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(New York, 17. September 2012) – Bewaffnete Oppositionsgruppen sind für die Misshandlung und Folter von Gefangenen und für außergerichtliche bzw. willkürliche Hinrichtungen in Aleppo, Latakia und Idlib verantwortlich, so Human Rights Watch nach einem Besuch im Gouvernement Aleppo. Der Einsatz von Folter und die außergerichtliche, willkürliche Hinrichtung von Gefangenen in einem bewaffneten Konflikt stellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, wenn sie weitverbreitet und systematisch angewandt werden.

Obwohl mehrere Oppositionsführer gegenüber Human Rights Watch erklärten, sie wollten die Menschenrechte achten und hätten bereits Maßnahmen ergriffen, um die Verstöße zu unterbinden, ist Human Rights Watch angesichts der Äußerungen anderer Oppositioneller, die außergerichtliche und willkürliche Hinrichtungen dulden oder sogar billigen, weiter besorgt. Drei hochrangige Vertreter der Opposition, denen Human Rights Watch Belege für außergerichtliche Hinrichtungen vorgelegt hatte, erklärten, die Opfer hätten es verdient getötet zu werden und man lasse nur die schlimmsten Verbrecher exekutieren.

„Erklärungen der Oppositionsgruppen, wonach diese die Menschenrechte achten wollen, sind wichtig. Entscheidend ist jedoch, wie sich ihre Kämpfer verhalten“, so Nadim Houry, stellvertretender Direktor der Nahost-Abteilung von Human Rights Watch. „Jeder, der die syrische Opposition unterstützt, trägt die Verantwortung, ihre Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen.“

Die zivilen und militärischen Führer der syrischen Opposition sollen unverzüglich alle möglichen Maßnahmen ergreifen, um den Einsatz von Folter und Hinrichtung durch oppositionelle Gruppen zu unterbinden, und entsprechende Praktiken ausdrücklich verurteilen und verbieten. Die Oppositionsführer sollen zudem dafür sorgen, dass die Verstöße untersucht werden, die Verantwortlichen in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards zur Rechenschaft gezogen werden und alle unter ihrer Kontrolle stehenden Hafteinrichtungen durch international anerkannte Beobachter inspiziert werden. Human Rights Watch fordert die Opposition auf, Verhaltensregeln für die bewaffneten Oppositionsgruppen zu unterstützen, welche die Achtung der Menschenrechte und die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen fördern.

Bei Treffen im Norden des Gouvernements Aleppo und in einem am 21. August 2012 an mehrere Oppositionsführer verschickten Brief konfrontierte Human Rights Watch diese mit den Rechercheergebnissen und sprach detaillierte Empfehlungen aus. Der Militärrat des Gouvernements Aleppo erklärte in seinem Antwortschreiben, er habe gegenüber den Gruppen der Freien Syrischen Armee (FSA) angesichts der Erkenntnisse von Human Rights Watch erneut betont, dass er sich zur Achtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte verpflichtet habe. Der Rat wolle zudem Sonderausschüsse zur Kontrolle der Haftbedingungen und -praktiken einrichten und werde jeden, der die Richtlinien verletze, zur Verantwortung ziehen.

Alle Staaten, die die Opposition militärisch und finanziell unterstützen, sollen unmissverständlich deutlich machen, dass sie die strikte Einhaltung internationaler Menschenrechts- und Völkerrechtsstandards erwarten.
Human Rights Watch hat in mehr als einem Dutzend Fällen außergerichtliche und willkürliche Hinrichtungen durch oppositionelle Kräfte dokumentiert. So gaben zwei FSA-Kämpfer aus dem Bataillon Ansar Mohammed in Latakia im Gespräch mit Human Rights Watch an, das Batallion habe nach dem Sturm einer Polizeiwache in Haffa im Juni 2012 vier Personen hingerichtet, zwei davon sofort, die anderen nach einem Verfahren.

Sechs der zwölf Häftlinge, die Human Rights Watch in zwei Hafteinrichtungen der Opposition befragte, berichteten von Misshandlung und Folter durch Kämpfer und Gefängnispersonal der FSA, etwa durch Schläge auf die Fußsohlen. Die Verstöße traten offenbar vorwiegend während der Anfangszeit der Haft auf, d.h. vor der Übergabe an die zivile Oppositionsverwaltung.

Aufgrund von Ungereimtheiten in den Aussagen der übrigen sechs Befragten, die nach eigenen Angaben nicht gefoltert wurden, aber zugleich sichtbarer Verletzungen hatten, die auf Folter hindeuten, hat Human Rights Watch Grund zu der Annahme, dass FSA-Kämpfer und Gefängnispersonal zumindest einige von ihnen gefoltert oder misshandelt haben.

Der Befragte „Sameer“, der Anfang August von der FSA inhaftiert worden war, sagte:

„Die FSA-Kämpfer, die mich festnahmen, brachten mich zuerst in ihr Lager. Dort verbrachte ich die Nacht, zusammen mit einem anderen Gefangenen. Sie schlugen mich sehr viel, mit einem Holzknüppel, auf die Fußsohlen. Ich hielt etwa zwei Stunden durch. Zuerst weigerte ich mich, zu gestehen, doch dann musste ich es tun. Nachdem ich gestanden hatte, hörten sie auf, mich zu schlagen.“

Human Rights Watch prüfte auch mehr als 25 YouTube-Videos, in denen Personen zu sehen sind, die sich angeblich im Gewahrsam von Oppositionsgruppen befinden und Spuren körperlicher Misshandlung tragen. Human Rights Watch kann die Echtheit der Videos jedoch nicht unabhängig bestätigen.

Der Vorsitzende des Revolutionsrats des Gouvernements Aleppo sagte gegenüber Human Rights Watch, die Behörden setzten weder Folter noch Hinrichtung gegen Häftlinge ein. Schläge auf die Fußsohlen seien jedoch „zulässig“, da sie keine Verletzungen nach sich zögen. Nachdem Human Rights Watch ihn darüber aufklärte, dass Schläge auf die Fußsohlen eine Form von Folter sind, die nach internationalem Recht verboten ist, kündigte er an, die Kämpfer der FSA und die Verantwortlichen der Hafteinrichtungen unter neue Anweisungen zu stellen, welche diese Praxis verbieten.

„Immer wieder hat uns die syrische Opposition erklärt, sie bekämpfe die Regierung wegen ihrer grausamen Menschenrechtsverletzungen“, so Houry. „Es wird Zeit, dass die Opposition zeigt, wie ernst sie ihre eigenen Worte nimmt.“

Vertreter der lokalen Oppositionsbehörden erklärten gegenüber Human Rights Watch, sie hätten eigens eingerichtete Justizräte damit beauftragt, die Anschuldigungen gegen Inhaftierte zu prüfen und Strafen zu verhängen. In einigen Städten urteilen diese Räte ausschließlich auf Grundlage der Scharia. Andernorts findet die Scharia nur in zivilrechtlichen Belangen Anwendung, während bei Straftaten auf das syrische Strafrecht zurückgriffen wird.

Laut Berichten von Häftlingen und Mitgliedern der Justizräte verletzen die Prozesse internationale Verfahrensstandards wie den Anspruch auf einen Rechtsbeistand oder das Recht des Angeklagten, seine Verteidigung vorzubereiten und gegen ihn vorgebrachte Beweismittel und Zeugenaussagen anzufechten.

Alle an dem Konflikt in Syrien beteiligten bewaffneten Kräfte, auch nicht-staatliche Gruppen, sind verpflichtet, das humanitäre Völkerrecht zu achten. Die FSA ist zumindest in den Gebieten, in denen Human Rights Watch recherchiert hat, offensichtlich ausreichend organisiert und überlegen, um mit ihren Kräften für die Einhaltung internationalen Rechts zu sorgen. Die bewaffnete syrische Opposition erhält Finanz- und Militärhilfen aus einer Reihe von Staaten. Befragungen syrischer Oppositioneller und Medienberichte deuten darauf hin, dass Saudi-Arabien, Katar und die Türkei mehrere bewaffnete Gruppen aktiv unterstützen. Die USA, Großbritannien und Frankreich haben sich ebenfalls zu nicht-militärischen Hilfsmaßnahmen für Oppositionsgruppen bekannt. Human Rights Watch appelliert an alle Staaten, die syrische Oppositionsgruppen unterstützen, die Menschenrechts- bzw. Völkerrechtsverletzungen dieser Gruppen öffentlich zu verurteilen.

Human Rights Watch hat wiederholt die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte und Beamte der syrischen Regierung dokumentiert und verurteilt, darunter außergerichtliche Hinrichtungen und andere rechtswidrige Tötung von Zivilisten, Verschleppungen, Folter und willkürliche Inhaftierungen. Nach Einschätzung von Human Rights Watch haben die Regierungstruppen damit Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt.

Human Rights Watch forderte den UN-Sicherheitsrat auf, die Lage in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu überweisen. Dem Tribunal soll die Rechtsprechung über Verstöße sowohl der Regierungstruppen als auch der oppositionellen Kräfte übertragen werden. Human Rights Watch forderte auch Russland und China auf, sich für eine Einschaltung des IStGH einzusetzen.

„Eine Überweisung an den IStGH würde dem Gericht die Rechtsprechung über die Verbrechen der Regierung und der Opposition geben“, so Houry. „Auf diese Maßnahme sollten sich alle Mitglieder des Sicherheitsrats, auch Russland, leicht verständigen können, wenn es ihnen tatsächlich darum geht, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien zu beenden.“

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