(Beirut) - Die Mitgliedsländer des UN-Menschenrechtsrates sollen für die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Lage im Iran stimmen. Dies wäre ein erster Schritt, um gegen die Straflosigkeit bei der tödlichen Niederschlagung der weit verbreiteten Proteste in dem Land vorzugehen, erklärte Human Rights Watch heute. Am 24. November 2022 wird der Rat für eine Sondersitzung zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen im Iran zusammenkommen.
Die Proteste im Iran begannen am 16. September 2022, nachdem Mahsa (Jina) Amini, eine 22-jährige kurdisch-iranische Frau, in Gewahrsam der sog. „Sittenpolizei“ gestorben war. Bis zum 22. November untersuchten Menschenrechtsgruppen den Tod von 434 Menschen, darunter von 60 Kindern. Human Rights Watch hat dokumentiert, wie die iranischen Behörden in Dutzenden Fällen in verschiedenen Städten wie Sanandaj, Saghez, Mahabad, Rasht, Amol, Shiraz, Mashhad und Zahedan exzessiv und rechtswidrig mit tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vorgegangen sind.
„Die iranischen Behörden scheinen entschlossen zu sein, die Proteste mit brutaler Gewalt niederzuschlagen, und ignorieren Aufforderungen, die zahlreichen Beweise für schwere Rechtsverletzungen zu untersuchen“, sagte Tara Sepehri Far, Iran-Expertin bei Human Rights Watch. „Der UN-Menschenrechtsrat soll auf die wachsende Unterdrückung reagieren und einen unabhängigen Mechanismus schaffen, um die Übergriffe der iranischen Regierung zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“
Seit Mitte November haben die iranischen Behörden die Niederschlagung der Proteste in mehreren kurdischen Städten drastisch verschärft, wobei nach Angaben des Kurdischen Menschenrechtsnetzwerks mindestens 39 Menschen getötet wurden. Nach Angaben des Netzwerks wurden allein von 15. bis 18. November in kurdischen Städten mindestens 25 kurdisch-iranische Personen getötet, während sie an dreitägigen Protesten und Streiks zum Gedenken an die Opfer der blutigen Niederschlagung der Proteste durch die Regierung im November 2019 teilnahmen.
Die Behörden haben die Familien der jüngsten Opfer unter Druck gesetzt, ihre Angehörigen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu beerdigen. Mehrere Beerdigungen wurden jedoch zum Schauplatz neuer Proteste. Nach Angaben des Kurdischen Menschenrechtsnetzwerks wurden zwischen dem 19. und 21. November 2022 in Javanrood, Piranshahr, Sanandaj, Dehgan und Bookan mindestens 14 Menschen getötet. Laut Radio Zamaneh sind unter den Opfern auch der 16-jährige Ghader Shakri, der am 19. November in Piranshahr getötet wurde, und der 16-jährige Bahaedin Veisi, der am 20. November in Dschavanrood getötet wurde.
Eine 32-jährige Einwohnerin von Sanandaj berichtete Human Rights Watch, dass die Sicherheitskräfte am 17. November Shaho Bahmani und Aram Rahimi erschossen, ihre Leichen gewaltsam aus dem Kowsar-Krankenhaus in Sanandaj entfernt und die Familien der beiden Männer vor dem Krankenhaus bedroht hätten.
Jalal Mahmoudzadeh, ein Parlamentsabgeordneter aus Mahabad, erklärte am 21. November gegenüber Shargh Daily, dass die Sicherheitskräfte zwischen dem 27. und 29. Oktober sieben Demonstrierende in der Stadt Mahabad getötet hätten. Mahmoudzadeh sagte, die Sicherheitskräfte hätten auch Wohnhäuser beschädigt; eine Frau sei in ihrem Haus außerhalb der Proteste getötet worden. Seitdem sei ein weiterer Mann getötet worden, und drei weitere seien bei seiner Beerdigung erschossen worden, womit sich die Gesamtzahl der Toten in Mahabad seit dem 27. Oktober auf 11 erhöht habe.
In den sozialen Medien kursieren Videos, die zeigen, dass die Behörden Spezialkräfte und Einheiten der Islamischen Revolutionsgarde eingesetzt haben, die mit militärischen Sturmgewehren, auf Fahrzeugen montierten schweren DSchK-Maschinengewehren und gepanzerten Fahrzeugen bewaffnet und ausgerüstet sind.
Am 24. Oktober teilte Justizsprecher Masoud Setayeshi den Medien mit, dass die Behörden damit begonnen haben, Tausende Demonstrierende vor Gericht zu stellen. Diese Prozesse, die häufig über die staatlichen Medien publik gemacht werden, entsprechen in keiner Weise den internationalen Menschenrechtsstandards, da die Gerichte regelmäßig erzwungene Geständnisse verwenden und die Angeklagten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl haben. Bis zum 21. November haben die Gerichte mindestens sechs Demonstrierende wegen Gefährdung der moralischen und politischen Ordnung und Gotteslästerung zum Tode verurteilt. Zu den Taten, die die Justizbehörden den Angeklagten vorwerfen, gehören die „Niederbrennung eines Regierungsgebäudes“ oder die „Verwendung einer ‚kalten Waffe‘“, um „Terror in der Öffentlichkeit zu verbreiten“. Laut Amnesty International werden mindestens 21 Personen Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten vorgeworfen, auf welche die Todesstrafe stehen kann.
Seit Beginn der Proteste im September haben die Behörden Tausende Menschen während der Proteste sowie Hunderte Studierende, Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Anwält*innen außerhalb der Proteste verhaftet. Die Gefangenen werden in überfüllten Lagern gehalten und sind Folter und anderen Misshandlungen, einschließlich sexueller Belästigung, ausgesetzt, so Human Rights Watch.
Zwei Frauen, die während der ersten Woche der Proteste in Sanandaj verhaftet wurden, berichteten Human Rights Watch, dass sie bei ihrer Festnahme und auf der Polizeiwache von den Behörden brutal geschlagen, sexuell belästigt und bedroht wurden. Eine der beiden Frauen sagte, sie habe mehrere schwere Verletzungen erlitten, darunter innere Blutungen und Knochenbrüche.
In den letzten vier Jahren gab es im Iran mehrere Wellen von Massenprotesten. Die Behörden haben darauf stets mit übermäßiger und rechtswidriger, tödlicher Gewalt und der willkürlichen Verhaftung Tausender Demonstrierender reagiert. Bei einer der brutalsten Niederschlagungen im November 2019 gingen die Sicherheitskräfte mit rechtswidriger Gewalt gegen massive Proteste im ganzen Land vor und töteten mindestens 321 Menschen. Die iranischen Behörden haben es versäumt, glaubwürdige und transparente Ermittlungen zu den schweren Übergriffen der Sicherheitskräfte in den letzten Jahren durchzuführen.
Laut Human Rights Watch haben die iranischen Behörden während der weit verbreiteten Proteste auch das Internet teilweise oder ganz abgeschaltet, um den Zugang zu Informationen einzuschränken und deren Verbreitung, insbesondere die von Videos der Proteste, zu verhindern. Seit dem 21. September 2022 haben sie auf Anordnung des iranischen Nationalen Sicherheitsrates mehrere soziale Medienplattformen blockiert, darunter die Messenger-Dienste WhatsApp und Instagram.
„Am 24. November sollen die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrates über die Einrichtung eines unabhängigen Mechanismus abstimmen, um schwere Menschenrechtsverletzungen im Iran zu dokumentieren und einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Rechenschaftspflicht zu machen“, sagte Sepehri Far.