(Brüssel) – Auch ein Jahrzehnt nach der Ankunft der ersten syrischen Flüchtlinge in Jordanien erhält die Mehrheit der geflüchteten syrischen Kinder dort nicht die Chance, eine weiterführende Schule zu besuchen, so Human Rights Watch in einem kürzlich veröffentlichten Bericht. Internationale Geber und humanitäre Agenturen sollen die Konferenz Supporting the Future of Syria and the Region am 30. Juni 2020 dazu nutzen, gemeinsam mit Jordanien und anderen Staaten, welche syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, den Zugang syrischer Flüchtlingskinder zu einer hochwertigen weiterführenden Schulbildung zu verbessern.
Der 61-seitige Bericht „‘I Want to Continue to Study’: Barriers to Secondary Education for Syrian Refugee Children in Jordan“ dokumentiert, dass syrische Flüchtlingskinder beim Bildungszugang auf immer höhere Hürden stoßen, je weiter sie in ihrer Schullaufbahn vorangeschritten sind. Laut den Zahlen staatlicher Stellen und der Vereinten Nationen liegt ihre Einschulungsrate im Grundschulbereich noch bei knapp 90 Prozent und sinkt in der Sekundarschule auf 25 bis 30 Prozent. Jordanien hat mit Unterstützung der UN humanitäre Bildungspläne für syrische Flüchtlinge erarbeitet, die für eine allgemein höhere Einschulungsrate sorgen sollen, jedoch keine spezifischen Ziele für die weiterführende Schule enthalten. Wenige internationale Geber unterstützen die weiterführende Schulbildung. Informelle Bildungsprogramme, die von Nichtregierungsorganisationen angeboten werden, erreichen nur einen geringen Teil der Kinder.
„Die meisten geflüchteten syrischen Kinder verlieren ihre Chance zu lernen, noch bevor sie die Sekundarschule erreichen“, so Breanna Small, Forschungsstipendiatin in der Kinderrechtsabteilung von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Seit Jahren versprechen die Geber zu verhindern, dass hier eine verlorene Generation entsteht. Auf der diesjährigen Konferenz in Brüssel müssen sie über Lippenbekenntnisse hinausgehen und dafür sorgen, dass eine weiterführende Schulbildung für syrische Kinder nicht die Ausnahme bleibt, sondern zur Norm wird.“
Wenn Kinder keine weiterführende Schule besuchen, erhöht sich ihre Wahrscheinlichkeit, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu werden. Global betrachtet zeigen Studien, dass sich die Sekundarschule langfristig auszahlt. So erzielen die Kinder als Erwachsene für jedes Jahr Schulbildung durchschnittlich 9 Prozent mehr Einkommen und zeigen einen besseren Gesundheitszustand. Dies gilt insbesondere für Mädchen, die Heirat und Schwangerschaft aufschieben und der Schulbildung den Vorrang geben.
Die 233.000 syrischen Flüchtlingskinder im Schulalter, die sich in Jordanien aufhalten, begegnen dort einer Vielzahl von Hindernissen beim Zugang zu Bildung. Dies gilt vor allem für Kinder über 12. Zu den Hürden gehören armutsbedingte Kinderarbeit und Kinderehen, ein Mangel an bezahlbarer Schülerbeförderung, staatliche Richtlinien, die den Bildungszugang einschränken, und das Fehlen inklusiver Bildungsangebote für Kinder mit Behinderungen.
Die 17-jährige Rukaya ist eines von 45 syrischen Kindern, deren Erfahrungen Human Rights Watch dokumentiert hat. Sie gab an, sie habe sich selbst Englisch beigebracht und hoffe später einmal Mathematik studieren zu können. Ihre Familie habe die Miete nicht mehr bezahlen können und deshalb einen Räumungsbescheid erhalten. Zudem habe das UN-Flüchtlingshilfswerk aus Finanzmangel ihren Mietzuschuss gekürzt. Rukaya äußerte sich sehr besorgt, dass die finanzielle Lage ihrer Familie sie zum Abbruch der weiterführenden Schule zwingen könnte. „Ich will weiter lernen“, so das Mädchen.
Für die Mehrzahl der Kinder, die zum Schulabbruch gezwungen sind, besteht anschließend kein Weg zurück in die formale Bildung. Die einzige Brücke für Kinder über 13 Jahre ist ein vom Bildungsministerium zertifiziertes Programm, das es Kindern ermöglicht, ihre verpflichtende grundlegende Schulbildung abzuschließen, die Jahrgangsstufen 11 und 12 zu Hause zu absolvieren und dann die Abschlussprüfungen der Sekundarschule abzulegen. Im Jahr 2019 nahmen jedoch nur 3.200 syrische Kinder an dem Programm teil.
Jordanien und seine internationalen Geber sollten außerschulische und informelle Bildungsprogramme drastisch ausweiten, um mehr Kinder zu erreichen, die bereits die Schule abgebrochen haben, und sie darin unterstützen, eine weiterführende Schule abzuschließen.
Die weiterführende Schulbildung für geflüchtete Kinder ist ein vernachlässigter und unterfinanzierter Bereich. Humanitäre Bildungspläne geben keine Ziele dafür vor, welcher Anteil der Kinder eine weiterführende Schule besuchen sollte, und nur wenige Geber – darunter der Madad-Fonds der Europäischen Union, eine wichtige Finanzquelle – geben Auskunft darüber, welche geförderten Projekte spezifisch auf Kinder im Sekundarschulalter ausgerichtet sind. Dadurch ist es nahezu unmöglich festzustellen, wieviel Geld in den Sekundarschulbereich geflossen ist. Den Berechnungen von Human Rights Watch zufolge stellten internationale Geber von 2016 bis 2019 insgesamt 356 Millionen US-Dollar für die Bildung Geflüchteter in Jordanien bereit, während die Pläne der jordanischen Regierung den Finanzbedarf mit 522 Mio. US-Dollar veranschlagt hatten.
Der Zugang zu weiterführender Schulbildung ist für syrische Kinder in der gesamten Region äußerst schlecht, dies zeigen die Zahlen der betreffenden Regierungen und der UN. In der Türkei erreichen 27 Prozent der geflüchteten syrischen Kinder die obere Sekundarstufe, im Libanon nur 4 Prozent. Im Mai wandte sich Human Rights Watch in einem Schreiben an die wichtigsten Geber – darunter die EU-Kommission, Deutschland, die USA, Großbritannien, Kanada, Norwegen und Dänemark – und forderte sie auf, den Zugang zu weiterführender Schulbildung für geflüchtete syrische Kinder in diesen Ländern sowie im Irak zu verbessern – eine Schlüsselpriorität der Brüsseler Konferenz.
Die Geber sollten dafür sorgen, dass ihre Mittel im Bereich Bildung auch bei Kindern über 12 Jahren ankommen. Humanitäre Bildungspläne müssen für diese Altersgruppe klare Zielmarken hinsichtlich Schulbesuch, Lernerfolg und anderer Bildungsziele vorgeben. Alle Kinder – gleich ob Migranten, Geflüchtete, Asylsuchende oder Staatenlose – haben ein Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung, insbesondere weiterführender Schulbildung.
Auch die Tatsache, dass die humanitäre Hilfe für Jordanien seit Jahren zurückgeht, wirkt sich negativ auf die Bildungschancen geflüchteter Kinder aus. Obgleich die Corona-Pandemie Jordaniens Abhängigkeit von internationaler Hilfe noch verstärkt hat, lebten bereits zuvor fast 80 Prozent der syrischen Flüchtlinge dort unterhalb der Armutsgrenze von 68 jordanischen Dinar pro Monat (ca. 96 US-Dollar). UNICEF unterhält ein Programm, dass Familien dabei unterstützt, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Dieses wurde jedoch wegen Budgetkürzungen von 55.000 Kindern im Jahr 2018 auf 10.000 Kinder in 2019 reduziert. Syrische Familien berichten, dass Kinder – insbesondere Mädchen – die sich eine Beförderung zur Schule nicht leisten können und deshalb zu Fuß gehen, auf dem Schulweg belästigt werden und infolgedessen die Schule abbrechen.
„Die jordanische Regierung ist zurecht stolz darauf, dass die meisten geflüchteten Kinder aus Syrien zur Grundschule gehen können. Doch sie sollte auch dafür sorgen, dass die Kinder eine weiterführende Schule abschließen können. Denn dies ist in der heutigen Welt unabdingbar“, so Small. „Die Geber auf der Brüsseler Konferenz sollten sich klar machen, dass die Erfolge bei der Grundschulbildung zunichte gemacht werden, wenn die Kinder keine weiterführende Schulbildung erhalten.“