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Jordanien: Zugang zu Bildung für syrische Flüchtlinge soll weiter ausgebaut werden

Mindestens 80.000 syrische Kinder besuchen keine Schule

(Amman) – Jordanien soll darauf hinwirken, dass die Zugangsbeschränkungen zur Schule für syrische Flüchtlingskinder aufgehoben werden, um das ehrgeizige Ziel einer höheren Einschulungsquote zu erreichen, wenn im September das neue Schuljahr beginnt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Mehr als ein Drittel der beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen registrierten syrischen Kinder im Schulalter – über 80.000 von insgesamt 226.000 Kindern – haben im vergangenen Schuljahr keine formale Bildungseinrichtung besucht.
 

Syrische Kinder besuchen eine Schule im Flüchtlingslager Zaatari im norden Jordanien, 20. Oktober 2015. Die Schule unterrichtete syrische Maedchen morgens und Jungs abends. Ihr fehlt es aber an Strom, Heizung und fliessendem Wasser. © 2016 Bill Van Esveld/Human Rights Watch

Der 97-seitige Bericht „‘We’re Afraid For Their Future’: Barriers to Education for Syrian Refugee Children in Jordan“ beschreibt die großzügigen Bemühungen Jordaniens, syrische Kinder in das öffentliche Schulsystem einzugliedern, das bereits mit Kapazitäts- und Qualitätsproblemen zu kämpfen hatte, bevor die ersten Flüchtlinge aus Syrien ins Land kamen. Gleichzeitig dokumentiert Human Rights Watch die Hürden beim Zugang zu Schule und Bildung. Dazu gehören die Anforderungen bei der Registrierung von Asylsuchenden, die viele Syrer nicht erfüllen können; Strafen für Flüchtlinge, die ohne eine entsprechende Genehmigung arbeiten, was wiederum zu Armut, Kinderarbeit und Schulabbruch beiträgt; und der Ausschluss von Kindern, die seit drei oder mehr Jahren keine Schule besucht haben. Jordanien hat bereits einige Beschränkungen gelockert, die Behörden sollen jedoch ihre Bemühungen ausweiten, damit das Grundrecht auf Bildung für alle syrischen Kinder verwirklicht werden kann, so Human Rights Watch.
 

„Jordanien hat bereits wesentliche Maßnahmen ergriffen, um syrischen Flüchtlingskindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Dennoch sind viele, die vor den Schrecken des Krieges in Syrien geflohen sind, von der Bildung und der Zukunft, die diese bietet, ausgeschlossen“, so Bill Van Esveld, Senior Researcher in der Abteilung Kinderrechte von Human Rights Watch. „Geldgeber, die jetzt verstärkt Unterstützung leisten, müssen gemeinsam mit Jordanien dringend am Abbau der politischen Hürden arbeiten, die Kinder und Jugendliche von einem Schulbesuch fernhalten.“
 

Jordanien hat bereits wesentliche Maßnahmen ergriffen, um syrischen Flüchtlingskindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Dennoch sind viele, die vor den Schrecken des Krieges in Syrien geflohen sind, von der Bildung und der Zukunft, die diese bietet, ausgeschlossen.
Bill Van Esveld

Senior Researcher in der Abteilung Kinderrechte

Seit 2011 hat Jordanien Schulen in Flüchtlingslagern eröffnet und Doppelschichten eingeführt, um mehr Plätze für syrische Kinder zu schaffen. Ein von Geldgebern finanzierter Plan würde zusätzliche Plätze und neue Programme für bis zu 75.000 mehr Kinder im Schuljahr 2016/2017 ermöglichen.
 

Human Rights Watch hat Interviews mit 105 Flüchtlingen in Gastgemeinden und Flüchtlingslagern geführt, die Maßnahmen der Regierung und die Ergebnisse der UN sowie anderer Organisationen untersucht, sich mit Lehr- und Verwaltungskräften getroffen und Schulen besucht.
 

Von den rund 650.000 Syrern, die beim UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) in Jordanien als Asylsuchende registriert sind, haben nach Angaben des UNHCR rund 520.000 die Flüchtlingscamps verlassen und leben jetzt in Gastgemeinden. Den syrischen Flüchtlingen zufolge sind die Bedingungen in den Lagern schwierig. So gibt es beispielsweise in den Schulen keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, keine Heizung und keine Fenster. Syrische Flüchtlinge müssen in den Gastgemeinden eine Bescheinigung vorweisen, die vom jordanischen Innenministerium ausgestellt wird, damit die Kinder dort eine öffentliche Schule besuchen können. Flüchtlinge, die die Camps nach Juli 2014 auf informellem Weg verlassen haben und keinen über 35 Jahre alten jordanischen Verwandten haben, der für sie bürgt, haben keinen Anspruch auf diese Bescheinigung. Wie viele solcher Fälle es gibt, ist unbekannt, es dürften aber an die Zehntausende sein.

Die Bescheinigungen sind nur in dem Bezirk gültig, in dem sie ausgestellt worden sind. Bei einem Umzug kann es bis zu acht Monate dauern, um sich erneut registrieren zu lassen. Das hat zur Folge, dass Kinder bis zu einem Jahr der Schule fernbleiben. Außerdem müssen die Familien Geburtsurkunden vorlegen, um eine solche Bescheinigung zu erhalten. Nach Einschätzung von UN-Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen haben jedoch 30 Prozent oder mehr syrische Kinder in Jordanien keine Geburtsurkunde.
 

Aufgrund bereits vorher bestehender Regelungen dürfen sich Kinder, die seit drei oder mehr Jahren keine Schule besucht haben, nicht wieder an einer Schule anmelden. Ein von Geldgebern unterstütztes Programm würde es bis zu 25.000 dieser Kinder ermöglichen, wieder zur Schule zu gehen. Sie dürfen allerdings nicht älter als zwölf Jahre alt sein. Jordanien hat eine Organisation akkreditiert, die Kinder im Alter von 13 Jahren und älter unterrichtet. Auch dieses Programm wird ausgebaut, hat aber bisher nur einige Tausend syrische Kinder erreicht.

Mehr als 86 Prozent der syrischen Asylsuchenden in Jordanien leben in Armut – ein maßgeblicher Faktor für das Abbrechen der Schule, da viele Familien die Fahrtkosten nicht bezahlen können. So bleiben beispielsweise Haya und Noor, zwei Schwestern im Alter von zehn und elf Jahren, an zwei Tagen die Woche dem Unterricht fern, weil sie ihrem Vater, der als Landarbeiter arbeitet, helfen müssen, um die Fahrt mit dem Kleinbus mitzufinanzieren, der sie und ihre jüngeren Geschwister zur Schule bringt.
 

Internationale humanitäre Hilfe ist für das Überleben der Flüchtlinge zwar unverzichtbar, sie reicht aber oft nicht aus. Flüchtlinge, die einer Beschäftigung nachgehen und von den jordanischen Behörden ohne – die nur schwer erhältliche – Arbeitserlaubnis erwischt werden,

werden festgenommen und in die Camps gebracht. Seit Ausbruch des Syrienkonflikts ist Kinderarbeit unter syrischen Kindern in Jordanien um das Vierfache gestiegen, da Kinder, wenn sie im informellen Sektor arbeiten, nicht so schnell ins Visier der Behörden geraten. Alle von Human Rights Watch befragten Kinder, die einer Arbeit nachgehen, sprachen von langen Arbeitszeiten, gefährlichen Arbeitsbedingungen oder von Arbeit, die von sehr kleinen Kindern verrichtet wird, was gegen das jordanische und internationale Arbeitsrecht verstößt. Einer von ihnen, Mohamad, 8, verkauft jeden Tag sieben Stunden lang Nüsse auf den Straßen von Mafraq.

Der Druck, arbeiten zu müssen, wird bei Kindern mit zunehmendem Alter größer. Nur etwa 5.500 von schätzungsweise 25.000 oder mehr syrischen Kindern im sekundarschulfähigen Alter erhielten im vergangenen Jahr eine formale Bildung. Jugendliche sind vom mangelnden Zugang zu Bildung unverhältnismäßig stärker betroffen. Jordanien soll die Anforderungen lockern, wonach syrische Schüler ihre Zeugnisse der Sekundarstufe in Syrien im Original vorlegen müssen, um sich an einer Universität einschreiben zu können. Außerdem sollen Nichtregierungsorganisationen ermutigt werden, Möglichkeiten für eine berufliche Ausbildung anzubieten.

Syrische Kinder verlassen eine Schule im Flüchtlingslager Emirati-Jordanian im norden Jordaniens, 21. Oktober 2015. Jordaniens Bildungsministerium versorgt Schulen in Flüchtlingslagern mit Lehrern und Administratoren. © 2016 Bill Van Esveld/Human Rights Watch

Der Anteil an Kinderehen ist bei den in Jordanien registrierten Eheschließungen von Syrern seit 2011 von 12 Prozent auf mindestens 32 Prozent gestiegen. Für Mädchen kommen noch zusätzliche Hürden beim Zugang zu Bildung hinzu, da Eltern um die Sicherheit älterer Mädchen auf dem Weg zur Schule besorgt sind.
 

Die jordanischen Behörden haben syrischen Flüchtlingen vor Kurzem eine Frist zugestanden und die Vorschriften gelockert: Sie stellten mehr als 20.000 Arbeitsgenehmigungen aus, dennoch sind schätzungsweise bis zu 100.000 Syrer nicht berechtigt, einer legalen Arbeit nachzugehen. Der Rat der EU stimmte zu, Waren und Güter aus designierten „Entwicklungszonen“ als Freihandelsgut zu betrachten. Dadurch könnten bis zu 200.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, die für Syrer in Betracht kämen. Dennoch wird es Jahre dauern, bis diese Maßnahmen Früchte tragen. In der Zwischenzeit soll Jordanien die Lockerung der Vorschriften für die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen auf unbefristete Zeit verlängern. Zudem sollen Geldgeber weitere Möglichkeiten zur Schaffung von Einkommen unterstützen.
 

Zusätzlich abschreckend sind weitverbreitete Berichte über körperliche Züchtigung an Schulen, die in Jordanien zwar untersagt ist, das Verbot wird aber nur unzureichend umgesetzt. Des Weiteren schätzt UNICEF, dass jährlich 1.600 syrische Kinder aufgrund von Mobbing durch Mitschüler die Schule abbrechen. Human Rights Watch hat auch jordanische Lehrer interviewt, die ohne eine entsprechende Ausbildung Klassen mit bis zu 50 Schülern unterrichteten. Darunter waren auch Schüler, die offensichtlich traumatisiert waren und psychosoziale Betreuung brauchten.
 

Geldgeber verpflichteten sich, im Jahr 2015 71,5 Millionen US-Dollar für Bildung in Jordanien zur Verfügung zu stellen. Ein Teil der Gelder wurde aber erst im vierten Quartal ausgezahlt, zu spät für den Beginn des Schuljahres im September. Am 26. Mai 2016 sagten fünf Geldgeber 57,7 Millionen jordanische Dinar (etwa 81,3 Millionen US-Dollar) für das Schuljahr 2016/2017 zu. Nach Angaben der jordanischen Behörden waren mit Stand vom 2. August 2016 41,7 Millionen US-Dollar für Bildungsprojekte ausgezahlt worden, die sowohl Jordaniern als auch syrischen Flüchtlingen zugute kommen. Jordanien veranschlagte in seinem „Notfallplan für Syrien“ zusätzliche Kosten von 249,6 Millionen US-Dollar für den Bereich Bildung im Jahr 2016. Schätzungen der Weltbank zufolge kostet der Syrienkonflikt Jordanien jährlich 2,5 Milliarden US-Dollar.

Jordanien soll die Voraussetzungen für die Anmeldung an Schulen flexibel gestalten, damit Kinder, die über keine gültigen Dokumente verfügen, nicht von den Schulen abgewiesen werden. Zudem soll Jordanien auf die Drei-Jahres-Regel verzichten und jedem Kind, das nicht an speziellen Nachhilfeprogrammen teilnehmen kann, einen Einstufungstest ermöglichen. Die Geber sollen eine kontinuierliche, ausreichende und rechtzeitige Bereitstellung der finanziellen Mittel, unter anderem für die Ausbildung von Lehrern, sicherstellen. Zudem sollen sie darauf achten, dass die mit dem Schulbesuch verbundenen Kosten, wie etwa Fahrtkosten, gedeckt und dass Kinder im Sekundarschulalter sowie Kinder mit Behinderungen gezielt unterstützt werden. Jordanien und die Geldgeber sollen gemeinsam an der qualitativen Verbesserung der Bildungssituation für alle Kinder arbeiten und dadurch zur Reduzierung von interkommunalen Spannungen beitragen.

„Die jordanischen Entscheidungsträger haben erkannt, dass es im eigenen Interesse des Landes liegt, dafür zu sorgen, dass syrische Kinder eine Ausbildung erhalten“, so Van Esveld. „Eine ‚verlorene Generation‘ von syrischen Kindern und Jugendlichen stellt für die Menschenrechte und die Zukunft der Region auf Dauer eine Katastrophe dar.“

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