(New York, 26. Juli 2010) - Für Menschen mit geistigen Behinderungen, einschließlich US-Bürgern, besteht ein erhöhtes Risiko, irrtümlich von der amerikanischen Einwanderungs- und Zollbehörde United States Immigration and Customs Enforcement (ICE) abgeschoben zu werden, weil die Gerichte Personen, die sich nicht selbst vertreten können, kein rechtliches Gehör garantieren, so Human Rights Watch und die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) in einem heute gemeinsam veröffentlichten Bericht. Die beiden Organisationen forderten den amerikanischen Kongress auf, Rechtsvorschriften zu verabschieden, wonach alle Menschen mit geistigen Behinderungen vor US-amerikanischen Einwanderungsgerichten von einem Anwalt vertreten werden sollen.
Dem 98-seitigen Bericht „Deportation by Default: Mental Disability, Unfair Hearings, and Indefinite Detention in the US Immigration System" zufolge befinden sich geistig behinderte Migranten oft jahrelang ungerechtfertigt in Haft, manchmal ohne gesetzliche Fristen. Der Bericht dokumentiert Fälle, in denen Menschen mit geistigen Behinderungen daran gehindert wurden, gegen ihre Abschiebung zu klagen oder ihren Anspruch auf US-Staatsbürgerschaft geltend zu machen, weil sie sich nicht selbst vertreten konnten. Einige der befragten Personen kannten ihren eigenen Namen nicht, hatten wahnhafte Störungen, konnten die Uhr nicht lesen oder wussten nicht, dass Abschiebung eine Ausweisung aus den Vereinigten Staaten bedeutet.
„Nur wenige Bereiche des US-amerikanischen Rechts sind so komplex wie das Abschieberecht. Dennoch müssen jeden Tag Menschen mit geistigen Behinderungen ohne Anwalt und ohne Garantien für einen fairen Prozess vor Gericht", so Sarah Mehta, Aryeh-Neier-Stipendiatin bei Human Rights Watch und ACLU. „Manche sind so schwer behindert, dass sie nicht wissen, wie sie heißen oder was ein Richter ist."
Mindestens 57.000 inhaftierte Migranten, die 2008 von einer Abschiebung bedroht waren, sprich 15 Prozent aller Betroffenen, waren Menschen mit geistigen Behinderungen. Nach dem aktuellen Einwanderungsgesetz und in der Praxis haben inhaftierte Migranten kein Recht auf einen Pflichtverteidiger oder andere Verfahrensgarantien, wie etwa einer Beurteilung ihrer Fähigkeit, sich im Rahmen ihrer Anhörung zur Abschiebung selbst rechtliches Gehör verschaffen zu können, so Human Rights Watch und ACLU. Manche werden zwar kostenlos durch Rechtsberatungsorganisationen vertreten oder können mit Hilfe des „Family Assistance"-Programms einen Anwalt bezahlen, doch die Mehrheit der Betroffenen wird nie einen Anwalt finden oder bezahlen können und riskiert dadurch längerfristige und möglicherweise unbegrenzte Haft.
So ist etwa ein Migrant mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, der seit 40 Jahren in den USA lebt, von einer Abschiebung nach Mexiko bedroht. Er kann sich weder an sein Geburtsdatum erinnern, noch daran, warum er Medikamente einnehmen muss. Er befand sich in Texas in Haft als er interviewt wurde, und sagte dem Autor des Berichts, dass er die Hilfe eines Anwalts braucht: „Der Richter gewährt mir nur einen Aufschub, um zu sehen, ob ich einen Anwalt finde... Es ist schwer, weil mit meinem Kopf etwas nicht stimmt und ich nicht genau weiß, was ich ihm sagen soll."
Auf die Frage nach seiner geistigen Behinderung erzählte er, dass er mehrmals in den Kopf geschossen worden sei und die Kugeln immer noch da seien: „Ich glaube, ich bin gestorben, denn ich kann mich daran erinnern, dass ich Kinder mit Flügeln gesehen habe."
Der Bericht von Human Rights Watch und ACLU dokumentiert 58 Fälle von Menschen mit geistigen Behinderungen, die in Arizona, Texas, Kalifornien, Florida, Illinois, Wisconsin, South Carolina, Pennsylvania und Virginia inhaftiert und von Abschiebung bedroht sind. Die meisten haben eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die USA und sind aufgrund von gewaltlosen Straftaten wie unerlaubtem Betreten eines Grundstücks oder Drogenbesitz von Abschiebung bedroht. Viele befanden sich vor ihrer Festnahme durch die ICE in psychologischer Behandlung. Der Bericht macht deutlich, dass inbesondere geistig behinderte Migranten und selbst US-Bürger pauschalen Festnahmen ausgesetzt sind.
Der Bericht zeigt außerdem, dass Menschen mit geistigen Behinderungen nicht nur mit einer Festnahme oder Abschiebung ohne Verfahrensgarantien rechnen müssen, sondern routinemäßig von der ICE während ihrer mündlichen Verhandlung festgenommen werden. Die Haft wird oft unnötig verlängert, wenn geistig behinderte Migranten nicht für sich selbst sprechen können und selbst Justizbeamte einsehen müssen, dass die Verhandlung nicht fortgeführt werden kann oder soll. Zum Teil befanden sich Menschen bis zu zehn Jahre in Haft, ohne dass in ihrem Fall eine Entscheidung fiel.
„Da niemand weiß, wie man mit Inhaftierten mit geistigen Behinderungen verfahren soll, haben sich alle, die am Einwanderungsverfahren beteiligt sind, der Verantwortung entzogen", so Mehta. „Mit dem Ergebnis, dass Menschen jahrelang in Haft schmoren, während ihre Akten - und ihr Leben - ständig weitergereicht oder auf unbestimmte Zeit zurückgestellt werden."
Human Rights Watch und ACLU erinnerten an den 20. Jahrestag des „Americans with Disabilities Act" (Gesetz gegen die Diskriminierung von Behinderten) am 26. Juli 2010 sowie an die Unterzeichnung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch Präsident Barack Obama vor einem Jahr. Das Justizministerium der Vereinigten Staaten und das Executive Office of Immigration Review sollen diese Verpflichtungen honorieren und Verfahren entwickeln, die garantieren, dass Menschen mit geistiger Behinderung identifiziert und bei ihren Verhandlungen unterstützt werden, so Human Rights Watch und ACLU. Auch die ICE soll ihre Richtlinien überprüfen, damit die Inhaftierung von Migranten mit geistigen Behinderungen nicht willkürlich oder auf unbestimmte Zeit erfolgt.