(Kabul, 13. Juli 2010) – Die fortwährenden Angriffe auf Frauen durch die Taliban zeigen, dass den Frauenrechten bei politischen Abkommen mit Aufständischen höchste Priorität eingeräumt werden muss, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die afghanische Regierung und ihre internationalen Partner haben bisher nicht anerkannt, dass der Schutz von Frauen in Wiedereingliederungsprogrammen für aufständische Kämpfer notwendig ist. Zudem haben sie nicht dafür gesorgt, dass bei politischen Gesprächen mit den Taliban auch Frauenrechte thematisiert werden.
Der 65-seitige Bericht „The ‘Ten-Dollar Talib’ and Women’s Rights: Afghan Women and the Risks of Reintegration and Reconciliation“ untersucht, wie künftige Abkommen der Regierung mit aufständischen Kräften die Frauenrechte gefährden könnten. Der Bericht dokumentiert, wie in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden, Frauen häufig bedroht, eingeschüchtert und angegriffen, Mädchenschulen ins Visier genommen sowie Politikerinnen und Aktivistinnen straflos angegriffen und getötet werden.
„Die afghanischen Frauen sollen nicht ihre Rechte aufgeben müssen, damit die Regierung ein Abkommen mit den Taliban schließen kann“, so Tom Malinowski, Leiter des Human Rights Watch-Büros in Washington. „Es wäre ein tragischer Verrat, wenn die in den vergangenen neun Jahren von und für Frauen und Mädchen erzielten Fortschritte auf einmal rückgängig gemacht würden.“
Die Taliban haben in Gebieten, die unter ihrem Einfluss oder ihrer Kontrolle stehen, prominente Frauen sowie Frauen, die außer Haus arbeiten, bedroht und attackiert. Die Drohungen erfolgen häufig in Form eines sogenannten „Nachtbriefs“, einem Zettel, der nachts an einem Haus oder einer Schule angebracht wird.
Eine Angestellte der Regierungsbehörden gab ihre Stelle auf, nachdem sie im Februar 2010 die folgende Mitteilung erhalten hatte: „Wir, die Taliban, warnen dich davor, weiter für die Regierung zu arbeiten, andernfalls werden wir dein Leben nehmen. Wir werden dich auf eine so brutale Art töten, wie noch nie eine Frau getötet wurde. Dies wird Frauen wie dir, die arbeiten gehen, eine ordentliche Lektion erteilen.“
Die 22-jährige Hossai, die für eine amerikanische Firma arbeitete, wurde in ähnlicher Weise am Telefon bedroht; sie kündigte ihren Arbeitsplatz jedoch nicht. Im April wurde sie beim Verlassen ihres Büros von Unbekannten erschossen. Wenig später erhielt eine andere Frau einen „Nachtbrief“, der ankündigte, sie werde die nächste sein: „Dein Name steht auf unserer Liste, genau wie der von Hossai, die wir gestern umgebracht haben.“
Die Taliban und andere Aufständische nehmen regelmäßig Bildungseinrichtungen für Mädchen ins Visier. Sie bedrohen und attackieren Lehrerinnen und Schülerinnen. Im Februar wurde an einer Mädchenschule in einer nördlichen Provinz nachts der folgende Brief hinterlassen:
„Wir haben Sie bereits aufgefordert, die Schule zu schließen und unter dieser nicht-muslimischen Regierung reine und unschuldige Mädchen nicht auf Abwege zu leiten, doch Sie haben sich nicht darum gekümmert... Dies ist die letzte Warnung: Schließen Sie die Schule unverzüglich. Denken Sie daran, dass Sie und Ihre Familien ausgelöscht werden, wenn Sie in der Provinz bleiben.“
Es gibt bislang kaum Anzeichen dafür, dass die Regierung von Präsident Hamid Karzai die durch die Angriffe aufgeworfenen Bedenken ernst nimmt. Weder die Wiedereingliederungsprogramme für Aufständische noch die Vorschläge, eine Aussöhnung mit den wichtigsten Anführern der Taliban zu suchen, anstatt sie zu bekämpfen, berücksichtigen den Schutz von Frauenrechten.
Die afghanische Regierung hat nur zurückhaltend zugesichert, sie wolle die seit dem Sturz der Taliban-Regierung im Jahr 2001 errungenen Freiheiten für Frauen schützen. In den vergangenen Jahren hat sich Präsident Karzai beim Thema Frauenrechte nachgiebig gezeigt, wenn dies politisch vorteilhaft war. So unterschrieb er im März 2009 das diskriminierende „Gesetz zum persönlichen Status von Schiiten“, das schiitischen Frauen unter anderem das Sorgerecht für ihre Kinder und das Recht auf Freizügigkeit abspricht, und begnadigte im Jahr 2008 zwei verurteilte Vergewaltiger aus politischen Gründen.
Einige internationale Befürworter der Wiedereingliederung der Taliban betrachten die Aufständischen als vorwiegend nicht-ideologische Bewegung und verweisen auf sogenannte „Zehn-Dollar-Talibs“, die ausschließlich für Geld kämpfen. Die USA, die NATO und einige weitere wichtige Geber unterstützen die Wiedereingliederungsprogramme nachdrücklich und finanzieren sie zum größten Teil. Ihre Unterstützung für eine Aussöhnung mit den Taliban ist deutlich zurückhaltender.
Obwohl die internationalen Geber versprechen, sich für die Frauenrechte stark zu machen, ist Human Rights Watch besorgt, dass auch sie die Frauenrechte im Rahmen einer Ausstiegsstrategie opfern könnten. So hat die afghanische Regierung zwar erklärt, dass versöhnungs- und wiedereingliederungswillige Aufständische sich zur afghanischen Verfassung, die Frauen gleiche Rechte garantiert, bekennen müssen – es gibt jedoch keine entsprechenden Kontrollmechanismen, die überprüfen, ob sie sich tatsächlich an die Verfassung halten.
Die von Human Rights Watch durchgeführten Befragungen ergaben, dass afghanische und internationale Akteure sich nicht einig darüber sind, ob es möglich ist, besondere Schutzmechanismen für Frauen zu schaffen, die ihnen das Recht auf Arbeit, Bildung und politische Teilhabe garantieren.
„Die Regierungen der Geberländer weisen zwar mit Recht darauf hin, dass diese Prozesse unter afghanischer Führung stattfinden müssen“, so Malinowski. „Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie Abkommen gutheißen müssen, die Frauen in Gefahr bringen.“
Die afghanische Regierung hat sich darum bemüht, oppositionelle Splittergruppen für sich zu gewinnen, indem sie ihnen Straflosigkeit für Kriegsverbrechen und andere schwere Völkerrechtsverletzungen angeboten hat. Es sollte jedoch zentraler Bestandteil aller Bemühungen zur Aussöhnung mit den Taliban und anderen Aufständischen sein, dass schwere Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich geahndet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu müssen amtierende Regierungsbeamte, die für Verbrechen verantwortlich sind, angeklagt und die Kandidaten für politische Ämter strenger überprüft werden.
Der Bericht nennt Bedingungen, die alle Wiedereingliederungs-, Verhandlungs- und Versöhnungsbemühungen erfüllen sollen, um den Schutz der Frauenrechte zu gewährleisten. Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung und das Recht auf politische Teilhabe sollen explizit geschützt werden. Personen, die in der Vergangenheit Verbrechen gegen Frauen und Mädchen verübt haben, sollen keine einflussreichen Ämter erhalten. Weibliche Führungspersönlichkeiten sollen vollständig in die Entscheidungsfindung im Wiedereingliederungs- und Versöhnungsprozess eingebunden werden, da sie sich selbst am wirksamsten für den Schutz ihrer Rechte einsetzen können.
„Die afghanischen Frauen bezahlen in diesem Konflikt einen hohen Preis, obwohl sich niemand mehr nach Frieden sehnt als sie“, so Malinowski. „Ihre Rechte dürfen nicht in überstürzten Tauschgeschäften verscherbelt werden. Ein Friede kann auch unter Wahrung von Gerechtigkeit erreicht werden.“