(Budapest) – Ungarns neue Grenzpolitik verwehrt Menschen den Zugang zu Asyl und setzt die Betroffenen Gewalt und Verfolgung aus.
Tausende Asylsuchende und Migranten sitzen in Serbien fest, weil die ungarische Grenze am 15. September 2015 de facto geschlossen worden ist. An diesem Tag trat Ungarns neue Grenzpolitik in Kraft und ein Grenzzaun wurde fertiggestellt. Die Bereitschaftspolizei drängte Menschen, die die Grenze passieren wollten, mit Hilfe von Tränengas und Wasserwerfern zurück. Die Hälfte der 98 Asylanträge, die am 15. September, als die neue Grenzpolitik in Kraft trat, an der serbischen Grenze eingingen, wurden bis zum 16. September abgelehnt. Mindestens 46 Menschen, die seit dem 15. September unerlaubt die Grenze von Serbien aus passieren wollten, wurden festgenommen. Ihnen wird irreguläre Einreise vorgeworfen.
„Ungarns neue Grenzpolitik hat ein ganz klares Ziel: Asylsuchende nicht ins Land zu lassen”, so Lydia Gall, Osteuropa- und Balkan-Expertin von Human Rights Watch. „Es ist eine Schande, dass Budapest bereit ist, Polizisten und Strafgerichte einzusetzen, damit es den Menschen, die vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen flüchten, keine Schutz bieten muss.“
Die neuen Bestimmungen, zusammen mit anderen Änderungen des Asylgesetzes im August, behindern ernsthaft den Zugang zu Asyl in Ungarn, so Human Rights Watch. Als Folge dieser Gesetzesänderungen hat die ungarische Regierung am 16. September wegen „Masseneinwanderung” den Ausnahmezustand verhängt. Das bedeutet, dass strafrechtliche Verfahren wegen irregulärer Grenzübertritte und Zerstörung des Grenzzauns Vorrang haben vor anderen Verfahren, darunter auch vor erklärten Asylgesuchen.
Die neue Grenzpolitik umfasst drei Kernpunkte:
Ein Gesetz, das den Zugang zu Asyl in Ungarn für jene, die aus Serbien kommen, beschränkt und die zügige Rückführung von Asylsuchenden nach Serbien gestattet, da dies als „sicheres Land“ für Asylsuchende eingestuft wird.
Die nationalen Behörden dürfen den Ausnahmezustand erklären und die Grenzübergänge schließen. Dies haben die Behörden bereits an den Grenzübergängen zu vier Ländern umgesetzt.
Die irreguläre Einreise ist nun ein Straftatbestand. Dies erlaubt den Behörden Menschen, die die Grenze irregulär überqueren, für bis zu acht Jahre in Haft zu nehmen, sie abzuschieben und ihre Wiedereinreise zu verbieten.
All diese Maßnahmen zusammen machen es Asylsuchenden fast unmöglich, Schutz in Ungarn zu erhalten. Dies bedeutet einen Verstoß gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes, so Human Rights Watch. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat sich angesichts Ungarns Verpflichtungen gemäß der Flüchtlingskonvention besorgt darüber geäußert, dass Asylsuchende bestraft werden, die die Grenze irregulär überschreiten, weil sie auf der Suche nach Schutz sind. Wörtlich sagte der UN-Flüchtlingskommissar: „Es ist kein Verbrechen, auf der Suche nach Asyl eine Grenze zu überqueren.“
Gemäß den neuen Regelungen können Anträge von Asylsuchenden, die über einen der offiziellen Grenzübergänge von Serbien nach Ungarn kommen, durch ein beschleunigtes Verfahrens in weniger als 15 Tagen abgelehnt werden. Asylsuchende, deren Antrag bereits abgelehnt wurde, können nach Serbien abgeschoben werden.
Am 16. September hat Ministerpräsident Viktor Orbans Sicherheitsberater Gyorgy Bakondi, bei einer Pressekonferenz verkündet, dass 48 der 98 Asylanträge, die an der Grenze zwischen 4:30 Uhr morgens und Mitternacht am 15. September gestellt wurden, bereits abgelehnt worden seien. In sieben Fällen sei Widerspruch eingelegt worden. Der Aufenthaltsort jener Menschen, deren Antrag abgelehnt wurde, ist nicht bekannt. Somit ist auch unklar, ob die Betroffenen nach Serbien abgeschoben wurden.
Vorliegendes Beweismaterial legt nahe, dass Serbien nicht als sicheres Land für Asyl angesehen werden sollte. Im April dokumentierte Human Rights Watch schwere Polizeigewalt gegen Asylsuchende und Migranten in Serbien sowie Schwachpunkte im Asylsystem Serbiens. Human Rights Watch dokumentierte, dass seit 2008 nur 16 Menschen Schutz erhielten und dass Serbien keinen besonderen Schutz für unbegleitete Kinder bietet. Im Juli dokumentierte Amnesty International ähnliche Probleme. Am 17. September befand der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, dass das Asylsystem in Serbien nicht in der Lage sei, den starken Zustrom von Menschen, die effektiven Schutz benötigen, zu bewältigen.
Medienberichten zufolge begannen die Zusammenstöße am 16. September an dem geschlossenen Grenzübergang Röszke, als Asylsuchende und Migranten versuchten, den Zaun zu durchbrechen. Ein Journalist, der Zeuge der Zusammenstöße wurde, sagte Human Rights Watch, dass am 17. September Einsatzkräfte der Antiterroreinheit TEK wahllos gegen Menschen, darunter auch auf Frauen und Kinder, mit Schlagstöcken vorgingen. Zwar darf die Polizei laut internationalem Recht mit angemessener Härte gegen gewalttätige Massen vorgehen, in diesem Fall erscheint der anscheinend willkürliche Einsatz von Gewalt jedoch unverhältnismäßig und exzessiv. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Zeid Ra’ad al Hussein, sagte am 17. September, dass das Vorgehen der ungarischen Behörden gegen Migranten und Asylsuchende teils unverhältnismäßig gewesen sei.
Die ungarischen Behörden sollen umgehend den mutmaßlich exzessiven Einsatz von Gewalt untersuchen und diejenigen, die solche Gewalt angewendet haben, zur Verantwortung ziehen.
Die Kriminalisierung der irregulären Einreise durch die ungarische Regierung ist besonders problematisch, da die Betroffenen kaum eine Chance auf den in solchen Fällen nötigen Rechtsschutz haben. So sind etwa keine schriftlichen Übersetzungen der Anklageschriften oder der Urteile nötig. Dies verstößt gegen die strafrechtlichen Standards des EU-Rechts und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Die neuen Bestimmungen sehen keinen besonderen Schutz für unbegleitete Kinder vor, und laut Gesetz ist es auch nicht nötig, einen Vormund zu bestimmen, der im besten Interesse des Kindes handelt. Dies verstößt gegen die internationalen Verpflichtungen bezüglich der Rechte des Kindes.
Das Gericht in Szeged, vor dem seit dem 16. September Verfahren gegen Asylsuchende und Migranten wegen irregulärer Einreise verhandelt werden, hat in einigen Fällen innerhalb einer Stunde oder weniger ein Urteil gefällt, so ungarische Medienberichte. Im ersten verhandelten Fall wurde einem Mann aus dem Irak vorgeworfen, durch ein bereits bestehendes Loch im Grenzzaun nach Ungarn gelangt zu sein. Der Mann wurde zur Abschiebung und einem einjährigen Wiedereinreiseverbot verurteilt, was der Mindeststrafe entspricht. Die Höchststrafe von acht Jahren Gefängnis ist trotz des Ausnahmezustands unverhältnismäßig, so Human Rights Watch.
Die faktische Abriegelung der ungarischen Grenze führte dazu, dass Asylsuchende und Migranten von Serbien aus Kroatien durchqueren, um nach Westeuropa zu gelangen. Seit der Abriegelung Ungarns sind mindestens 13.000 Asylsuchende und Migranten über die Grenze nach Kroatien gekommen. Bis zum 18. September hatten die kroatischen Behörden bereits sieben von acht Grenzübergängen zu Serbien geschlossen.
„Natürlich haben Länder das Recht, ihre Grenzen zu schützen. Ungarns neue Grenzpolitik bestraft jedoch jene, denen sie eigentlich Schutz bieten sollte, und schürt so das Risiko, dass andere Regierungen diesem Beispiel folgen”, so Gall. „Die ungarischen Behörden müssen sicherstellen, dass jene, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind, ihre Forderungen in einem gerechten und transparenten Verfahren vorbringen können.“