(Los Angeles, 15. Februar 2012) – Während sich die Welt auf die Olympischen Spiele 2012 vorbereitet, diskriminiert die saudische Regierung systematisch Frauen im Sport. Noch nie hat Saudi-Arabien eine Sportlerin zu den Olympischen Spielen geschickt, ohne jedoch dafür vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) abgestraft worden zu sein, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das IOC soll deshalb Saudi-Arabiens Teilnahme an den Olympischen Spielen, auch an den Wettkämpfen in London in diesem Jahr, an die Bedingung knüpfen, die Diskriminierung von Frauen im Sport zu beenden.
„‘Für Frauen verboten‘ ist die Botschaft des Königreichs an Frauen und Mädchen, die Sport machen wollen“, sagt Christoph Wilcke, Nahost-Experte von Human Rights Watch. „Dass Frauen und Mädchen nicht für die Wettkämpfe trainieren können, verletzt eindeutig das Gleichberechtigungsgebot der Olympischen Charta und verpasst der Olympischen Bewegung selbst ein blaues Auge.“
Der 51-seitige Bericht „‘Steps of the Devil‘: Denial of Women’s and Girls’ Rights to Sport in Saudi Arabia“ dokumentiert Diskriminierung durch das saudische Bildungsministerium, das Mädchen die Teilnahme am Sportunterricht an staatlichen Schulen verbietet, und durch das Amt für Jugendfürsorge, einem Ministerium für Jugend und Sport, das Frauensporteinrichtungen nicht genehmigt und ausschließlich Sportklubs für Männer fördert. Auch das saudische Nationale Olympische Komitee hat keine Programme für weibliche Athleten. Es hat noch nie eine Frau für die Olympischen Spiele aufgestellt.
Die in dem Bericht veröffentlichten Interviews mit saudischen Frauen und internationalen Sportfunktionären zeigen, dass die restriktive Regierungspolitik es nahezu allen Frauen unmöglich macht, Sport zu treiben. Es gibt keine staatlichen Sporteinrichtungen für Frauen. Alle Klubs, und Kurse sind ausschlieβlich für Männer; zudem können nur Männer hauptberuflich Trainer und Schiedsrichter werden. Ein Verbot von privaten, kostenlosen Sportklubs beschränkt Frauen auf Fitnessstudios, in denen es nur selten Schwimmbecken, Laufbahnen oder Spielfelder für Mannschaftssport gibt. Die Mitgliedsbeträge sind für die meisten Frauen und Mädchen viel zu hoch. Offizielle Sportkomitees sehen keinen Leistungssport für Frauen vor, und Sportlerinnen werden in regionalen und internationalen Wettkämpfen nicht unterstützt.
Saudi-Arabien ist eins von weltweit nur drei Ländern, die noch nie eine Sportlerin zu den Olympischen Spielen geschickt haben. Die anderen beiden, Katar und Brunei, schließen Frauen nicht vom Leistungssport aus und haben Sportlerinnen die Teilnahme an anderen internationalen Wettkämpfen ermöglicht. Katar hat Frauensport in den letzten zehn Jahren gefördert und angekündigt, Sportlerinnen für die Olympischen Spiele 2012 in London aufzustellen.
Obwohl das IOC Saudi-Arabien dafür gerügt hat, keine Sportlerinnen zu den Wettkämpfen zu schicken, hat es die Teilnahme des Königreichs nicht an die Bedingung geknüpft, die Diskriminierung von Frauen im Sport zu beenden. Im Juli 2011 sagte die IOC-Sprecherin Sandrine Tonge, dass das IOC-Führungsgremium keine Ultimaten oder Stichtage verhänge, sondern davon überzeugt ist, dass Veränderungen im Dialog erreicht werden könnten. Allerdings ist in der Olympischen Charta festgeschrieben, dass alle Menschen ein Recht auf Sport haben. Sie enthält ein Verbot von Diskriminierung im Sport auf Grund des Geschlechts. Folglich hat das IOC Afghanistan im Jahr 1999 auch wegen der Diskriminierung von Frauen unter den Taliban von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sydney ausgeschlossen.
Saudi-Arabien soll innerhalb eines Jahres Sportunterricht für Mädchen an allen Schulen einführen, Sporteinrichtungen für Frauen eröffnen und dem Jugendministerium, dem saudischen Nationalen Olympischen Komitee und saudischen Sportverbänden Mittel für Frauensport zur Verfügung stellen. Diese Schritte sind notwendig, um die Diskriminierung von Frauen zu beenden. Entsprechend sind sie Grundvoraussetzungen für die Teilnahme Saudi-Arabiens an den Olympischen Wettkämpfen.
„Das IOC muss den Olympischen Werten gerecht werden. Es muss die saudische Regierung dazu anhalten, Sportprogramme für Frauen aufzulegen, wenn das Königreich ein Teil der Olympischen Familie bleiben will“, sagt Wilcke. „Sport kann viel Gutes bewirken. Aber es demoralisiert alle ambitionierte Sportlerinnen, alle vier Jahre dabei zuzusehen, wie sie von reinen Männer-Teams repräsentiert werden.“
Frauen und Mädchen wird nicht nur die Freude am sportlichen Wettkampf verwehrt, sondern auch die physischen und psychologischen Vorteile sportlicher Betätigung. In Saudi-Arabien leiden zunehmend mehr Menschen, vor allem Frauen, an Adipositas und verwandten Erkrankungen, etwa Diabetes und Herz-Kreislauf-Beschwerden. Im vergangenen Jahr im Fachmagazin Obesity Review veröffentlichte Schätzungen gehen davon aus, dass in Saudi-Arabien zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Erwachsenen und 25 bis 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig sind.
Auch saudische Religionsführer befürworten, Gesundheitsrisiken durch mehr Sportangebote für Frauen und Mädchen zu begegnen. Etwa bezeichnet Scheich Ali ‘Abbas al-Hikmi, ein Mitglied des Ältestenrats religiöser Gelehrter, des höchsten Religionsorgans, Frauensport als „islamische Notwendigkeit“. Auch ‘Adil al-Kalabani, der ehemalige Hauptimam der Heiligen Moschee in Mekka, unterstützt Frauensportklubs.
Allerdings verteufeln andere Regierungsgeistliche des Ältestenrats religiöser Gelehrter, unter anderen Scheich Dr. Abd al-Karim al-Khudair, Frauensport, der ihrer Ansicht nach zu Sittenverfall führe. Die Regierung geht drastisch gegen Sporteinrichtungen für Frauen vor. In den Jahren 2009 und 2010 wurden bestehende Angebote abgeschafft und inoffiziellen Einrichtungen Lizenzen verwehrt. Derzeit können Frauen nur in „Gesundheitszentren“, die häufig an Krankenhäuser angeschlossen sind, Sport treiben.
Eine der für den Bericht befragte Frau, Dima H., sagte, dass sie als Kind am glücklichsten war, wenn sie mit ihren Brüdern Fußball spielte. Das war allerdings nur auf dem bewachten Gelände der ARAMCO möglich, des saudischen nationalen Öl-Unternehmens, das viele Menschen aus dem Westen beschäftigt und wo Frauen auch Auto fahren dürfen.
Anders als für Jungen gibt es keinen Sportunterricht für Mädchen an staatlichen Schulen. Wenn private Schulen das Fach anbieten, ist der Unterricht schlechter. Von den 153 vom Jugendministerium unterstützten Sportklubs im Land hat kein einziger eine Frauenmannschaft. Nur ein einziges privates Sportunternehmen, Jeddah United, fördert Frauenbasketball. Andere Frauenmannschaften trainieren heimlich und spielen in Untergrund-Ligen.
Sogar an staatlichen Universitäten gibt es nur wenige Möglichkeiten für Frauen, Sport zu treiben. Eine Professorin berichtete, dass ihr Dekan vor vier Jahren Sportangebote für Studentinnen eingeführt hat, unter anderen Basketball und Tischtennis. Diese wurden nicht genutzt und der Dekan wurde dafür gerügt, „zu progressiv“ zu sein.
Der Ausschluss von Frauen und Mädchen von sportlicher Betätigung ist ein wesentlicher Bestandteil weitreichender und systematischer Diskriminierung in Saudi-Arabien. Frauen haben kein Recht, als autonome Menschen zu leben. Stattdessen müssen sie sich von einem männlichen Vormund – ihrem Vater, Sohn oder Ehemann – alltägliche Aktivitäten genehmigen lassen, etwa Arbeit, Bildung, medizinische Behandlungen, Unternehmensgründungen, Kontoeröffnungen, Reisen, Heiraten oder Auto fahren. Trotz anderslautender Zusagen im Jahr 2009 hat Saudi-Arabien keinerlei nennenswerte Schritte unternommen, um das Vormundschaftssystem zu reformieren. Frauen sind mit gesetzlich vorgeschriebener Segregation an allen öffentlichen Plätzen konfrontiert, auch an Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten.
Ein Ende der Diskriminierung im Sport kann dazu beitragen, vorhandene Risse im Vormundschaftssystem und anderen diskriminierenden Praktiken zu vergrößern.
„Die Rechte von Frauen werden in Saudi-Arabien so wenig geachtet und geschützt wie in kaum einem anderen Land“, sagt Wilcke. „Jetzt, wo die Olympischen Spiele näher rücken, ist es an der Zeit, dieses menschenrechtswidrige System abzuschaffen, das Frauen und Mädchen ihr Recht verwehrt, öffentlich Sport zu treiben.“