(New York, 17. Dezember 2010) – Die internationalen Geber Äthiopiens sollen eine unabhängige Untersuchung zu den Vorwürfen durchführen, die äthiopische Regierung missbrauche Entwicklungshilfegelder zur Unterdrückung der Opposition, so Human Rights Watch in einem Brief an die Development Assistance Group, eine Koordinierungsstelle von 26 ausländischen Institutionen, die in Äthiopien Entwicklungshilfe leisten.
In einem im Oktober 2010 veröffentlichten Bericht, für den mehr als 200 Personen in ganz Äthiopien befragt wurden, dokumentierte Human Rights Watch, wie Regierungsbeamte routinemäßig mutmaßliche Anhänger der Opposition diskriminieren. Der Bericht zeigt, wie die Regierung staatliche Mittel, darunter auch Programme, die von wichtigen internationalen Gebern finanziert werden, zur Unterdrückung abweichender politischer Meinungen missbraucht, indem sie den Zugang zu grundlegenden Leistungen von der Unterstützung der Regierungspartei abhängig macht.
„Die Regierungen der Geberländer sollen eine unabhängige Untersuchung des Missbrauchs von Hilfsgeldern durch die äthiopische Regierung durchführen“, Rona Peligal, Leiterin der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Geberländer tragen nicht nur gegenüber den Steuerzahlern im eigenen Land, sondern auch gegenüber den hilfsbedürftigen Menschen in Äthiopien die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Hilfe nicht zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt.“
Die Development Assistance Group (DAG) nahm am 21. Oktober in einer gemeinsamen Erklärung Stellung zu dem 105-seitigen Human Rights Watch Bericht „Development without Freedom: How Aid Underwrites Repression in Ethiopia“. In der Erklärung bestreiten die Mitglieder der Gruppe, dass die politische Einflussnahme auf Entwicklungshilfeprojekte ein weit verbreitetes Problem ist, und erklärt: „Wir stimmen den Schlussfolgerungen des jüngsten Human Rights Watch-Berichts hinsichtlich weit verbreitetem, systematischen Missbrauch von Entwicklungshilfe in Äthiopien nicht zu. Unsere Studie brachte keine Anzeichen für systematische oder weit verbreitete Missstände hervor.“
Nach Ansicht von Human Rights Watch basiert die Ablehnung der Ergebnisse des Berichts durch die Development Assistance Group auf einer unzureichenden Informationsgrundlage. Die Geber haben bislang keine unabhängige Untersuchung der Verstöße eingeleitet. Bei der Studie, die die DAG in ihrer Erklärung zitiert, handelt es sich um eine Anfang 2010 in Auftrag gegebene, auf der Grundlage existierender Berichte verfasste Bewertung der Monitoring-Mechanismen von vier Hilfsprogrammen. Die Studie wird von ihren Autoren als „informierende“ Einschätzung bezeichnet und räumt ein, dass konkrete Recherchen im Feld nötig wären, um die Wirksamkeit des Monitorings in der Praxis zu beurteilen.
„Die Geber können das Ausmaß des Missbrauchs nicht kennen, solange sie dies nicht ordentlich untersucht haben“, so Peligal. „Die Parlamente der Geberländer sollen eine glaubwürdige und umfassende Untersuchung fordern und letztlich auch ihre Entwicklungspolitik gegenüber Äthiopien auf den Prüfstand stellen.“
Human Rights Watch lehnte es zwar ab, sämtliche Entwicklungshilfeprojekte abzubrechen, rief die Geber jedoch auf, gewisse Programme solange zu stoppen, bis grundlegende Voraussetzungen – etwa die Rücknahme repressiver Gesetze – erfüllt werden. Zu diesen Programmen gehört das Democratic Institutions Program, das Regierungseinrichtungen wie das Parlament finanziell und fachlich unterstützt, um die Verantwortlichkeit in innerstaatlichen Strukturen zu stärken. Die Geber sollen solche Programme nicht weiter unterstützen, solange es weder eine unabhängige Zivilgesellschaft noch unabhängige Institutionen und Medien gibt und damit die Grundlage fehlt, um staatliche Einrichtungen für ihr handeln verantwortlich zu machen.
„Die Entwicklungshilfe für Äthiopien wurde aufgestockt, während sich die Menschenrechtslage im Land verschlechtert hat“, so Peligal. „Indem die Geberländer mehr Geld zur Verfügung stellen ohne angemessene Kontrollmechanismen aufzubauen, widersprechen sie ihren eigenen Menschenrechtsprinzipien und den Grundsätzen verantwortlicher Regierungsführung.“
Hintergrund
Seit den umstrittenen und von Gewalt begleiteten Wahlen im Jahr 2005 nimmt der Respekt der äthiopischen Regierung für die Menschenrechte kontinuierlich und in besorgniserregender Weise ab. Bei den blutigen Unruhen nach den Wahlen waren mindestens 200 Demonstranten getötet und über 30.000 Menschen verhaftet worden. Seither hat die äthiopische Regierung politische Freiheiten immer weiter eingeschränkt, Oppositionsführer inhaftiert, unabhängige Journalisten und Bürgerrechtler schikaniert und zum Schweigen oder zur Ausreise bewegt und regelmäßig die Versammlungs- und Redefreiheit verletzt.
Ein im Jahr 2009 verabschiedetes Gesetz über die Aktivitäten der Zivilgesellschaft verbietet Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 10 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, sich mit Themen aus den Bereichen Menschenrechte, gute Regierungsführung und Konfliktlösung zu befassen. Das Gesetz zwang praktisch alle unabhängigen Menschenrechtsorganisationen, den Umfang ihrer Aktivitäten wesentlich einzuschränken, ihr Mandat zu ändern oder ihre Arbeit völlig einzustellen. Viele der bekanntesten äthiopischen Menschenrechtler sind geflohen.
Bei den Wahlen im Mai, die laut europäischer Beobachter internationale Standards nicht erfüllten, gewann die Regierungspartei über 99,6 Prozent der Parlamentssitze. Am 8. November wurde einer Gruppe von EU-Wahlbeobachtern die Einreise nach Äthiopien verweigert, wo die Delegation ihren Abschlussbericht vorstellen wollte. In dem Bericht kritisieren die Wahlbeobachter, die Regierungspartei habe während des Wahlkampfs staatliche Mittel zweckentfremdet.
Gleichzeitig mit der Verschlechterung der Menschenrechtslage ist eine Aufstockung der Entwicklungshilfe durch die ausländischen Geber zu beobachten. Von 2004 bis 2008 verdoppelte sich die internationale Entwicklungshilfe für Äthiopien auf 3,3 Milliarden US-Dollar und machte das Land zu einem der wichtigsten Empfänger internationaler Hilfe in Afrika.