(Brüssel) - Beim Treffen der EU-Außenminister am 15. Mai in Brüssel soll sich ein EU-Mitgliedstaat bereit erklären, den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor aufzunehmen, falls er vom Sondergericht für Sierra Leone verurteilt wird, fordert Human Rights Watch.
Verpflichtet sich kein Staat dazu, sollen sich alle Staaten der Europäische Union gemeinsam damit einverstanden erklären, dass ein Mitgliedstaat Taylor im Falle einer Verurteilung aufnehmen wird. Falls sich bis Montag kein Land zur Aufnahme bereit erklärt, sollen die Niederlande eine kollektive EU-Erklärung als ausreichend werten, um weitere Schritte für die Übertragung des Gerichtsverfahrens gegen Taylor nach Den Haag einzuleiten.
„Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben bei der Auslieferung Taylors eine entscheidende Rolle gespielt“, sagt Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch. „Jetzt wird Westafrika jedoch alleine gelassen. Falls die Übertragung des Verfahrens gegen Taylor verzögert wird, birgt dies Risiken für Westafrika.“
Taylor wurde am 29. März an das Sondergericht überstellt. Dort wurde er angeklagt, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Am folgenden Tag bat das Sondergericht, Taylors Gerichtsverfahren nach Den Haag zu verlegen. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Stabilität Westafrikas geltend gemacht, sollte das Verfahren in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, stattfinden. In den Niederlanden erklärte man sich bereit, das Verfahren zu übernehmen. Als Bedingung galt jedoch, dass Taylor das Land nach der Urteilssprechung wieder verlässt. Somit muss sich ein Drittstaat dazu bereit erklären, Taylor im Falle einer Verurteilung aufzunehmen.
„Das Sondergericht bat darum, das Gerichtsverfahren gegen Taylor nach Den Haag zu verlegen, weil seine Anwesenheit in der Region Sicherheitsbedenken auslöst“, so Lotte Leicht. „Auch die neue Präsidentin von Liberia hat derartige Bedenken geäußert. Diese Angelegenheit muss schnell gelöst werden.“
Human Rights Watch ist davon überzeugt, dass einige EU-Mitgliedsstaaten durchaus in der Lage wären, Taylor im Falle einer Verurteilung aufzunehmen. Österreich, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Schweden und Großbritannien haben mit mindestens einem der beiden internationalen Kriegsverbrechertribunale für Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien ein Abkommen geschlossen. Darin verpflichten sie sich, dafür zu sorgen, dass verurteilte Personen ihre Strafe ableisten können. Österreich und Schweden kommen dafür am ehesten in Frage, da sie ähnliche Vereinbarungen mit dem Sondergericht geschlossen haben, auch wenn diese nicht ratifiziert worden sind.
Österreich, Dänemark und Schweden haben sich jedoch aus verschiedenen Gründen gegen die Aufnahme Taylors ausgesprochen. Dazu zählen mangelnde parlamentarische Unterstützung, unzureichende Ressourcen und die Tatsache, dass sie ihr Engagement für internationale Gerechtigkeit bereits anderweitig unter Beweis gestellt haben. Falls sich bis Montag kein Staat zur Aufnahme bereit erklärt, sollte man in den Niederlanden eine gemeinsame Verpflichtung der EU-Staaten akzeptieren, für Taylor im Falle einer Verurteilung eine geeignete Haftanstalt zur Verfügung zu stellen. Auch sollte dadurch das Gerichtsverfahren unmittelbar nach Den Haag verlagert werden.
„Wir verstehen, dass einige Regierungen zuerst auf nationaler Ebene einige Fragen klären müssen, bevor sie die Aufnahme Taylors garantieren können“, sagt Lotte Leicht. „Jetzt ist jedoch eine politische Verpflichtung erforderlich. Im Idealfall sollte sie von einem Land kommen. Ist dies jedoch nicht möglich, wäre auch eine Verpflichtung der EU als Gemeinschaftsverbund akzeptabel.“
Falls dies nötig ist, sollen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die damit verbundene finanzielle Belastung gemeinsam tragen, so Human Rights Watch.
Weitere Informationen über die Übertragung des Gerichtsverfahrens
Bei einer Übertragung von Taylors Gerichtsverfahren nach Den Haag würden die Richter und sonstigen Mitarbeiter des Sondergerichts das Verfahren gemäß dem Statut und den Regeln des Gerichts ausführen. Der Internationalen Strafgerichtshofs würde seine Einrichtungen zur Verfügung stellen.
Sollte das Verfahren gegen Taylor nicht in Sierra Leone stattfinden, wäre dies für das Sondergericht und seine Förderer eine große Herausforderung. Der größte Nachteil bestünde darin, dass ein Gerichtsverfahren in Den Haag für Westafrikaner schwer zugänglich sein könnte. Doch Sicherheitsbedenken können eine Verlagerung erforderlich machen.
Sollte Taylors Verfahren tatsächlich verlagert werden, wird Human Rights Watch ein Hintergrundpapier für das Sondergericht und seine Förderer verfassen. Darin soll darauf hingewiesen werden, wie wichtig es ist, dass die Menschen von Westafrika weiterhin Zugang zu dem in Den Haag abgehaltenen Gerichtsverfahren haben. Dieses Hintergrundpapier wird spezifische Empfehlungen enthalten, wie dieses Ziel erreicht werden kann.
Hintergrundinformationen
Das Sondergericht für Sierra Leone wurde 2002 eingerichtet, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für den bewaffneten Konflikt in Sierra Leone für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit „die größte Verantwortung tragen“. Zu den Verbrechen zählen Tötungen, Verstümmelungen, Vergewaltigung und andere Arten sexueller Gewalt, sexuelle Sklaverei, die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Entführung sowie der Einsatz von Zwangsarbeitern durch bewaffnete Gruppen.
Vor dem Sondergericht wurde Taylor angeklagt, während des bewaffneten Konflikts in Sierra Leone Kriegsverbrechen (Mord, Plünderung, schwere Verletzungen der menschlichen Würde, grausame Behandlung, Terrorisieren der Zivilbevölkerung), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Verstümmelung, Vergewaltigung, Versklavung, sexuelle Sklaverei) und andere schwere Verletzungen des internationalen humanitären Völkerrechts (Einsatz von Kindersoldaten) begangen zu haben. In der Anklageschrift wird Taylor vorgeworfen, als Präsident von Liberia für die Ausbildung und Finanzierung der wichtigsten Rebellengruppe Sierra Leones, der Vereinigten Revolutionären Front, verantwortlich gewesen zu sein.