(Bangui) - Muslimische Bewohner der Zentralafrikanischen Republik fliehen in großer Zahl vor den anhaltenden Angriffen der Anti-Balaka-Milizen, so Human Rights Watch nach dem Besuch vieler Städten und Dörfer im Nordwesten des Landes. Die Friedenstruppen Frankreichs und der Afrikanischen Union in diesen Gebieten können die muslimischen Bürger nicht schützen. Die Anti-Balaka-Milizen attackieren Muslime aus Rache für die grauenhaften Menschenrechtsverletzungen der überwiegend muslimischen Séléka-Gruppe im vergangenen Jahr.
Die Europäische Union und andere Staaten sollen die französischen und afrikanischen Streitkräfte unverzüglich dabei unterstützen, das Land zu stabilisieren und die gezielte Gewalt gegen Muslime zu beenden. Wie vom UN-Generalsekretär vorgeschlagen, soll der UN-Sicherheitsrat eine starke Friedensmission autorisieren, um Zivilisten zu schützen und die Sicherheit herzustellen, die für den Wiederaufbau des Landes notwendig ist, das durch massive Menschenrechtsverletzungen und die damit verbundene humanitäre Katastrophe verwüstet wurde.
„Wir erleben gerade, dass ganze muslimische Gemeinschaften, die seit Generationen in der Zentralafrikanischen Republik gelebt haben, aus dem Land fliehen“, sagt Peter Bouckaert, Leiter der Krisenabteilung von Human Rights Watch. „Muslime in der Zentralafrikanischen Republik kämpfen mit unerträglichen Lebensbedingungen und unvorstellbarer Gewalt, und die afrikanischen und französischen Truppen können sie nicht schützen.“
Human Rights Watch veröffentlichte heute auch neue Satellitenaufnahmen, die die massive Zerstörung von Wohngebieten durch Anti-Balaka-Milizen und, zu einem früheren Zeitpunkt, durch die Séléka-Koalition zeigen, die nach einem Staatsstreich im März 2013 die Macht übernahm.
Die Anti-Balaka-Milizen bestehen hauptsächlich aus Anhängern christlicher und animistischer Religionen, die sich im September zusammenschlossen, um sich für Angriffe gegen Christen durch die Séléka zu rächen. Die französischen und afrikanischen Truppen wurden im Dezember entsandt, um die Gewalt der Séléka zu beenden. Aber zu diesem Zeitpunkt übte die Anti-Balaka bereits größere Kontrolle aus und hatte die Séléka dazu gezwungen, sich zurückzuziehen und neu zu formieren. Entsprechend waren und sind es nun die muslimische Bürger, die massiv von Plünderungen bedroht sind.
Allein in der vergangenen Woche sind einige der letzten Muslime aus mindestens zehn Orten im Nordwesten des Landes über die nördliche beziehungsweise westliche Grenze in den Tschad oder nach Kamerun geflohen. Am 1. März 2014 wurden Muslime aus Boali, Bossemptele und Baoro unter dem Schutz von Truppen der Afrikanischen Union in einem Lastwagen-Konvoi evakuiert und nach Kamerun gebracht.
Aus Boali evakuierte der Konvoi alle 650 dort noch ansässigen Muslime, die sechs Wochen lang unter dem Schutz der katholischen Kirche gelebt hatten. In Baoro wurden mindestens 20 Muslime evakuiert, ebenfalls aus dem Schutz der katholischen Kirche heraus. Damit gibt es in der Stadt, in der früher 4.000 muslimische Menschen lebten und zwölf Moscheen standen, keinen einzigen muslimischen Bürger mehr. In Bossemptele evakuierte der Konvoi etwa 190 Muslime, ließ jedoch 65 schwache und schutzbedürftige Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen zurück, die nicht auf die Wagen klettern konnten. Unter den Zurückgebliebenen befanden sich neun Kinder mit Polio und ein älterer Mann, der an Lepra leidet.
Halima, eine 25-jährige muslimische Frau, die stark unterernährt war, berichtete, dass die Anti-Balaka ihren Ehemann und ihren Schwiegervater im Januar getötet hat und dass ihre drei Kinder in der chaotischen Situation verschwunden sind. Sie hat versucht, am 1. März auf die abfahrenden Lastwagen zu klettern, war aber zu schwach dafür. „Niemand hat mir geholfen“, sagte sie unter Tränen. „Ich rief ihnen nach, dass sie mich mitnehmen sollen, aber sie sind ohne mich weggefahren.“
„Es gibt keine Worte für das Ausmaß des Leids, das die Gewalt der Anti-Balaka verursacht“, so Bouckaert. „In einem völlig fehlgeleiteten Versuch, sich für die Verbrechen der Séléka zu rächen, verübt die Anti-Balaka grausame Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, nur, weil diese Muslime sind.“
Die muslimische Gemeinschaft in Yaloké, der früher mehr als 10.000 Menschen angehörten, ist gänzlich verschwunden. Die letzten Muslime sind vor einer Woche in den Tschad abgereist. Auch in vielen anderen Städten und Dörfern gibt es keine Muslime mehr, darunter die großen Marktstädte Zawa, Bekadili und Boganangone und die kleinere Stadt Boguera.
Am 28. Februar tötete die Anti-Balaka den letzten Muslim in Mbaiki, einem der Ballungszentren des Landes. Vor dem Konflikt lebten dort mindestens 4.000 Muslime. Angehörige der Anti-Balaka brannten auch die zwei wichtigsten Moscheen der Stadt ab. Sie griffen Saleh Dio auf, der sich geweigert hatte, die Stadt zu verlassen, und versuchte, sich in einer Polizeistation in Sicherheit zu bringen, und schnitten ihm die Kehle durch.
Am 12. Februar hatten der französische Verteidigungsminister, Jean-Yves Le Drian, und die Übergangspräsidentin der Zentralafrikanischen Republik, Catherine Samba-Panza, Mbaiki besucht und als „Symbol“ für friedliche Koexistenz und Versöhnung bezeichnet.
Auch in den Orten, in denen noch Muslime leben, sind sie der massiven Gewalt der Anti-Balaka ausgesetzt. In Boda, einem Zentrum des Diamantenhandels, leben noch schätzungsweise 3.000 bis 4.000 Muslime. Sie können den muslimischen Stadtteil nicht verlassen, obwohl französische Truppen anwesend sind. Kämpfer der Anti-Balaka haben allen Händlern verboten, Muslimen Lebensmittel zu verkaufen. Zum Zeitpunkt der Human Rights Watch-Untersuchungen am 28. Februar hungerten viele. Die französischen Truppen haben das Mandat, die muslimischen und christlichen Gemeinschaften voneinander fern zu halten, sind aber nicht in der Lage, die Lebensmittelblockade zu beenden.
Al-Haj Abdou Kadil, ein gebrechlicher muslimischer Mann, sagte, dass er bereits zwei seiner Kinder beerdigt hat, den dreijährigen Mousa und den vierjährigen Mohammed, die am Tag zuvor verhungert waren. Seine Frau war vor Hunger so geschwächt, dass sie nicht sprechen konnte.
In Bohong, einer großen Viehzucht-Stadt, in der viele Angehörige der ethnischen Gruppe der Fulbe leben, halten sich noch 120 Muslime in der Moschee auf. Sie berichten, dass die Anti-Balaka zwei fulbische Viehzüchter hingerichtet hat, die zehn Tage zuvor nach ihren Kühen sehen wollten. Als Human Rights Watch die Befehlshaber der Anti-Balaka mit der Exekution konfrontierte, übernahmen diese offensichtlich die Verantwortung dafür: „Sie fragten, ob sie nach ihren Kühen sehen könnten, und wir sagten, ‚na klar‘, und, na ja, sie sind nicht zurückgekommen.“ Die Befehlshaber fingen daraufhin zu lachen an.
Satellitenaufnahmen
Human Rights Watch hat Satellitenbilder untersucht, die das Ausmaß der Zerstörung in mehr als 60 betroffenen Städten und Dörfern im Nordwesten der Zentralafrikanischen Republik dokumentieren. Die Schäden sind zum Teil in den vergangenen Monaten entstanden, als bereits mehr Friedenstruppen im Einsatz waren.
Beispielsweise zeigen die Aufnahmen von Bossangoa, dass Anfang Dezember 2013 in kürzester Zeit Tausende Anwohner vertrieben und mehr als 1.400 Gebäude, überwiegend Wohnhäuser, zerstört wurden. Zeugenaussagen bestätigen den Exodus der buchstäblich ganzen muslimischen Gemeinschaft von Bossangoa, zwischen 7.000 und 10.000 Personen. Nach Angriffen der Anti-Balaka am 5. Dezember suchten die Anwohner Schutz in einer nahegelegenen Schule, der École Liberté. Zwischen Mitte Dezember 2013 und Ende Januar 2014 zerstörte eine Serie von Brandanschlägen überwiegend auf Wohnhäuser den muslimisch geprägten Bezirk Boro fast vollständig, der sich im Norden der Stadt befindet.
Augenzeugenberichten zufolge griffen Kämpfer der Séléka Ende September 2013 die Stadt Bohong an. Sie attackierten gezielt die christlichen Bezirke und ließen nur das muslimische Viertel im Süden der Stadt weitestgehend intakt. Satellitenaufnahmen bestätigen diese Angaben und zeigen, dass bis Anfang November möglicherweise mehr als 1.130 Gebäude - die meisten davon Wohnhäuser - bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurden.
Bei einem Treffen in der vergangenen Woche fragten Vertreter von Human Rights Watch die Kommandanten der Anti-Balaka in Bohong, ob sie bereit seien, den übrig gebliebenen Muslimen zu erlauben, in der Stadt zu bleiben. Die Befehlshaber antworteten: „Wir haben all unsere Häuser wegen der Séléka verloren. Sie haben Leichen in all unsere Brunnen geworfen. Aber die Muslime leben immer noch in ihren Wohnungen, weil sie auf der Seite der Séléka stehen. Und jetzt fragen Sie uns, ob wir ihre Anwesenheit tolerieren?“ Der Kommandant forderte sofortige humanitäre Unterstützung, damit die nicht-muslimischen Anwohner ihre Häuser und Lebensgrundlagen wiederaufbauen können.
Die Situation in Boda ist ähnlich. Dort wurden 892 nicht-muslimische Häuser bei Gewaltausbrüchen zwischen den Volksgruppen Anfang Februar abgebrannt. Auch die dortigen Anti-Balaka-Befehlshaber sagten, dass sie nicht akzeptieren könnten, dass Muslime weiterhin in ihren intakten Unterkünften leben, während die nicht-muslimische Bevölkerung unter freiem Himmel übernachten muss, weil die Séléka ihre Häuser zerstört hat.
„Die Menschen in der Zentralafrikanischen Republik benötigen dringend humanitäre Unterstützung, und wenn sie keine erhalten, wird das neue Konflikte anheizen“, so Bouckaert. „Geber sollen Wiederaufbauhilfe für diejenigen zur Verfügung stellen, die ihre Häuser verloren haben. Das könnte die Spannungen zwischen den Volksgruppen mildern, die die Gewalt anheizen.“