(Brüssel, 17. November 2015) – Die Regierungen der Europäischen Union sollen umgehend Maßnahmen ergreifen, damit Europas Antwort auf die Flüchtlingsproblematik, die sich zu einer veritablen EU-Krise entwickelt hat, rechtliche Verpflichtungen und europäische Wertvorstellungen nicht verletzt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 16-seitige Bericht „Europe’s Refugee Crisis: An Agenda for Action“ analysiert, welche Fehler die EU-Regierungen bisher in dieser Krise begangen haben. Zudem werden Empfehlungen in vier Bereichen ausgesprochen, wie Europa der Situation besser gerecht werden kann: gefährliche Reisen nach Europa sollen möglichst vermieden, die Krise an den Grenzen Europas angegangen, die Mängel des EU-Asylsystems behoben und die Zusammenarbeit der EU mit anderen Ländern sichergestellt werden, um den Schutz von Flüchtlingen und die Wahrung der Menschenrechte zu verbessern.
„In einer Welt, in der Vertreibung, Konflikte und Menschenrechtsverletzungen zunehmen, ist es wichtiger denn je, dass die EU eine Führungsrolle einnimmt“, so Judith Sunderland, stellvertretende Leiterin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Die entsetzlichen Anschläge in Paris am 13. November unterstreichen, dass die EU effektiv und gemeinsam auf die Flüchtlingskrise reagieren muss. Asylsuchende sollen geregelt registriert und angemessen überprüft werden – auch diejenigen, die vor der Gewalt des IS in Syrien und im Irak fliehen.“
Amnesty International hat am 17. November 2015 ebenfalls einen wichtigen Bericht zu diesem Thema mit dem Titel „Fear and Fences: Europe’s Response to Keeping Refugees at Bay“ veröffentlicht und äußert darin ähnliche Bedenken.
Mehr als 800.000 Asylsuchende und Migranten sind 2015 auf dem Seeweg nach Europa gekommen. Die meisten reisten in die nördlichen und westlichen EU-Länder weiter. Laut UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, kamen 84 Prozent aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia und dem Irak – alles Länder, in denen Konflikte, weitverbreitete Gewalt und Unsicherheit herrschen, oder aber Länder mit äußerst repressiven Regierungen.
Obwohl die EU und ihre Mitgliedstaaten die Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer verstärkt haben, sind im Jahr 2015 mehr als 3.450 Menschen bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen, ums Leben gekommen.
Die Reaktion vieler EU-Regierungen auf die Krise weist gravierende Mängel auf. Viele Menschen sterben weiter auf dem Mittelmeer, es herrschen Chaos und erbärmliche humanitäre Bedingungen an zum Teil geschlossenen oder gesperrten Landgrenzen, die Verantwortung ist ungleich verteilt, und es fehlt der Wille, gemeinsam zu handeln. Viele EU-Länder haben versucht, ihre Verantwortung auf andere Staaten außerhalb der Europäischen Union abzuwälzen.
Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sollen gemeinsam darauf hinarbeiten:
- Menschenleben auf hoher See zu retten: durch Such- und Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeerraum und in der Ägäis;
- Die Notwendigkeit gefährlicher Überfahrten zu reduzieren: durch die verstärkte Umsiedlung der Flüchtlinge, eine erleichterte Familienzusammenführung und die Bereitstellung von humanitären Visa;
- Abhilfe für das Chaos an den Grenzen Europas zu schaffen: durch eine bessere Vorbereitung und Koordinierung, die schnellere Umsetzung eines abgestimmten Programms zur Umverteilung der Flüchtlinge und den Zugang zu fairen und effizienten Asylverfahren – auch an den Landgrenzen Griechenlands und Bulgariens zur Türkei – sowie durch angemessene Aufnahmebedingungen in der gesamten Region;
- Mängel des EU-Asylsystem zu beheben: indem zunächst das bestehende Dublin-System durch einen ständigen Mechanismus zur gerechten Verteilung von Asylsuchenden ersetzt wird und EU-Standards gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten durchgesetzt werden;
- Menschenrechte bei der migrationspolitischen Zusammenarbeit mit Ländern außerhalb der EU zu wahren: durch eine sorgfältig durchdachte Konzeption und Ausführung entsprechender Programme und deren Kontrolle;
- Menschenrechte in den Mittelpunkt diplomatischer Bemühungen zu stellen: durch die Bekämpfung der Ursachen von Flüchtlings- und Migrationsbewegungen
Die EU soll zudem sicherstellen, dass bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität und des Menschenhandels weder Leben gefährdet noch die Menschen davon abgehalten werden, internationalen Schutz zu suchen. Auch dürfen sie nicht in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen.
„Dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder auf einem Feld auf dem Balkan erfrieren, dies darf niemals zur Grenzkontrolle gehören“, so Sunderland. „Die europäischen Regierungen sollen sichere und legale Wege finden und den Zugang zu Asyl und zu einer menschenwürdigen Behandlung an den EU-Grenzen und in jedem einzelnen Mitgliedstaat sicherstellen.“
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„Europe’s Refugee Crisis: An Agenda for Action“ ist verfügbar unter:
https://www.hrw.org/node/283398
Weitere Berichte von Human Rights Watch zur Migrationskrise in Europa finden Sie hier:
https://www.hrw.org/tag/europes-migration-crisis