(Washington) - Ecuadors Gesetze zur Kriminalisierung von Abtreibungen verletzen die Rechte und gefährden das Leben und die Gesundheit von Frauen und Mädchen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 128-seitige Bericht, „‘Why Do They Want to Make Me Suffer Again?‘ The Impact of Abortion Prosecutions in Ecuador“ dokumentiert die weitreichenden negativen Folgen, die diese Gesetze in Ecuador haben. Sie kosten Menschenleben durch eine erhöhte Müttersterblichkeit und -morbidität, schneiden Frauen und Mädchen von lebenswichtigen medizinischen Leistungen ab und untergraben breitere Bemühungen zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Frauen und Mädchen, die wegen eines Schwangerschaftsabbruchs angeklagt werden, erleben häufig Verletzungen ihrer Rechte auf ärztliche Schweigepflicht und ein ordentliches Verfahren. Sie stehen häufig vor erheblichen Hürden beim Zugang zu einem guten Rechtsbeistand. Die strafrechtliche Verfolgung betrifft nicht nur Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft beenden wollen, sondern auch solche, die Fehlgeburten oder akute Komplikationen in der Schwangerschaft erleiden oder die eine dringende Versorgung nach einem Abbruch benötigen.
„Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen untergräbt nicht nur die Möglichkeit von Frauen und Mädchen, Zugang zu wichtigen reproduktiven Gesundheitsdiensten zu erhalten, sie verschärft auch Ungleichheiten und Diskriminierung“, sagte Ximena Casas, Frauenrechtsforscherin bei Human Rights Watch. „Ecuador sollte alle strafrechtlichen Sanktionen für einvernehmliche Abtreibungen abschaffen. Zumindest sollte die Regierung einen effektiven Zugang zu Abtreibungen aus jeglichen legalen Gründen gewährleisten und aufhören, Frauen und Mädchen strafrechtlich zu verfolgen, die sich um eine wichtige medizinische Versorgung bemühen.“
Eine einvernehmliche Abtreibung gilt in Ecuador als Straftat. Frauen, die in eine Abtreibung einwilligen, drohen dafür bis zu zwei Jahre Haft. Dem Gesundheitsdienstleister, der den Eingriff vornimmt, drohen ein bis drei Jahre Haft. Ausnahmen gelten nur für Fälle, in denen das Leben und die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist oder in denen die Betroffene vergewaltigt wurde.
Am 28. April 2021 sprach das Verfassungsgericht in Ecuador ein Urteil, das den Abbruch einer Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung entkriminalisiert. Ein früheres Gesetz erlaubte solche Schwangerschaftsabbrüche nur, wenn die betroffene Person eine geistige Behinderung hatte. Das Gericht wies das Büro der Ombudsperson an, innerhalb von zwei Monaten einen Gesetzesentwurf vorzulegen und einzubringen, um dem Urteil zu entsprechen, und verlangte von der Nationalversammlung, über den Gesetzesentwurf innerhalb von sechs Monaten nach der Einbringung zu beraten. Das Gericht ließ die Tür für eine weitere Entkriminalisierung offen und kam zu dem Schluss, dass die Nationalversammlung verpflichtet ist, Gesetze so zu erlassen, dass das „Recht in Würde zu leben“ erfüllt wird. Die Nationalversammlung dürfe sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, alle verfassungsmäßigen Rechte zu schützen.
Am 28. Juni 2021 legte das Büro der Ombudsperson der Nationalversammlung einen neuen Gesetzesentwurf vor, der dem Urteil des Gerichts entsprach. Der Entwurf wurde nach einem nationalen Dialog mit feministischen Gruppen vorbereitet und erkennt das Recht auf Abtreibung in allen Fällen von Vergewaltigung in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards an.
Human Rights Watch überprüfte 148 Fälle, in denen Frauen oder Mädchen, Gesundheitsdienstleister oder Begleitpersonen angeklagt wurden, weil sie zwischen 2009 und 2019 einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten oder einen solchen Abbruch ermöglicht hatten. Einundachtzig Prozent der Fälle richteten sich gegen Frauen und Mädchen, überproportional viele davon in Provinzen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung indigener oder afrikanisch-stämmiger Herkunft ist. Die meisten der Betroffenen waren jung - 12 Prozent waren Mädchen - und sie lebten fast ausnahmslos in Armut.
In einem Fall ging eine 20-jährige Afro-Ecuadorianerin ins Krankenhaus, nachdem sie bei der Arbeit die Treppe heruntergefallen war. Im Krankenhaus erfuhr sie, dass sie schwanger gewesen war und eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sie wurde verhaftet und beschuldigt, eine Abtreibung vorgenommen zu haben. Sie verbrachte vier Monate in Untersuchungshaft mit ihrem 3-jährigen Sohn, bevor sie im Prozess freigesprochen wurde.
Human Rights Watch fand heraus, dass es in Ecuador viele Hindernisse für den Zugang zu legalen Abtreibungen und der Betreuung nach einem Schwangerschaftsabbruch gibt. Dazu gehören strafrechtliche Verfolgung, Stigmatisierung, Misshandlung durch medizinisches Fachpersonal. Ebenso eine enge Auslegung der Ausnahmeregelung, die eine Abtreibung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens einer Person erlaubt.
Angeklagte, die verurteilt werden, erhalten in der Regel eine Bewährungsstrafe, die häufig mit der Auflage verbunden ist, gemeinnützige Arbeit zu leisten oder eine Psychotherapie zu machen. Dies gilt insbesondere für Frauen unter 25 Jahren.
Zwei Frauen und ein Mädchen wurden wegen Mordes nach einem gynäkologischen Notfall in der Schwangerschaft angeklagt. Das 15-jährige Mädchen wurde auf dem Heimweg von der Schule vergewaltigt. Sie wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie allein im Badezimmer ihres Hauses entbunden hatte und das Baby starb. Sie verbrachte vier Jahre und drei Monate in einer Jugendstrafanstalt.
Frauen und Mädchen, die verdächtigt wurden, abgetrieben zu haben, sahen sich auch mit Verletzungen ihrer Rechte auf ärztliche Schweigepflicht und ein ordentliches Verfahren konfrontiert, sowie mit Problemen, einen guten Rechtsbeistand zu bekommen. In 73 Prozent der untersuchten Fälle wurden Ermittlungen eingeleitet, nachdem ein Gesundheitsdienstleister eine Patientin bei der Polizei angezeigt hatte, was eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht darstellt. In 99 der untersuchten Fälle verhörte die Polizei die Frauen im Krankenhaus, ohne dass ein Rechtsbeistand zugegen war. Dies verstößt gegen nationales Recht. Die Frauen wurden verhört, während sie einen medizinischen Notfall erlitten oder sich von einem solchen erholten.
Bei diesen Verhören bestand auch die Gefahr, dass die Gesundheit der Frauen zusätzlich gefährdet werden könnte aufgrund von Unterbrechungen der medizinischen Behandlung und der Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zu den jeweiligen Ärzt*innen. Das Vorgehen und die Entscheidungen der Justiz spiegelten häufig Geschlechterstereotypen und religiöse Bedenken wider. In mehreren Fällen wurden Frauen zu gemeinnütziger Arbeit in Waisenhäusern oder zu Therapien verurteilt, die sie zu guten Müttern machen sollten.
Ein Teil der Stigmatisierung und Diskriminierung resultiert aus der Verletzung des Rechts auf umfassende, klare, zugängliche und aktuelle Informationen zur reproduktiven Gesundheit und den Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. In vielen Fällen hatten die Frauen Misoprostol eingenommen, ein Medikament mit verschiedenen gynäkologischen Verwendungszwecken, unter anderem zur Einleitung eines Schwangerschaftsabbruchs, ohne dass sie darüber informiert waren oder wussten, was das Medikament ist oder wie es sich auf sie auswirken würde.
Viele der Angeklagten sagten, sie hätten es als Verhütungsmittel oder zur „Regulierung unregelmäßiger Menstruationsblutungen“ verwendet. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass es an Ecuadors Schulen keinen umfassenden Sexualkundeunterricht gibt. Ecuador hat in der Vergangenheit Fortschritte bei der Sexualerziehung nur schrittweise vorangetrieben und das auch nur, weil die Regierung bemüht war, die Zahl von Teenagerschwangerschaften zu reduzieren.
„Ecuadors Regierung muss den Zugang zu umfassenden sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen gewährleisten“, so Casas. „Die neu ernannten Gesetzgeber und Präsident Guillermo Lasso haben die Möglichkeit, eine grausame Politik zu beenden und sich Ländern auf der ganzen Welt anzuschließen, die ihre Gesetze reformieren, um den Zugang zu Abtreibungen zu erleichtern, in Übereinstimmung mit ihren Menschenrechtsverpflichtungen und dem jüngsten Urteil des Verfassungsgerichts.”