübersehbar. Wir trafen Familien mit Kleinkindern und Säuglingen, die nächtelang unter freiem Himmel ausharren mussten, weitestgehend ungeschützt vor Wind und Wetter. Wir haben Tausende gesehen, die weder bei drückender Hitze noch bei eisigem Regen Essen oder Wasser bekommen haben; Familienmitglieder, die einander an der Grenze verloren haben; und Familien, die bei Sturm auf einem Friedhof schlafen mussten. Kein Mensch wusste, was am nächsten Tag passieren würde.
Wir haben auch ein anderes, besseres Europa gesehen. An einigen Orten wandten freiwillige Helfer und mitfühlende Anwohner viel Energie dafür auf, den Geflüchteten Gastfreundschaft und Menschlichkeit entgegen zu bringen. Im inzwischen berüchtigten Keleti-Bahnhof in Budapest kümmerten sich Freiwillige um alles. Sie organisierten wochenlang ein Behelfslager für Tausende Asylsuchende, weil die Behörden diese überhaupt nicht unterstützten.
In Wien und entlang der Westbalkanroute trafen wir beeindruckende, engagierte Menschen, die sich Urlaub von ihrer Arbeit genommen und familiäre Verpflichtungen liegen gelassen haben, um die Geflüchteten zu unterstützen. Sie sammelten Geld und verteilten Essen, Kleidung, Handtücher und Zelte. An einem Grenzübergang zwischen Kroatien und Serbien fuhr ein Freiwilliger aus Schweden eine 80-jährige Frau aus Syrien zum nächstgelegenen Bus, mit dem sie und andere Asylsuchende ihre Reise fortsetzen wollten. Sie konnte nicht laufen, und wir waren zutiefst beeindruckt davon, dass sie so weit gekommen war.
Aber diese Krise kann nicht von Freiwilligen gelöst werden. Die EU und andere europäische Regierungen müssen die Probleme angehen, gemeinsam und zielgerichtet. Der Umverteilungsplan, den der Europäische Rat am 22. September beschlossen hat, ist nur ein erster Schritt. Eine wirksame, gemeinsame Antwort der EU bedeutet auch, Möglichkeiten für sichere und legale Einreisen zu schaffen, zu beschließen, das defekte Asylsystem zu reformieren (wofür die neuen Durchsetzungsmaßnahmen der Europäischen Kommission ein wichtiger, erster Schritt sind), und zu garantieren, dass es handlungsfähige Such- und Rettungsaktionen auf Hoher See gibt.
Im Vorfeld des EU-Ministertreffens mit den westlichen Balkanländern und den Nachbarstaaten Syriens am 8. Oktober ist es essentiell, dass die EU-Regierungen nicht versuchen, die Krise zu lösen, indem sie die Verantwortung auf ihre Nachbarn abschieben, insbesondere nicht auf Serbien, Mazedonien und die Türkei. Serbien und Mazedonien haben derzeit nicht die Kapazitäten, um große Zahlen von Asylanträgen fair zu bearbeiten und Tausende Asylsuchende menschenwürdig unterzubringen. Die Türkei hat bereits zwei Millionen aus Syrien geflüchtete Menschen aufgenommen.
Der Kapazitätenaufbau in den westlichen Balkanländern und eine größere Unterstützung der Türkei, Jordaniens und des Libanons sind sehr wichtige, ergänzende Maßnahmen. Aber sie ersetzen nicht, dass sich die EU-Regierungen ihrer Verantwortung stellen.
Anstatt in Brüssel oder in Luxemburg zu sitzen, sollte so mancher EU-Politiker lieber ein paar Stunden mit geflüchteten Menschen verbringen, die an einer Grenze im Westbalkan feststecken.
„Ich dachte, hier erwarten mich Freiheit und Menschenrechte, hier in Europa. Aber die Leute behandeln uns wie Tiere und Kriminelle“, sagte ein Iraker, mit dem wir in Ungarn sprachen. „Habe ich dafür mein Leben aufs Spiel gesetzt? Was habe ich getan[, um das hier zu verdienen]?“
Was antworten die EU-Politiker darauf?
Lydia Gall ist Expertin für Osteuropa und den Balkan und Izza Leghtas Expertin für Westeuropa bei Human Rights Watch.